Wann sind die **** Jahre um?

„Aber wenn man genau berechnet ….“
Ich „lese nachts auf Arbeit“ gerade ein Buch über die Kirchengeschichte, und möchte hier ausnahmsweise mal eine etwas größere Abhandlung kopieren.

Im folgenden (ebd. 5,1f) weigert sich Paulus, einen Termin für die Wiederkunft anzugeben. Er mahnt zur Wachsamkeit mit dem auch von den Synoptikern bekannten Bild vom Dieb in der Nacht (Mt 24,43; Lk 12,39). Trotzdem ist schon bald versucht worden, den Tag und die Stunde zu berechnen. Eine besondere Meinung vertraten die Chiliasten152, d.h. Christen, die gestützt auf die Johannesapokalypse ein 1000jähriges Friedensreich vor dem eigentlichen Weltende erwarteten. Offb 20,2f heißt es:
„Christus überwältigte den Drachen, die alte Schlange – das ist der Teufel oder der Satan –, und er fesselte ihn für tausend Jahre. Er warf ihn in den Abgrund, verschloß diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muß er für kurze Zeit freigelassen werden.“

Die Exegese der Stelle bietet im einzelnen viele Schwierigkeiten; unklar ist vor allem, ob die 1000 Jahre auf einen tatsächlichen Zeitraum oder metaphorisch ausgelegt werden müssen. Unabhängig von der Auslegung steht fest, daß es sich bei den frühchristlichen Chiliasten/Millenaristen um keine Sektierer gehandelt hat; Theologen, die den Chiliasmus vertreten haben, finden sich quer durch alle Richtungen: Papias von Hierapolis (Anfang 2. Jh.), Justin, Meliton, Irenäus und Tertullian rechnen dazu, Hippolyt und Cyprian schwanken, Origenes bestreitet ihn entschieden153. Noch im 3. und 4. Jh. gab es Autoren, die chiliastische Neigungen verraten, und kirchlicherseits ist die Lehre von einem 1000jährigen Friedensreich nie verworfen worden.
Die Unsicherheit bezüglich des Weltendes wird allerdings auch durch den Chiliasmus nicht ausgeräumt. Die Frage, wann die Fesselung des Satans zu erwarten ist, wird ja nicht beantwortet. So bleiben Berechnungen des Weltendes weiterhin akut. Ein erster Hinweis findet sich im Barnabasbrief 15,3/5 (vor 140):
„Vom Sabbat heißt es am Anfang bei der Schöpfung: Und Gott schuf in sechs Tagen die Werke seiner Hände; und er vollendete sie am siebten Tag und ruhte an ihm und heiligte ihn (Gen 2,2). Paßt auf, Kinder, was die Worte bedeuten: Er vollendete sie in sechs Tagen. Das bedeutet, daß der Herr das All in 6000 Jahren vollenden wird. Denn der Tag bezeichnet bei ihm tausend Jahre. Er selbst aber bezeugt es mir mit den Worten: Siehe, ein Tag des Herrn wird wie tausend Jahre sein (Ps 89,4). Also, Kinder, wird das All in sechs Tagen gleich sechstausend Jahren vollendet werden. Und er ruhte am siebten Tag, das bedeutet: Wenn sein Sohn gekommen ist und die Zeit des Gesetzlosen beendet, die Gottlosen richtet und die Sonne, den Mond und die Sterne verwandelt, dann wird er recht ruhen am siebten Tag“ (15,3/4)154.

Nach diesem Text dauert die Weltzeit 6000 Jahre; das entspricht der Länge der Schöpfungstage. Die Gleichung ergibt sich aus der Verbindung von Gen 1 und Ps 89,4. Man konnte sie der jüdischen Apokalyptik entnehmen, in der seit den Weltzeitalterlehren des Buches Daniel solche Spekulationen gepflegt wurden. Betrachtete man nun die Geschlechterfolgen des Alten Testaments, wie sie auch die Evangelien in den Stammbäumen Jesu darboten (Mt 1,1/17; Lk 3,23/38), mochte es gelingen, das Ende der 6000 Jahre zu berechnen. Es hätte nahegelegen, Tod und Auferstehung Jesu, das eschatologische Ereignis schlechthin, mit dem Jahr 6000 gleichzusetzen. Weil die Eschata Jesu jedoch nicht eintraten und die Parusie sich verzögerte, mußte man den Tod Jesu bzw. seine Geburt, die auch als Fixpunkt herangezogen worden ist, zurückdatieren, damit noch eine Frist bis zur Parusie übrig blieb. Das machte keine Schwierigkeiten, wenn man die biblischen Zeitangaben anders ordnete. So hat z.B. Hippolyt die Geburt des Herrn auf das Jahr 5500 berechnet.

„Aber es spricht jemand: Wie willst du mich überzeugen, daß im fünftausend und fünfhundertsten Jahre Christus geboren wurde? Lerne leicht, o Mensch! Denn wie vorlängst durch Moses in der Wüste in Betreff der Hütte ein Gleichnis ward und Bilder waren der geistlichen Geheimnisse, damit, wenn kommt hernach die Wahrheit in Christus, du dieses sich erfüllt habend erkennst. Denn er spricht zu ihm: ‚Mache den Kasten [die Bundeslade] aus nicht faulendem Holz und vergolde ihn mit lauterem Gold von innen und außen, und mache seine Länge zwei Ellen und eine halbe, und seine Breite eine Elle und eine halbe und seine Höhe ebenfalls eine Elle und eine halbe‘. Dies aber zusammengerechnet wird fünf Ellen und eine halbe, damit gezeigt werden fünftausend und fünfhundert Jahre, in welchen der Erlöser gekommen, der von der Jungfrau, wie von der Lade, seinen Leib in die Welt herausführte, vergoldet von innen durch das Wort, aber von außen durch den Heiligen Geist. … Daß aber zur fünften und halben Zeit [d.h. im Jahre 5500] der Erlöser kam in die Welt, habend die unverwesliche Lade, seinen Leib – denn so spricht Johannes: ‚Es war aber die sechste Stunde‘, damit er die Hälfte des Tages zeige, ein Tag aber des Herrn sind ‚tausend Jahre‘; von diesen die Hälfte ist fünfhundert“155.

In einer grandios-kuriosen Verbindung von Ex 25,10f und Joh 19,14 gelangte Hippolyt zu seiner Lösung. Er selbst war gewiß kein penetranter Chiliast und nicht begierig auf das Ende. Er lebte um 200; wenn Christus im Jahre 5500 geboren worden ist, müssen noch 500 Jahre bis zum Weltende im Jahr 6000 vergehen. Also bleiben ihm noch 300 Jahre. Darüber brauchte er sich keine Sorgen zu machen, und er war seine Frager los. Seine Berechnungen zeigen immerhin, was die Gemeinde bewegte.

Weltuntergangsprophezeiungen fielen damals angesichts schwerer Kriegsnöte und grassierender Seuchen unter Kaiser Marc Aurel (vgl. S. 105) auf fruchtbaren Boden. Als warnendes Beispiel hat Hippolyt von einem Bischof in Pontus berichtet, der von Traumgesichten heimgesucht worden war und seiner Gemeinde geweissagt hatte, binnen Jahresfrist werde das Weltgericht hereinbrechen. Woraufhin die Leute ihr Hab und Gut verschleuderten, ihre Äcker nicht mehr bestellten und in Furcht und Zittern unter ständigen Gebeten den Jüngsten Tag erwarteten. Ein anderer Bischof war in Syrien mit seiner ganzen Gemeinde, einschließlich der Kinder, in die Wüste gezogen, dem wiederkommenden Christus entgegen. Der Bischof war nicht nur ein schlechter Prophet, sondern auch kein guter Pfadfinder. Die umherirrenden Leute wurden von einer Polizeistreife aufgegriffen und wären beinahe als Räuber hingerichtet worden (Danielkommentar 4,18f). Man kann verstehen, daß Hippolyt bei solchen Vorkommnissen mit seiner 300-Jahre-Frist für Beruhigung sorgen wollte.

Die Versuche, das Weltende zu berechnen und mit dem Jüngsten Tag zu drohen, haben bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört – wenn auch mehr am Rand der Kirche und in christlichen Sondergruppen. Die Kirche selbst ist allen Wiederkunftsspekulationen gegenüber skeptisch geblieben mit dem Ergebnis, daß die Erwartung der Parusie Christi weithin ein theoretischer Glaubenssatz geworden ist, der das christliche Bewußtsein nur wenig prägt. Wirkliche Zukunftsutopien artikulieren sich heute woanders, außer in verschiedenen Sekten in gesellschaftskritischen und ideologischen Gruppen unterschiedlicher Couleur. Erst seit dem 2. Vatikanischen Konzil bemühen sich Theologie und Liturgie verstärkt darum, verlorenes Terrain wieder gutzumachen156.

Kirchengeschichte: Ausbreitung, Leben und Lehre der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten

Wer bis hierher gelesen hat, wird mir sicher zustimmen, dass Russell und Rutherfort nicht die ersten Rechenkünstler waren – und genauso „knapp daneben gelegen“ haben, wie die Rechenkünstler vor ihnen.

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