Barmherzigkeit gebe der Kyrios dem Hause

Der Herr gebe dem Hause des Onesiphorus Barmherzigkeit, denn er hat mich oft erquickt und sich meiner Kette nicht geschämt;
Elberfelder 1871 – 2. Timotheus 1,16

 Nur Onesiphorus hat treu zu mir gehalten. Möge seine Familiep die Barmherzigkeit des Herrn erfahren! Denn er hat mich oft ermutigt und hat sich nicht geschämt, zu mir zu stehen, obwohl ich ein Gefangener bin und in Ketten liege.
Neue Genfer Übersetzung 2013 – 2.Timotheus 1:16

Barmherzigkeit gebe der Kyrios dem Hause des Onesiphoros; denn er erquickte mich oft mit einem frischen Odem, und meiner unauflöslichen Kette schämte er sich nicht, sondern angekommen in Rom suchte er mich eifrig und fand mich.
Pfleiderer Übersetzung – 2.Tim 1,16–17

Gegen diese betrüblichen Fälle von Treulosigkeit setzt Paulus das Beispiel des Onesiphorus (vgl. auch 2Tim 4,19), der ihn nicht nur in Ephesus, sondern auch in Rom tatkräftig unterstützte. Seine Hilfsbereitschaft, die er dem Apostel immer wieder erwiesen hatte, ging so weit, daß er ihm sogar nach Rom folgte und nach mühevollen Nachforschungen seinen dortigen Aufenthaltsort ausfindig machte. Trotz der Gefangenschaft des Paulus und dem Stigma, das seiner Lage anhaftete, blieb Onesiphorus unbeirrt bei seiner Haltung und half dem Apostel weiterhin, wo er konnte. Für diese Treue lobt ihn Paulus hier und erbittet zweimal Gottes Barmherzigkeit (2Tim 1,16.18) für den treuen Diener und sein ganzes Haus.
Der Gegensatz zwischen Treue und Treulosigkeit, Stärke und Schwäche, Vertrauenswürdigkeit und Unzuverlässigkeit, den der Apostel an dieser Stelle herausarbeiten möchte, springt ins Auge. Die vielen in der Provinz Asien, die sich von Paulus abgewandt haben (V. 15), stehen letztlich für all die Eigenschaften, vor denen er Timotheus so eindringlich gewarnt hat – Feigheit, Scham, Laxheit, Untreue im Amt. Onesiphorus dagegen verkörpert die Tugenden, zu denen der Apostel seinen Schützling anhalten möchte Mut, Liebe, Selbstüberwindung, Unerschrockenheit und Glaubensfestigkeit. Die Veranschaulichung der negativen wie der positiven Haltung soll Timotheus in seiner Entschlossenheit bestärken, auf einer Linie mit dem Apostel weiterzukämpfen und zu lehren, wie jene, die Paulus nicht die Gefolgschaft aufgekündigt haben.

Die Bibel erklärt und ausgelegt – Walvoord Bibelkommentar

Ein erfreuliches Beispiel, ein Vorbild. Der gefangene Apostel Paulus wurde etwas später nach Rom »überstellt«, weil dort, vor dem Reichsgericht, sein »Fall« schon früher anhängig war. Dann reiste ihm wohl ein Mann namens Onesiphorus aus der Gemeinde in Ephesus nach. Er schämte sich des »Zuchthäuslers« Paulus nicht. Vielmehr bekannte er sich zu ihm, indem er ihn unablässig in Rom »suchte« – etwa in verschiedenen Gefängnissen – und entsprechend auch bei Gerichten und andern Behörden nachfragte. Nachdem er ihn gefunden hatte, besuchte er Paulus oft, tröstete, stärkte und »erquickte« ihn. Paulus schreibt: Onesiphorus »hat mich oft erquickt und hat sich meiner Ketten nicht geschämt, sondern als er in Rom war, suchte er mich eifrig und fand mich« (V. 16ff.).
Es wird deutlich erkennbar, dass Onesiphorus nicht mehr lebte: Paulus erbittet seinem »Haus Barmherzigkeit« (V. 16). Und am Schluss des Briefes trägt Paulus dem in Ephesus befindlichen Timotheus Grüße an »das Haus des Onesiphorus« auf (2Tim 4,19). Wir wissen nicht, ob Onesiphorus in Rom oder anderswo eines natürlichen Todes gestorben war oder in Rom bereits den Märtyrertod erlitten hatte, obschon der große Verfolgungssturm damals über die Gemeinde in Rom noch nicht hereingebrochen war. Doch ein Mann, der so sehr nach einem politisch verdächtigen Gefangenen sah, wurde den entsprechenden Stellen selbst verdächtig. Die Familie des Onesiphorus lebte offenkundig nach wie vor in Ephesus.
Paulus erbittet für das »Haus des Onesiphorus« die »Barmherzigkeit« des Herrn. Er war gewiss, dass sich der nun vaterlosen Familie der Herr in seiner Gnade, seiner Liebe und seinem Erbarmen um so mehr annahm. Und Paulus sah einen Zusammenhang zwischen dieser Barmherzigkeit Gottes gegenüber seinen Angehörigen und der Barmherzigkeit und Treue, die Onesiphorus ihm, dem Apostel Paulus, erwiesen hat. Das zeigt dieses »denn« (V. 16):»… denn er hat mich oft erquickt…« Gott erweist ja »Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die ihn lieben und seine Gebote halten« (2Mose 20,6).
Sodann schreibt Paulus auch ein Wort der Fürbitte und des Segens für Onesiphorus: »Der Herr gebe ihm, dass er Barmherzigkeit finde bei dem Herrn an jenem Tage. Und welche Dienste er in Ephesus geleistet hat, weißt du am besten« (V. 18). Es ist das einzige derartige Wort im NT für einen bereits Verstorbenen. Auch ein solches ist also nicht ausgeschlossen. Das ist wichtig für die Frage, ob wir bei Bestattungsfeiern Worte der Fürbitte und des Segens für die Verstorbenen sprechen dürfen.
Onesiphorus, der einst Paulus in Rom suchte, bis er ihn »fand«, soll nun beim Herrn Barmherzigkeit »finden«. Auch an die früheren Dienste des Onesiphorus in Ephesus erinnert Paulus; Timotheus kennt sie ja gewiss aus eigener Beobachtung und Erfahrung. Gewiss, wir
werden des Heiles allein durch die Gnade Gottes in Jesus Christus teilhaftig. Doch Gott beantwortet in seiner Freundlichkeit auch menschliche Treue. So spricht unser Herr: »Es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden« (Mt 5,12). Und Paulus schreibt: »Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen« (Gal 6,9).
Mit diesen knappen Worten hat Paulus für Onesiphorus ein schönes Denkmal gesetzt und mit ihm nicht nur Timotheus, sondern uns allen ein Beispiel vor Augen gestellt für Zeiten der großen Anfechtung der Gemeinde Jesu, in denen die Angriffe, auch in der Öffentlichkeit, vor allem ihre leitenden Glieder treffen. Das Verhalten des Onesiphorus gegenüber Paulus war vorbildlich: »Er suchte mich«, er suchte mich auf; »er hat sich meiner Ketten nicht geschämt«; »er hat mich oft erquickt«.

Gerhard Maier – Edition C

Mit einem Optativ δῴη („er möge geben/schenken“), der einen Wunsch ausdrückt, greift Paulus ein Anliegen auf, das er Gott gegenüber hat, nämlich, dass Gott der Familie („Haus“ steht als Metonymie für die Bewohner dessen Hauses“) von Onesiphorus Barmherzigkeit schenken möge. Sein Name besteht aus ονινημι („nützlich sein“) und φερω („bringen“), d.h. „Nutzbringer“. Das Verb ἀνέψυξεν („er erfrischte“) besteht aus den Teilen ἀνά („wieder“) und ψύχω (“kühl machen”). Wenn Paulus kraftlos war und Ermutigung und Hilfe brauchte, hat dies Onesiphorus dazu gebracht, dem Apostel zu helfen. Paulus erinnert sich an die Wohltaten, jedoch ist der Kontext im Hinblick auf die, die ihn verlassen haben, sodass dies hier wohl der Grund ist, warum er ihn nennt. Es könnte auch naheliegen, dass der Bruder gestorben ist, allerdings bittet Paulus um Barmherzigkeit für ihn, was auf Verstorbene nicht zutreffen könnte. Das Fehlen des Bruders zeigt auch der Gebrauch des Aorists ἀνέψυξεν und ἐπαισχύνθη, der nahelegt, dass es mit den Hilfen nun, so oder so, vorbei ist. Paulus erwähnt die positiven Dinge, wie er es auch im nächsten Vers fortsetzt. Dass der Kontakt zumindest mit seinen Angehörigen weiterhin vorhanden ist, zeigen die Grüße an ihn und sein Haus am Ende des Briefs.

Peter Streitenberger

Der Ausdruck „gebe Barmherzigkeit“ kommt sonst nirgendwo im Neuen Testament vor. Die Barmherzigkeit spielt offensichtlich nicht auf die Notwendigkeit der Errettung an, da der Haushalt des Onesiphorus in Grüßen am Ende des Briefes erwähnt wird (4,19). Es wurde bereits gesehen, daß Barmherzigkeit ein Gefühl des Mitleids oder Sympathie impliziert, welches in schwierigen Zeiten notwendig wird. Man kann sie in Zeiten der Not erhalten (Hebräer 4,16). Die Mehrheit der Gelehrten sind der Auffassung, daß die in diesen letzten Versen verwendete Sprache andeutet, daß Onesiphorus zur Zeit der Abfassung tot war. Wenn dies der Fall war, dann wäre der Wunsch im Herzen des Apostels, daß der Herr der hinterlassenen Familie in einer Zeit großen Schmerzes Barmherzigkeit gewähren möge, äußerst angebracht.
Wenn er jedoch, wie einige argumentiert haben, lediglich abwesend war, dann wäre Barmherzigkeit immer noch in der Zeit des Getrenntseins erforderlich. Im Licht der Tatsache, daß Paulus in diesem Brief manche Details über die Aufenthaltsorte anderer Diener Gottes gibt (4,10-13), und daß Onesiphorus ganz sicher nicht bei Paulus ist (V. 17), noch in Ephesus, ist die naheliegendste Annahme, daß er heimgegangen ist, um bei Christus zu sein. Sein Name bedeutet „Nutzenträger“, und er hat in seiner Beziehung zu Paulus bestimmt der Bedeutung seines Namens alle Ehre gemacht. „Oft erquickt“ bedeutet wörtlich kühlen. Wenn also der gealterte Apostel in der Hitze des Feuers der Verfolgung stand, wurde er von diesem hingegebenen Diener bei vielen Gelegenheiten erfrischt. Eine solche Erquickung schließt den im folgenden Vers genannten Besuch und die Fürsorge für die materiellen Bedürfnisse des Apostels mit ein. Die Erquickung war zweifellos auch geistlicher Natur, wie z. B. in Phim. 1,5-7 beschrieben.
„Kette“ (halysis) bedeutet Handschelle, und sie ist in der Tat ein Symbol der Schmach und der Schande. Onesiphorus ist ein leuchtendes Beispiel dessen, was in den Versen 8.12 erwähnt wird. Selbst die Tatsache, daß Paulus vierundzwanzig Stunden am Tag an einen römischen Soldaten angekettet war, hielten ihn von den Besuchen ab. Vielleicht bestand für ihn sogar bei solchen Besuchen eine gewisse Gefahr, aber trotzdem machte er sich oft auf den Weg.

Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt