Tag: 14. August 2020

„Von dem Gott, vor dem man zittern muss“

Also, ihr Lieben, ihr habt ja immer alles umgesetzt, was ich euch empfohlen habe. Egal, ob ich bei euch vor Ort bin oder ob ich gerade nicht da sein kann: Hört auf das, was ich euch sage! Tut was dafür, dass ihr von Gott gerettet werdet! Von dem Gott, vor dem man zittern muss. Aber dieser Gott sorgt ja für beides bei euch, einmal, dass ihr das überhaupt wollt, und dann, dass ihr es überhaupt schaffen könnt, damit er sich über euch freut. Bei allem, was ihr so anpackt, versucht immer gut drauf zu sein und passt auf, nicht ständig ins Grübeln und Zweifeln zu kommen.

VolxBibel – Phil 2,12–14

Darum, meine Lieben, so wie ihr immer gehorcht habt — nicht nur während meiner Anwesenheit, sondern jetzt noch viel bereitwilliger während meiner Abwesenheit —, arbeitet weiter mit Furcht und Zittern an eurer Rettung.  Denn Gott ist derjenige, der euch sowohl den Wunsch als auch die Kraft gibt, das zu tun, was ihm gefällt.  Tut weiterhin alles, ohne euch zu beklagen und zu widersprechen,

neue Welt Übersetzung – 2018 – Philipper 2,12–14

Was folgt daraus, liebe Freunde? So, wie ihr Gott bisher immer gehorsam gewesen seid, sollt ihr euch ihms auch weiterhin mit Respekt und tiefer Ehrfurcht unterstellen und alles daransetzen, dass eure Rettung sich in eurem Leben voll und ganz auswirkt – nicht nur, wenn ich bei euch bin, sondern erst recht jetzt, während meiner Abwesenheit. Gott selbst ist ja in euch am Werk und macht euch nicht nur bereit, sondern auch fähig, das zu tun, was ihm gefällt.
Verbannt alle Unzufriedenheit und alle Streitsucht aus eurer Mitte, denn ihr sollt ein tadelloses Leben führen, das in keiner Weise vom Bösen beeinflusst ist. Wenn ihr als Kinder Gottes mitten in dieser verdorbenen und heillosen Welt vorbildlich lebt, werdet ihr unter euren Mitmenschen wie Sterne am Nachthimmel leuchten. Haltet daher an der Botschaft fest, die zum Leben führt!

Neue Genfer Übersetzung – Phil 2,12–16

Daher, meine Geliebten, gleichwie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Gegenwart, sondern jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit, bewirket (O. wirket aus, vollführet) eure eigene Seligkeit (O. Errettung, Heil) mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, nach seinem Wohlgefallen.
Tut alles ohne Murren und zweifelnde Überlegungen, auf daß ihr tadellos und lauter (O. einfältig) seid, unbescholtene Kinder Gottes, inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, unter welchem ihr scheinet (Eig erscheinet, aufgehet) wie Lichter (O. Himmelslichter) in der Welt,

Elberfelder 1871 – Phil 2,12–15

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Phil 2,12 ὑπ-ηκούσατε Aor. -ακούω2 hören auf; gehorchen. παρ-ουσία (< πάρειμι [εἰμί] anwesend sein) Anwesenheit, Gegenwart. πολλῷ μᾶλλον noch viel mehr (vgl. A117). ἀπ-ουσία Abwesenheit. τρόμος Zittern, Beben; μετὰ φόβου καὶ τρόμου mit Furcht und Zittern = mit aller Ehrfurcht und Gewissenhaftigkeit. ἑαυτῶν gen. poss. (A154) steht betont: euer eigenes. κατ-εργάζεσθε Imp. -εργάζομαι vollenden, tun; hervorbringen, schaffen, sich mühen um; καθὼς πάντοτε … μὴ ὡς ἐν τῇ παρουσίᾳ μου μόνον ἀλλὰ νῦν πολλῷ μᾶλλον … κατεργάζεσθε wie ihr immer … (so) müht euch (weiter) um … nicht nur wie (damals), als ich (bei euch) anwesend war, sondern jetzt noch viel mehr …

Neuer Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament

13 Wir kommen zu der direktesten und prägnantesten Aussage des Neuen Testaments über das Paradox des menschlichen freien Willens gegenüber Gottes Vorwissen und / oder Vorbestimmung. Gott ist derjenige, der unter euch (Plural) arbeitet, sowohl der Wille als auch der Wirkt für das, was ihm gefällt. Es wäre eine Ablehnung von Gottes eigener Arbeit, die Arbeit, die ihm gefällt, nicht zu tun (Ep 2: 8–10 & N), und wir wissen aus Vers v. 3–4 dass es ihm gefällt, wenn die Gläubigen auf die Interessen des anderen achten.
In der King James Version wird der erste Satz wiedergegeben: „Es ist Gott, der in dir wirkt“, was darauf hindeutet, dass er in jedem Menschen arbeitet und es jedem Einzelnen ermöglicht, zu wollen und zu tun, was Gott gefällt. Auch diese Interpretation ist legitim.
Das Paradox der menschlichen Wahl wird im Tanakh deutlich, wenn Klagelieder 5:21 („Wende uns, Adonai, zu dir; und wir werden uns umdrehen.“) Neben Sacharja 1: 3 („Wende dich zu mir“, sagt Adonai) gestellt wird der Armeen des Himmels, ‚und ich werde mich an dich wenden.‘ ”). Rabbi Akiva drückt es noch prägnanter aus: „Alles ist vorgesehen und der freie Wille ist gegeben“ (Avot 3:15). In diesem Vers sehen wir, dass Gott nicht in den freien Willen eingreift, sondern denen hilft, die bereits versuchen, seinen Willen zu tun, um es besser zu machen.

Stern – Kommentar zum jüdischen Neuen Testament

Das Wörtchen ‚also‘ verbindet die Verse 12-13 mit den unmittelbar vorangehenden. Christus gehorchte dem Vater und führte seinen Plan bis zum Tod am Kreuz aus ( V. 8). Die philippischen Christen sollen sich nun um denselben Gehorsam bemühen und Paulus‘ Anweisungen, in denen er sich auf das Beispiel Christi stützt, befolgen.
Die folgende Ermahnung ist sehr direkt und deutlich formuliert, doch ihre Strenge wird gemäßigt durch die Zuneigung des Apostels, die in der Anrede „meine Lieben“ mitschwingt. Dieser liebevolle Ton rief in den Philippern zweifellos Erinnerungen an den ersten Besuch des Apostels und seines Mitarbeiters Silvanus wach. Damals hatte er sie zum christlichen Glauben hingeführt und bekehrt und eine Gemeinde in ihrer Stadt gegründet ( Apg 16,19-40 ). Sie waren seinen Anweisungen rasch und bereitwillig nachgekommen, als er bei ihnen war. An diese Bereitwilligkeit erinnert der Apostel sie nun und fordert dann von ihnen den gleichen Gehorsam auch jetzt, da er fern ist. Schon zuvor hatte er betont, daß seine Abwesenheit ihren christlichen Wandel nicht beeinträchtigen darf (Phil 1,27).
Die Forderung, die er im Hinblick auf ihre geistliche Weiterentwicklung und im Blick auf das Vorbild Christi an sie richtet, klingt hart: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.“
Dieser Satz wird allgemein so ausgelegt, daß es darin um die persönliche Rettung der Heiligen in Philippi geht. Sie werden aufgefordert zu „schaffen“, d. h. in ihrem alltäglichen Leben in die Tat umzusetzen, was Gott durch den Geist in ihnen bewirkt hat. Sie sollen ihre Rettung nicht selbst herbeiführen, sondern die Rettung, die Gott ihnen bereits geschenkt hat, in ihrem Leben Wirklichkeit werden lassen. Angesichts der Uneinigkeit und des Hochmuts, die offenbar in Teilen der Gemeinde herrschten, scheint diese Deutung richtig. Einige Gläubige in Philippi waren anscheinend nichts weniger als selbstlos und stellten die Bedürfnisse der anderen keineswegs über ihre eigenen (vgl. Phil 2,3-4).
Manche Exegeten verstehen Paulus‘ Aufforderung aber auch als Aufruf zu einem wirklichen gemeinsamen Leben der ganzen philippischen Gemeinde. Die Anhänger dieser These finden einen Anhalt im unmittelbaren Kontext des Abschnitts, denn Paulus wirft den Philippern hier vor, daß sich jeder nur um sich selbst kümmere (vgl. V. 4). In diesem Fall bezöge sich das „Seligwerden“ auf die Erlösung der gesamten Gemeinde aus ihrer Uneinigkeit, ihrem Stolz und ihrer Selbstsucht.
Vielleicht ist es am besten, beides in diesem Vers zu sehen – die Umsetzung der persönlichen Erlösung in die Praxis und die Rettung oder Befreiung der gesamten Gemeinde aus allem, was sie davon abhielt, den Segen Gottes in seiner ganzen Fülle zu erfahren.
Das Bemühen um diese Ziele soll „mit Furcht und Zittern“, d. h. in absolutem Vertrauen auf Gott, nicht auf sich selbst, geschehen.
Der einzige Weg zur Erfüllung der Forderung des Apostels führt über Gott, der die Christen dazu befähigen kann, nach seinem Willen zu leben ( V. 13). Paulus erinnert die philippischen Heiligen daran, daß Gott ja in ihnen wirkt und ihnen das Wollen und das Vollbringen schenkt, so daß sie ihm wohlgefällig leben können. Zu einem solchen Lebenswandel sind sowohl die göttliche Befähigung als auch die menschliche Verantwortung nötig. Die Gläubigen sind Partner Gottes, sie arbeiten mit ihm zusammen. Das Verb wirkt ( V. 13) ist gleichbedeutend mit „Kraft geben“ oder „befähigen“. Gott macht die Seinen bereit und willig dazu, sein Werk zu vollbringen.

Die Bibel erklärt und ausgelegt – Walvoord Bibelkommentar

„Also34, meine Geliebten“ – Paulus zieht in herzlicher Anrede an die Briefempfänger die Folgerung aus der Schilderung des Weges Jesu, ja eigentlich aus dem ganzen Abschnitt von 1,27 an, in dem auch 1,28 schon von der „Rettung“ die Rede war. Er wiederholt aber nicht die Mahnungen, denen er in dieser Schilderung den zusammenfassenden Abschluss gab, die Mahnungen zur Eintracht und liebevollen Demut, sondern knüpft an das an, was ihm jetzt an dem Bilde Jesu so wichtig wurde: an den Gehorsam. Er sagt den Philippern damit an sich nichts Neues, er ruft sie nicht jetzt erst zum Gehorchen. „Glauben“ und „gehorchen“ lagen für Paulus so unmittelbar nebeneinander, dass er die Formel „Glaubensgehorsam“ bilden konnte. Der Glaube wendet sein Vertrauen Dem zu, dem man nur gehorchend vertrauen kann. So hat Paulus alle Gemeinden grundlegend unterwiesen, |86| so hörten es auch die Philipper von Anfang an. Paulus kann ihnen darum bestätigen: „Wie ihr allezeit gehorsam wart.“
Wir freilich haben allen Grund, hier aufzuhorchen! Hier läuft eine klare und starke Linie des Neuen Testaments, die uns allzu fremd geworden ist. Wir sind durch eine einseitige Verkündigung daran gewöhnt, dass im Christentum doch nur um „Gnade“, um „Vergebung“, um „Geschenktbekommen“, um „Seligwerden“ geht. Wir halten es unsererseits schon für eine Art Entgegenkommen gegen Gott, wenn wir uns im Gegensatz zu so vielen andern dazu bereit finden lassen, diese Gaben Gottes anzunehmen. Dazu kommt ein zweites. Als es um 1800 zum ersten mal darum ging, dem „Christentum“, ja der „Religion“ überhaupt vor den kritischen Augen seiner „Verächter“ einen Platz zu sichern, da meinte Schleiermacher im „Gefühl“ den eigensten Bereich finden zu können, der der „Religion“ nicht genommen werden kann. Von da her drang weit ins Denken des modernen Menschen, auch in der Kirche, die Meinung, „Religion“ und „Christentum“ haben es mit Gefühlen und Stimmungen zu tun. Und nun mischte sich diese Auffassung mit jenen Restbeständen der reformatorischen Rechtfertigungslehre, mit „Gnade“ und „Seligwerden“, und prägte unsere unwillkürliche Einstellung dem Christentum gegenüber. „Erbauung“, „Erhebung“, „Trost“ sucht nun der heutige Mensch in der Kirche. Wie sollte er da für eine so nüchterne und harte Sache wie „Gehorsam“ aufgeschlossen sein?! Hier müssen wir in der Gemeinde tief eingewurzeltes falsches Denken überwinden. Dazu ist es wichtig, dass wir im Bild des Heilands den Gehorsam ganz neu sehen und neu begreifen, dass das „Gehorchen“ unlösbar mit dem „Glauben“ verbunden das Christsein ausmacht.35 |87|
Die Philipper waren allezeit gehorsam gewesen, natürlich nicht dem Paulus, sondern Gott und dem Herrn Jesus in Sein in Wort. Paulus selbst spielte dabei nur insofern eine R H, als er der „Bevollmächtigte des Christus“ war. Er war unter ihnen für den Herrn eingetreten und hatte Sein Wort bekräftigt und erläutert. So konnte es sein, dass „in seiner Anwesenheit“ das Gehorchen leichter und eifriger war. Mit Freude kann Paulus seinen „Geliebten“ das Zeugnis ausstellen, dass auch „jetzt viel mehr in seiner Abwesenheit“ der Gehorsam ihr Gemeindeleben prägte. Natürlich ist das „viel mehr“ nicht quantitativ zu verstehen. Die Philipper waren jetzt in des Paulus Abwesenheit nicht noch gehorsamer als früher, aber sie waren es jetzt „erst recht“. Dabei haben wir die ganzen Worte von „nicht wie … bis … meiner Abwesenheit“ als eine Zwischenbemerkung aufgefasst, die noch von „allezeit gehorsam wart“ abhängt. Man kann diese Worte aber auch bereits zum Nachsatz ziehen und ihnen in dem „schafft eure Rettung“ das Prädikat geben. Im lebendige Sprechen des Diktates ist dann unvermerkt der eine Gedanke und Satz in den anderen hinübergeflossen.
Ganz erstaunlich ist nun aber für uns diese Aufforderung. „mit Furcht und Zittern schafft eure eigene Rettung“; noch erstaunlicher ihre Begründung: „Denn Gott ist es, der da wirkt in euch sowohl das Wollen wie das Wirken.“
Wir haben zunächst den Eindruck eines uns ratlos machenden Gegensatzes gegen den Grundzug dessen, was wir als biblisch-reformatorische Verkündigung kennen. Sagen und hören wir es nicht mit aller Entschiedenheit, und zwar ganz einmütig, ob wir nun „Lutheraner“ oder „Reformierte“ oder „Pietisten“ sind: „Nichts kannst du machen mehr, Er hat’s gemacht; es ist vollbracht, es ist vollbracht“? Zu deiner Rettung kannst du auch nicht das Allergeringste beitragen, du kannst sie immer nur als freies Geschenk der allwirksamen |88| Gnade annehmen. Ja, selbst dies „annehmen“, dies „Glauben können“ ist nicht deine Leistung, sondern Gottes Werk im Heiligen Geist! Beruht darauf nicht die ganze Gewissheit unseres Heils? Und nun auf einmal „Schafft eure Rettung“, ja wörtlich beinah noch stärker „Erwirkt, erarbeitet eure Rettung“? Und dies so ernst, so entscheidungsschwer, dass es „mit Furcht und Zittern“ geschehen muss? Paulus, wie kannst du das sagen? Stößt du damit nicht alles um, was du uns sonst gelehrt hast? Was meinst du damit: Wie sollen wir das denn tun?
Fast noch ratloser macht es uns, wenn Paulus im selben Atem die uns gewohnte Vorstellung ebenfalls in aller Schroffheit danebenstellt: „Gott ist es, der da wirkt in euch sowohl das Wollen wie das Wirken.“ Jawohl, Paulus, da bist du wieder in deiner vertrauten Linie, das ist reformatorische Heilsbotschaft. Aber – wie kannst du beides zugleich aussprechen und nebeneinanderstellen?! Es kann doch immer nur das eine oder das andere gelten! Entweder Gott wirkt alles, objektiv das Heil und auch subjektiv das „Wollen“, dann haben wir doch nichts mehr zu tun, dann ist alles nur Gnade. Dann kann ich mir das Tun Gottes höchstens gefallen lassen und (wie die alten Dogmatiker sagten) „ keinen Riegel vorschieben“. Oder ich muss selber „meine Rettung schaffen“, dann ist es eben mein Tun und meine Sache, und die alten jüdischen Theologen hatten dann recht, wenn sie Gott nur als den Beurteiler dessen sahen, was wir Menschen unsererseits tun oder nicht tun. Dann versteht man auch das „mit Furcht und Zittern“, das zum „Gesetz“, aber nicht zum „Evangelium“ passt.
In diesen Bahnen klarer Logik ist die Theologie immer wieder gegangen, und das ist offenbar ihr großer Irrtum. So ist sie typisch eine „Theologia irregenitorum“, eine „Theologie der Nichtwiedergeborenen“, eine Theologie, die betrachtend von außen an Gott und Mensch als „Objekte“ ihrer Forschungen und Zergliederungen herantritt. („Theologe“ so oder so ist aber auch jeder „Laie“, der sich überhaupt über diese Fragen Gedanken macht und die Bibel nachdenkend liest.) Von „innen“ her, von der wirklichen Erfahrung im Heiligen Geist aus stellt sich alles ganz anders dar. So nämlich, wie Paulus es hier deutlich macht, indem er ja die beiden Aussagen gar nicht „nebeneinanderstellt“, sondern mit einem „denn“ ausdrücklich zueinander in Beziehung bringt, und zwar so, dass er unserm Schaffen mit Furcht und Zittern in dem Wirken Gottes seinen Grund gibt. Weil Gott selbst es ist, de sowohl das Wollen wie das Wirken in uns wirkt36, eben darum schafft nun mit Furcht und Zittern euer Heil. Unsere „Logik“ versagt hier, weil es sich um Lebensvorgänge handelt, die über alle Logik hinausgehen. Es kommt aber für unser persönliches Glaubensleben |89| und für unsern Dienst an andern Menschen alles darauf an, dass wir diese Lebensvorgänge recht erfassen und ihre seltsame eigene „Logik begreifen. Unsere Stelle wird so zu einer entscheidenden Probe für uns. Wer sich an ihr noch irgend stößt, wer noch nicht innerlich sagt: Ja, ja, gerade so muss es sein!, wer hier noch etwas von einem „Widerspruch“ empfindet, der muss sich fragen, ob er das Evangelium nicht auch noch „von außen“ betrachtet und sich nur Theoretisch in seine Botschaft hineingedacht, aber die wirklichen Vorgänge der Heilserfahrung noch nicht durchlebt hat. Er wird ja nicht nur vor unserer Stelle ratlos stehen, sondern im ganzen Neuen Testament damit zu tun bekommen, dass immer wieder die große „reformatorische“ Linie: Gott allein wirkt alles, alles ist nur Gnade, der Mensch ist nichts! durchkreuzt wird vom ernstesten Appell an des Menschen entscheidungsvolles Tun. Er wird sich dem Ganzen des Neuen Testaments gegenüber freilich damit zu helfen suchen, dass er Stellen der letzteren Art unwillkürlich nicht so ganz ernst nimmt, sie beiseite setzt, sie nur „pädagogisch“ als Hinführung zum Verzagen des Menschen an sich selbst versteht oder gar als noch nicht voll „evangelische“ Schicht des Neuen Testaments entwertet. Nur das, was das Neue Testament von der Alleinwirksamkeit Gottes und der völligen Passivität des Menschen lehrt, ist eigentliches Gotteswort, nach dem alles andere bewertet werden muss. Aber – bei unserm Text kann man sich so nicht helfen. Zu klar und eindeutig steht es hier: Gott allein wirkt und gibt das Wollen und Wirken, aber gerade darum ist der Mensch nicht passiv, bedeutungslos, sondern zur höchsten verantwortlichen Aktivität gerufen!37
Wir haben eine wichtige Parallele zu unserm Text, nur vom persönlichen Glaubensleben auf den Verkündigungsdienst hinübergewendet, in 1 Kor 2,1-6. Wir finden dort das gleiche „Furcht und Zittern“.38 Der Glaube der Korinther soll nicht „auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft“ beruhen. Es kommt daher in Korinth alles auf Gottes eigenes Wirken, auf „die Erweisung von Geist und Kraft“ an. Nun, dann kann ja wohl Paulus ruhig und gelassen nach Korinth gehen. Entweder Gott wirkt, Geist und Kraft Gottes schaffen Glauben, dann ist es gut ohne des Paulus Zutun, oder Gott wirkt nicht, dann kann Paulus auch weiter nichts machen. Nein, mit der gleichen „Logik“ wie an unserer Stelle tut Paulus seine Arbeit in Korinth „mit Furcht und Zittern“, gerade weil dort Gott Selbst am Werk ist. |90| Er ist in Korinth mit Furcht und Zittern, nicht weil ihm die Erweisung von Geist und Kraft fehlt, sondern weil sie hier, wie stets in seiner Missionsarbeit (einschließlich Athen!), da ist.
Die Lösung der Sache ist im Grunde ganz einfach, sobald wir uns nur von der alten römischen Vorstellung der „gratia infusa“, der „eingegossenen Gnade“ ganz haben lösen lassen, die uns zu bloßen, toten Gefäßen und die göttliche Gnade zu einer Art Substanz macht. Gott achtet uns in Seinem Wirken als lebendige Personen! Er wirkt daher in uns nicht irgendwelche ruhenden Qualitäten, sondern wie es unsere Stelle so klar sagt, „Wollen“. Wozu aber ist „Wollen“ da? Eben dazu, dass nun auch wirklich und mit Ernst „gewollt wird“! Es ist auf dem Gebiet der Gnade und des Heiligen Geistes gar nicht anders wie im Gebiet der Schöpfung. Nicht du macht’s dir Augen und erarbeitest dir des Sehen. Das sehende Auge ist Gottes wunderbare Gabe allein. Aber da du nun diese Gabe hast, nun allerdings sieh auch wirklich, brauche dein Auge, es ist deine eigene höchste Verantwortung, wie du mit deinem Auge umgehst, was du siehst und wie du siehst! Erst recht ist es so beim höchsten und herrlichsten Geben Gottes in der Errettung des Menschen. Unsere Stelle zeigt, wie weit Paulus von einer bloßen „forensischen Rechtfertigung“ entfernt war. Gott versetzt nicht einen unveränderten Menschen lediglich in einen „Gnadenstand“, sondern Gott begnadigt so, dass Er ein neues Wollen im Menschen schafft. In der Tat, keiner von uns kann auch nur ein Verlangen nach Rettung im Herzen haben, wenn Gott ihn nicht zu vor aus dem „Totsein in Sünden und Übertretungen“ (Eph 2,1) erweckt und zum Heil hinzieht. Aber jedem, in dem Gott das getan hat, muss nun mit tiefem Ernst gesagt werden: Nun spiele nicht mit diesem Zug zum Heil, nun folge ihm wirklich, versäume diese Gnadenstunde nicht, gerade weil es nicht nur deine eigene „Stimmung“, dein eigener „Einfall“, sondern im Ernst Gottes Wirken an deinem Herzen ist. Von Gott gewirktes Wollen – welch eine Verantwortung legt das auf uns! Wie können wir dieses Wollen wahrlich nur „mit Furcht und Zittern“ in heiligem Ernst ausnutzen! Dies wiederholt sich auf allen Stufen des Glaubenslebens, vom „Wollen“ bis zum vollen „Wirken“. (Vgl. Rienecker „Bibl. Kritik am Pietismus [1952] S. 72ff.)
Gerade weil Gott an den Philippern so viel getan hat, weil in ihrem jetzigen Glaubensstand lauter lebendige, herrliche Gnade Gottes sichtbar wird, weil dieser ihr Glaubensstand nicht ihr eigenes Machwerk, sondern Gottes eigenes Werk ist, eben darum dürfen sie damit nicht sorglos umgehen, dürfen Gottes Werk nicht verderben, sondern müssen an ihre Rettung ein ganzes, entschlossenes Handeln setzen, indem sie ständig voll in dieser Gnade leben, mit diesem von Gott gewirkten Willen wirklich und beharrlich wollen, das von Gott ihnen geschenkte Wirken in ganzem Gehorsam zur Durchführung bringen. Das Bild Jesu, das Paulus den Philippern eben gezeichnet hat, steht ihm selbst sicher noch vor Augen. Auch der Sohn hat alles, |91| was Er ist und hat, allein vom Vater als Gabe Seiner Gnade und Liebe. Aber dadurch wurde der Sohn nicht untätig, nicht ein genießender Besitzer schöner und erfreulicher Gaben, sondern ging damit den gewaltigen Dienst- und Gehorsamsweg, nicht um mit solchen „Leistungen“ der „Sohn“ zu werden, sondern eben weil Er es war. So sieht Paulus den Weg seiner „Geliebten“ in Philippi. Die freie, wirkende Gnade Gottes, die dort ohne jedes Werk und Verdienst von Menschen verlorene Sünder errettet hatte, darf die Philipper nicht zur Lässigkeit verführen, sondern muss sie in die höchste Anspannung versetzen: Weil Gott das Wollen gab, darum wollt nun auch mit aller Kraft; weil Gott das Wirken verließ, darum wirkt nun auch mit allem Gehorsam!39
Wann werden wir das den Gemeinden (und uns selber!) wieder klar sagen, anstatt sie (und uns!) mit einer falschen Gnadenlehre aus einer irrigen Theologie heraus zu Tode zu trösten.
Der Zusatz „des Wohlgefallens wegen“ ist so in wörtlicher Übersetzung stehen gelassen, weil seine Auslegung nicht eindeutig vollzogen werden kann. In dem griechischen „hyp’er“ = „für“ kann das Ziel ebenso wie der Grund einer Sache ausgesprochen sein. Paulus kann also hier gemeint haben: Handelt so, um das göttliche Wohlgefallen zu erlangen.40 Aber Gottes „Wohlgefallen“ ist doch wahrscheinlich als Sein „Gnadenratschluss“, Sein freier, nur in Seinem eigenen Gefallen begründeter Beschluss zu verstehen und dann auf das Wirken Gottes im Geben des Wollens und Wirkens zu beziehen. Dann will Paulus hier – wie er es oft tut – an das Geheimnis erinnern, das für uns immer über dem Gnadenwirken Gottes liegt. Weil das „Gnade“ ist, kann es nicht in irgendwelchen Vorzügen der Empfänger begründet sein. Warum ist diese Gnade des Wollens und Wirkens gerade den Philippern, gerade diesen wenigen Menschen in Philippi zuteil geworden? Wir können hier zwar auch wieder nicht mit unserer „Logik“ operieren und nach der andern Seite hin feststellen: Den andern hat Gott sogar das „Wollen“ versagt, Er hat sie also zur Verdammnis bestimmt. Aber im Blick auf den lebendigen Gnadenstand bei uns oder andern können wir in der Tat immer nur anbetend sagen: Es geschah in keiner Weise um irgendeines Vorzuges willen, den wir selber an uns hatten, sondern „des Wohlgefallens wegen“, weil es Gott so gefiel, weil Seine freie Gnade es so wollte. Und eben dies erhöht unsere Verantwortung, eben dies lässt |92| uns erst recht „mit Furcht und Zittern“ in vollem Einsatz das verwerten, was Gott uns nach ewigem Gnadenratschluss gab. Welch ein Gericht lüden wir auf uns, wenn wir das versäumten und nicht recht benutzten, was Gott in so freier Güte in uns weckte und schuf! Davor will Paulus seine geliebten Philipper bewahren.
Nun wird das „Schaffen der Rettung“ näher beschrieben. „Alles tut ohne Murren und Bedenken.“ Wir müssen wieder daran denken, dass das „ihr“ in solchen Aufforderungen sich nicht an eine bloße Vielzahl von lauter einzelnen wendet, die jeder für sich das Geforderte fertigbringen sollen, sondern an die Bruderschaft einer Gemeinde. In der Bruderschaft kann und soll der Wille Gottes für heute hier und so klar erkannt werden, dass das Gehorchen „ohne Bedenken“ in voller Gewissheit erfolgen kann. „Bedenken“ hemmen und lähmen. „Bedenken“ zeigen, dass ich in meinen Entschlüssen noch bei mir selber bleibe und nicht unter der deutlichen Führung meines lebendigen Herrn lebe. Das braucht nicht so zu sein! Paulus kam nach Philippi nicht unsicher und fragend, sondern „gewiss, dass uns der Herr dahin berufen hätte, ihnen das Evangelium zu predigen“ (Apg 16,10). Neben den „Bedenken“ kann sich in unserm Herzen auch ein willentlicher Einwand gegen Gottes Weisung erheben. Gottes Weg ist zu schwer, Gott verlangt zuviel von uns. Das ist das „Murren“, das laut werden kann, aber auch tief im Herzen verborgen unsern Gehorsam entwertet und lähmt. Da Gott selbst es ist, der das Wollen und Wirken in uns schafft, dürfen wir dies von Gott verliehene Wollen und Tun festhalten und durchführen, und es darf einen redlichen und völligen Gehorsam „ohne Murren und Bedenken“ geben. So „perfektionistisch“ dachte Paulus! Oder sollte er den Philippern diese Sätze mit dem Hintergedanken geschrieben haben: So wird es tatsächlich natürlich nie, wir bleiben alle die elenden Sünder, die das Murren und Zweifeln nie loswerden? Es öffnet sich hier eine weite biblische Perspektive, die einem Paulus, der 1 Kor 10,1-11 schrieb, bei diesen Worten sicher mit vor Augen gestanden hat. Das Volk Israel war durch Gottes mächtige Gnade aus „Ägypten“ errettet, um nun in Vertrauen und Gehorsam dem lebendigen Gott zu gehören. Da aber begann erschütternd rasch das „Murren“, als nun der Weg mit Gott sehr anders wurde, als menschliches Wünschen es sich gedacht hatte: 2 Mo 16,2-9; 17,1-7; 4 Mo 11,1; 14,27-32; 16,11; 17,6; Ps 106,24.25. So steht in der Geschichte der Wüstenwanderung des befreiten Volkes das „Murren“ als der eigentliche Gegensatz zum „Glauben“ und verhindert die Erfüllung des göttlichen Heilsplanes, so dass die wunderbar Erretteten doch nicht zur „Ruhe“ in das Land der Verheißung kommen konnten (Heb 3,7-19). Alles kommt darauf an, dass das Gottesvolk des Neuen Bundes nicht der gleichen Versuchung unterliegt, zumal sein Weg erst recht durch „Trübsale“ hindurchgeht (Apg 14,22). Es ist darum nicht nur eine einzelne Mahnung am Rande, sondern zentrale Abwehr der entscheidenden Gefährdung des Glaubensgehorsams, wenn Paulus den von Widersachern |93| bedrängten Philippern schreibt: „Alles tut ohne Murren und Bedenken“. Israel wurde mit seinem ständigen Murren zu dem „verkehrten Geschlecht“, von dem schon Mose sprach. Die Gemeinde aber darf diesem verkehrten Geschlecht gegenüber die Schar der echten und gehorsamen Söhne bleiben.
Ja, als ernsthaftes Ziel hat Paulus es seinen Geliebten gesetzt: „Damit ihr werdet ohne Tadel und ohne Falsch, „fleckenlose Kinder Gottes’ mitten unter „einem krummen und verkehrten Geschlecht’.“ Was hier mit „ohne Falsch“ übersetzt ist, ist eigentlich ein Eigenschaftswort mit der Bedeutung „unvermischt“. Wieder werden wir von unserer gewohnten Theologie her meinen, unser Zustand bleibe doch immer ein sehr „gemischter“; auch im Christen bleibe Gutes und Böses, Göttliches und Sündliches miteinander verbunden. So sei es doch einfach unser aller Erfahrung. Das mag sein. Das darf uns aber nicht hindern zu sehen, dass Paulus offensichtlich anders gedacht hat. Oder wollen wir Paulus im Ernst als einen volltönigen Redner verstehen, der im erbaulichen Stil Worte sagt, die er selber so ernst nicht meint? Legen wir ihn richtig aus, wenn wir ein unausgesprochenes „möglichst“ in den Satz einschieben? „Müht euch darum, ohne Tadel und ohne Mischung zu werden, auch wenn ihr das selbstverständlich niemals wirklich erreicht?“
In diesem Gehorchen verwirklicht die Gemeinde das, was schon das Alte Testament ausgesprochen hat. Im Liede Moses wird Israel ein „krummes und verkehrtes Geschlecht“ genannt (5 Mo 32,5), weil es Gottes Treue und Herrlichkeit mit Undank und Ungehorsam vergilt. Paulus wird darum sicher auch hier an sein eigenes Volk denken, das sich auch der Christusbotschaft gegenüber wieder in seiner ganzen Verkehrtheit zeigt.41 Aber die Gemeinde Jesu ist nicht dazu errettet, damit auch sie wieder „krumme Wege“ geht und auch wieder Gotteskindschaft und sündliches Tun verbindet, wie Israel es getan hat, sondern damit in ihr „fleckenlose Kinder Gottes“ zeigen, wie man Gott wirklich ganz gehorcht und Seine guten und „geraden“ Wege „ohne Murren und Bedenken“ geht. Im Schreiben an die Philipper wird Paulus natürlich nicht vergessen haben, dass gerade in der dortigen Stadt und Gemeinde das Judentum keine Rolle spielte. Was ein „krummes und verkehrtes Geschlecht“ ist, hatten die Philipper aber an ihren Stadtgenossen genügend vor Augen. Was jene „Herren“ taten, als sie ihren Ärger über das Aufhören einer Geldquelle zu lauter sittlicher Entrüstung treuer Römerherzen gegen die fremden „jüdischen“ Prediger werden ließen, um diese Männer ohne Untersuchung wider Recht und Gesetz schlagen und einsperren zu lassen (Apg 16,19-24), war ja wirklich „krumm“ genug. Wieviel Ähnliches mögen die Philipper an ihren „Widersachern“ (1,28) selbst erlebt haben. In diesem Philippi sollen die „Heiligen in Christus Jesus“ (1,1) nicht nur den Stand der Zugehörigkeit zu Gott haben, sondern |94| auch tatsächlich als „fleckenlose Kinder Gottes“ leben, so dass sie im Dunkel ihrer Umgebung „strahlen wie Sterne im Weltall“.42
Wieder werden wir voller Bedenken sein: Erzieht Paulus seine Leute nicht zu Pharisäern? Und kann man das überhaupt im Ernst einer Gemeinde zumuten, einer Gemeinde von Menschen, die doch immer ganz und gar Sünder bleiben? Ein moderner Theologe würde also lieber schreiben: „Bleibt euch stets bewusst, dass ihr euch faktisch in nichts von dem Volk unterscheidet, unter dem ihr lebt; ihr seid nicht anders und nicht besser als die Menschen um euch, nur dass ihr von der Gnade Dessen wisst, der euch Sünder gerecht spricht und euch nach dem Tode einmal als fleckenlose Kinder Gottes in einer neuen Welt neu schaffen wird.“ Es entspricht das vielleicht wieder unserer Erfahrung an uns und den heutigen Gemeinden. Aber wieder haben wir zu sehen, dass Paulus selbst grundanders schrieb, und haben uns mit viel Beten und Ringen mit dem auseinanderzusetzen, was das Haupt der Gemeinde im Heiligen Geist seinen Bevollmächtigten Paulus den Philippern tatsächlich schreiben ließ.
Aber wie können denn nach des Paulus Überzeugung die Philipper das große Ziel erreichen, das Paulus ihnen steckt? „Das Wort des Lebens festhaltend!“ Nicht in sich selbst haben sie die Leuchtkraft als „Sterne“, nicht aus sich selbst können sie das rechte Handeln „ohne Murren und Bedenken“ finden, nicht von sich aus, „ohne Tadel und ohne Falsch fleckenlose Kinder Gottes“ sein. Aber „das Wort“ ist bei ihnen. Es ist nicht ein totes Wort, sondern „das Wort des Lebens“. Es gibt das Leben, weil es selbst voll Leben ist. Dies Wort „festzuhalten“, das ist die eine einfache und doch alles in sich schließende Aufgabe. Wie meinte Paulus das aber ganz praktisch und konkret, „das Wort des Lebens festhalten“?43 Wir denken heute sofort an die Bibel und tun wohl daran. Aber es ist uns zugleich heilsam, daran erinnert zu werden, dass es einerseits eine Schriftgelehrsamkeit gibt, die bei aller gewollten Bibeltreue doch den Christus verkannt und an das Kreuz geliefert hat, und dass andererseits die Philipper die Bibel in unserm heutigen Sinn gar nicht hatten! Ob sie auch nur alle Schriftrollen besaßen, die heute unser „Altes Testament“ bilden, ist fraglich. Keinesfalls aber hatten sie alle auch nur die wichtigsten Rollen als persönliches Eigentum zum täglichen Gebrauch |95| zu Hause.44 Und ein „Neues Testament“ existierte noch nicht.45 Das „Wort des Lebens“ wird aber wie Kol 3,16 vor allem „das Wort des Christus“ sein. Es galt von den Gemeindegliedern damals ganz anders als von uns das, was von Maria gesagt ist: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“ (Lk 2,19). Das lebendig verkündigte, lebendig aufgenommene, im Herzen behaltene und bewegte Wort, das war „das Wort des Lebens“. Wir wollen ermessen, was Gott uns damit geschenkt hat, dass heute jeder in der Gemeinde persönlich den ganzen Reichtum der alt- und neutestamentlichen Schriften bequem gedruckt in einem einzigen Buch besitzen darf. Aber wir wollen die große Gefahr nicht verkennen, dass wir im sicheren Besitz dieses Buches doch das „Wort des Lebens“ viel weniger haben und festhalten als jene Gemeinden, die ohne Druckwerk das gehörte Wort im Herzen als wirkliches, lebendiges Eigentum besaßen. Luther hat mit seinem erleuchteten Durchblick schon etwas Wesentliches getroffen, wenn er schreibt: „Evangelium aber heißet nichts anderes, denn eine Predigt und Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, durch den Herrn Jesum Christum mit seinem Tode verdienet und erworben, und ist eigentlich nicht das, das in Büchern steht und in Buchstaben verfasset wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und lebendig Wort, und ein Stimme, die da in die ganze Welt erschallet und öffentlich wird ausgeschrien, dass man’s überall höret.“ (WA 12 S. 259)

Am Wort des Lebens festhalten und damit ihre Rettung schaffen, das ist die Aufgabe der Philipper. Und diese Aufgabe steht46 ganz im Licht des „Tages des Christus“. Auf diesen Tag zielt alles Denken und Tun. Auch hier wieder verwundert uns das, was Paulus schreibt. So wie er in Phil 1,10.11 damit rechnete, dass die Gemeinde nicht arm, leer, befleckt, nur eben „aus Gnaden“ doch angenommen, sondern „lauter und unanstößig“, „erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit“ vor Christus dastehen werde, so erwartet er hier auch für sich selbst, dass er dann einen „Grund zum Ruhm“ haben wird: „Zum Grund des Ruhmes für mich auf den Tag des Christus, weil ich nicht vergeblich lief und auch nicht vergeblich arbeitete.“ Wir vermissen wieder die uns notwendig scheinende „Demut“, die etwa so sprechen müsste: „Mein armes, unbrauchbares Werk wird der Herr hoffentlich doch in Gnaden ansehen“. Paulus schreibt aber anders. Er will sich fröhlich |96| seiner Arbeit an der Gemeinde als einer gelungenen rühmen können! Damit er das aber an jenem Tage kann, muss die Gemeinde jetzt schon in klarem und kraftvollem Leben stehen und darin ernstlich vorankommen. Jene anspruchsvolle Bescheidenheit, die es in ihrer Arbeit hier zu nichts bringt, aber sich dabei damit tröstet, dass „die Ewigkeit schon die Frucht offenbaren werde“, kennt Paulus nicht. Wenn die Philipper das Wort des Lebens nicht festhalten und ihre Rettung nicht mit Furcht und Zittern schaffen, dann hat er „vergeblich“ gearbeitet und ist „vergeblich gelaufen“, wie ein Wettläufer, der den Preis nicht erhält. Dann wird auch „die Ewigkeit“, oder biblisch richtiger: „der Tag des Christus“ nichts anderes offenbar machen. Es ist im Neuen Testament alles viel einfacher und realer als in unserer problematischen Glaubenswelt.47
Indem Paulus von seinem Lauf und seiner Arbeit redet, denkt er erneut daran, dass er vielleicht schon an ihrem Ende steht. Was er vorher in 1,25.26 schrieb, ist nicht mehr als eine persönliche „Zuversicht“. Sein Prozess hat die Krise noch nicht hinter sich und kann mit dem Todesurteil enden. Dann wird er von den Soldaten aus dem Prätorium hinausgeführt werden, und einer der Soldaten wird ihm mit dem Schwert den Kopf abschlagen, so dass sein Blut sich ergießen wird. Indem Paulus diese Möglichkeit innerlich vor sich sieht, entfaltet sich in der Genialität der Liebe und des Heiligen Geistes in seinem Herzen ein Bild für dieses Geschehen, in dem seine ganze echte Demut und seine ganze liebevolle Schätzung der Gemeinde zum Ausdruck kommt. Wenn wir die Opfervorschriften, etwa in 2 Mo 29,36-41. lesen, so sehen wir, dass das Opfer der beiden Lämmer, die täglich morgens und abends auf den Altar kommen sollten, von einem „Trankopfer“ ausgegossenen Weines begleitet war. Auch das Heidentum, aus dem die Philipper kamen, kannte solche „Trankopfer“, die dem Hauptopfer hinzugefügt wurden. Die Gemeinde Jesu kennt keinerlei Opfer mehr, weil Er, der ewige Gottessohn, der große Hohepriester, alle Opfer in Seinem Selbstopfer erfüllt und damit beendet hat. Und doch darf auch sie Gott mit einer Gabe ehren: Ihr „Opfer“ ist ihr Glaube, mit dem sie sich Gott ganz ergibt. So hat Paulus sich selbst als opfernden Priester gesehen: „als Priester des Christus Jesus den Heiden gegenüber, der den priesterlichen Dienst tut am Evangelium Gottes, damit die Darbringung der Völker wohlgefällig wäre, geheiligt durch den Heiligen Geist“ Röm 15,16. Der Glaube der Philipper, in welchem sie mit Furcht und Zittern ihre Rettung schaffen und fleckenlose Kinder Gottes werden, ist das eigentliche große Opfer, das Paulus darbringen kann. Wenn er hingerichtet wird, dann ist das Ausströmen seines Blutes wie das begleitende Trankopfer dazu. Die falsche Bescheidenheit – das sahen wir mehrfach – kennt Paulus nicht, aber wie echt demütig ist dies gesagt! |97| Nicht sein Märtyrertod ist die große Sache, das wahre Opfer, neben dem das bloße Glauben der Philipper verblasst, sondern umgekehrt: Sein Märtyrerblut ist nur eine Zugabe, ein „Trankopfer“.
Wenn es so ausgehen sollte, dann erschrickt und trauert Paulus nicht. Mit Freude ist er zu diesem Weg bereit. Und zwar jetzt nicht mehr nur, weil er dann „mit Christus zusammen“ ist, was so sehr viel besser wäre, sondern jetzt auch, weil er dem Herrn auf diese Weise eine ganze Gabe, ein volles Opfer darbringen kann. Halten die Philipper das Wort des Lebens fest, stehen sie im ganzen, ungemischten Gehorsam des Glaubens, dann findet das Opfer Jesu, der in Gestalt Gottes wesend doch sich zu nichts machte, Sklavengestalt annahm und gehorsam bis zum Kreuzestode wurde, die dankende, wahre Antwort, zu der Paulus mit seinem Blut das Amen hinzusetzt. Was wäre da irgend zu beklagen und zu betrauern? Da kann Paulus sich nur freuen und mit den Philippern freuen. Darum bittet er auch die Philipper: Wenn die Nachricht seiner Hinrichtung nach Philippi kommt, dann sollen sie nicht verstört und traurig sein, sondern sich mit ihm an diesem vollendeten Opfer freuen, das den Namen Jesu verherrlichen darf.

Wuppertaler Studienbibel

Dadurch, dass Paulus die Liebe, in der die Gemeinde verbunden ist, auf das Werk Jesu gründet, tritt auch ihre Liebe unter die Gehorsamspflicht. Mit ihr erfüllt sie das ihr von Jesus gegebene Gebot und tritt auf seinen Weg. Sie hat aber an Jesus vor Augen, wie tief der Gehorsam beugt und wie hoch er erhebt. Paulus freut sich, dass er die Gemeinde nicht erst jetzt zum Gehorsam zurückrufen muss; sie braucht nur fortzusetzen, was sie bisher getan hat. Weil auch damals, als er bei ihnen war, der Gehorsam der Philipper echt und nicht nur auf seine Anwesenheit berechnet, sondern eine völlige Unterwerfung unter den Willen Gottes gewesen war, hat er auch standgehalten, als Paulus von ihnen schied und sie sich selbst überlassen waren; in seiner Abwesenheit gilt es für sie erst recht, dass jeder Ungehorsam für sie verderblich wäre und nichts als der Gehorsam für sie die Rettung ist. Wäre er bei ihnen, so hülfe er ihnen zurecht, machte ihre Hoffart nüchtern und weckte sie aus ihren selbstsüchtigen Gedanken auf. Dann könnten sie sich an ihn anlehnen und seiner Leitung folgen. Jetzt aber, da sie allein für ihre Gemeinschaft miteinander und für jedes Glied der Gemeinde sorgen müssen, besteht die Hilfe für sie darin, dass sieaufrichtig und ganz gehorsam sind. Dadurch bewirken sie ihre Rettung, ihren Eingang in das ewige Leben, ihren Anteil an alledem, was die ewige Gnade Gottes ihnen schenkt. Sie brächten sich um ihr Heil, wenn sie miteinander zankten, einander bedrückten und entehrten und die Gemeinde zerfallen ließen. Freilich soll jeder auf sich achten und auf das bedacht sein, was ihm selber nötig ist, aber so, dass er sein Heil schaffe; und das tut er nicht, wenn er sich selbst erhöht. An ihr ewiges Ziel sollen die Philipper ihre ganze Sorgfalt wenden. Stolz und Sicherheit haben hier keinen Platz, nur der gesammelte Ernst, der jeden Fehltritt fürchtet. Die Größe des Ziels verlangt von ihnen die Furcht und das Zittern.

Die Philipper müssen ihr Heil wirken und können es nicht in untätiger Ruhe empfangen; es kann nicht nur ein Geschenk für sie sein, obwohl es vollständig Gottes Werk und Gabe ist. Warum das so ist, hat ihnen Paulus soeben am Spender des Heils, am Christus selbst, gezeigt. Seine Erhöhung ist ganz und gar Gottes Werk. Vor dem am Kreuz Gestorbenen werden nur deshalb alle sich beugen, weil Gott ihm den Namen gibt, den alle bekennen. Das wird Jesus nicht wie ein Raub zuteil, sondern deshalb, weil er gehorcht und ganz gehorcht hat. Einen anderen Anteil an der Gnade Gottes kennt Paulus auch für die Christenheit nicht als den, der sie zu Tätern des göttlichen Willens in der Liebe macht. Sie kann aber ihr Heil deshalb wirken, weil Gott in ihr wirkt; sonst würde sie nur Unheil anrichten, sich nur Verderben bereiten; eben deshalb, weil Gott in ihr wirkt, muss sie es mit Furcht und Zittern wirken. Denn da, wo Gott sein Werk tut, hört die stolze Sicherheit auf, und die Lust am Sündigen, der das Böse keine Angst bereitet, muss weichen. Die Gnade ist für uns der stärkste Antrieb zur rechten Furcht; denn wer sie kennt, will sie nicht verlieren; er weiß aber, dass sie durch den Ungehorsam verlorengeht.

Gott bietet uns alles dar, den Willen und das Werk. Wäre seine Gabe unvollständig, so gelangten wir nicht zum Heil. Nur die vollkommene Gnade verschafft uns den Grund, auf dem wir unseren Gehorsam aufbauen können. Vor allem brauchen wir einen solchen Willen, wie Gott ihn uns gibt, der unser sündliches Begehren richtet und zerbricht und das will, was vor Gott gut ist. Wie sollten wir ohne Willen lieben? Wir brauchen aber auch das Werk; denn ein Wille ist nichts, wenn er nichts tut. Ohne die Tat wird aus dem Vorsatz eine Lüge, aus der Neigung eine Tändelei. Aber Gott bereitet alles in uns; er erweckt die Freude an ihm, gibt uns das Auge für ihn und wendet unsere Liebe zu ihm. Ebenso führt er uns in die Arbeit und gibt uns die Werke in die Hand, durch die wir unseren Gehorsam bewähren. So gnädig handelt er an uns, damit geschehe, was ihm wohlgefällt. Er vollführt dadurch seinen eigenen gnädigen Rat.

Wer noch fragte, warum denn durch die Vollständigkeit des göttlichen Wirkens die Furcht nicht ausgeschlossen und die dringende Mahnung: Schafft eure Rettung! noch nötig sei, der vergäße, dass uns Gott einen Willen gibt, nicht nur Zustände, die über uns kommen, oder Eigenschaften, die an uns haften. Uns selbst führt er in seine Gnade ein dadurch, dass er unseren Willen mit dem seinen einstimmig macht. So steht unser Heil in der Tat auf unserem Willen, und die Gefahr kommt an uns heran, dass wir fallen, unseren Willen gegen Gott wenden und den Willen wegwerfen, den er uns gibt; dann bleibt auch das Werk ungetan, das er uns bestimmt hat. Dann verweigern wir dem Willen, den er in uns schafft, den Gehorsam. Weil Gott uns, nicht etwas an uns, sondern uns mit der uns gegebenen Willensmacht in seine Liebe zieht, darum haben wir uns zu fürchten; wir haben sorgsam darauf zu achten, ob wir Gott gehorchen und unseren Willen von ihm empfangen oder eigenwillig sind. Gerade deshalb, weil Gott alles, das Wollen und das Wirken gibt, gibt es nichts, was uns helfen kann, wenn wir uns Gott entziehen.

Schlatter – Erläuterungen zum Neuen Testament

Wie viel Unheil gestiftet werden kann, wenn Bibelverse für sich allein, aus dem Zusammenhang gerissen, gelesen werden, lässt sich an Vers 12 erahnen. Wie viele seelsorgerliche Nöte sind entstanden, weil einer dieses Wort: »Schaffet euer Heil mit Furcht und Zittern« gelesen hat, ohne auf den Zusammenhang zu achten. Vers 12 kann nicht ohne Vers 13 gelesen werden! Sonst muss ein verzerrtes Bild entstehen, aus dem die Werkgerechtigkeit folgt. Dieser zwölfte Vers sollte aber ebenfalls nicht ohne den fünften Vers gelesen werden. Der Eindruck, den moderne Übersetzungen vermitteln, dass Paulus hier mit einem neuen Einsatz beginnt, trügt. Das »Damit« am Anfang des Verses weist zurück auf die Aufforderung in Vers 5: »Ein jeglicher sei gesinnt wie Jesus Christus auch war. Dass diese Gesinnung sehr stark mit dem Gehorsam zusammenhängt, wurde aus den Versen 6-11 deutlich. Daran knüpft die Rede vom »Gehorchen« hier an. Paulus ruft die Gemeinde in Philippi weiterhin zum Gehorsam auf. Dabei geht es nicht um etwas Neues. Die Gemeinde hat ihren Gehorsam gezeigt, noch als Paulus bei ihnen war, aber auch zu allen anderen Zeiten. Hier geht es um den Gehorsam im Blick auf die Lösung des besonderen Problems in Philippi.

Die Gemeindeglieder sollen gerade in ihren Streitigkeiten den Sinn Christi sich zu eigen machen. Setzen sie ihre eigenen Interessen über die Interessen der Gemeinde – und das bedeutet über die Interessen Christi – dann haben sie den Heilsweg verfehlt und befinden sich nicht mehr in der Nachfolge. Die Aufforderung, ihr eigenes Heil zu schaffen, ist bedeutungsgleich mit der Aufforderung, gehorsam zu sein. Der Gehorsam soll ja nicht Paulus zuliebe geschehen. Vielmehr wirkt Gott in uns so, dass wir auf sein Wort hören und gehorsam das tun bzw. lassen, was seinem Willen entspricht. Das Heil wird keineswegs verdient. Dieser Gedanke ist nirgends in diesen Versen zu finden. Aber ebenso wenig wie das Heil verdient wird, wird es außerhalb der Nachfolge und des Gehorsams empfangen. Das Heil ist und bleibt Geschenk. Wie aber alle Geschenke, so will auch das Geschenk der Gnade angenommen werden. Die Begriffe »Gehorsam« und »Gnade« schließen sich gegenseitig nicht aus. Vielmehr stehen sie in einer engen Beziehung zueinander. Wo kein Gehorsam ist, ist Gnade notwendig, aber wo Gnade angenommen wird, wird Gehorsam folgen.

Auch im Deutschen können wir den Gehorsam umschreiben mit der Wendung »hören auf etwas«. Dies ist die Grundbedeutung des griechischen Wortes. Es ist ein Grundsatz der frohen Botschaft, dass sie uns aus Gnaden frei verkündigt wird. Doch wie Römer 10,13ff. zeigt, kommt es darauf an, dass diese Botschaft gehört und angenommen wird. Gehorsam ist die Annahme der Botschaft. Wir könnten auch sagen, dass Gehorsam die Antwort auf die Verkündigung der frohen Botschaft ist.

Wir erleben eine zunehmende Abneigung gegenüber dem Begriff Gehorsam. Unsere Ideale, wie Freiheit und Selbstentfaltung, finden darin keinen Platz.

»Gehorsam« in der Sprache der Bibel setzt aber menschliche Freiheit voraus. Gehorsam ist die freie Antwort auf das Wort Gottes. Es geht hier um eine Beziehung in beide Richtungen: Gott Mensch, Mensch – Gott. Von daher wird auch deutlich, dass »Gehorsam« mit der Redewendung in unserem Vers »euer eigenes Heil schaffet« zu tun hat. »Heil- (griech. soterlia) als Rettung vor dem Verderben ist nicht ohne die Verbindung zu Gott denkbar. Kamen das Verderben und der Tod als Ergebnis der Trennung von Gott, so ist die Rettung, das Heil nur als Ergebnis der Wiederherstellung der Verbindung zu Gott zu verstehen. Diese Verbindung ist aber gekennzeichnet von der Wechselwirkung zwischen Wort und Antwort. Diese Antwort ist jedoch nicht nur ein Geschehen in Worten, sondern Ausdruck unseres ganzen Lebens. Gehorsam ist ein »auf den Ruf Gottes Hören« mit all dem, was wir tun. Dies hat also nichts mehr mit dem Selbstbehauptungstrieb zu tun, sondern bedeutet ein Leben in der Hingabe und in der Nachfolge. Der Zeitgeist unserer Tage kann nichts mit dem Gedanken des Gehorsams anfangen, weil ihm die Beziehung zwischen Gott und Mensch fehlt.

Dreierlei muss noch zu der Wendung: »Schaffet mit Furcht und Zittern euer eigenes Heil« gesagt werden. Zum ersten gibt »schaffet« das zugrundeliegende griechische katergazesthe nur ungenügend wieder. Das liegt an der vielschillernden Bedeutungsskala des deutschen Wortes. »Schaffen« kann sowohl die schöpferische Tätigkeit des Schaffens aus dem Nichts, als auch etwa die Durchführung einer Tätigkeit bedeuten. Nur Letzteres ist mit dem griechischen Wort ausgesagt. Es geht hier keineswegs um eine Urhebertätigkeit. Es geht nicht um das Bewirken des Heils, sondern um seine Ausarbeitung. Es geht nicht um die Voraussetzung, sondern um Konsequenzen. Unser seelsorgerliches Dilemma wird hier ganz ernstgenommen. Gott weiß wohl, dass wir als eine Form der Versuchung streckenweise den Glauben und das Glaubensleben als eigene Leistung empfinden. Er teilt uns aber mit, dass dieses unser persönliches Empfinden nicht das Maßgebliche ist, sondern dass er derjenige ist, der auch in der Versuchung uns beisteht und uns die Kraft zum Glauben gibt. Die Gemeinde in Philippi wird aufgerufen, die von Gott gegebenen Zusagen (s. V. 1-4) in ihrem Leben zur Entfaltung kommen zu lassen (V. 13).

Das in Vers 13 zweimal verwendete Wort energein hat nun die oben zuerst genannte Bedeutung von »schaffen«. Gott allein ist der Urheber des Heils. Aber doch nimmt er uns als seine Geschöpfe und freiheitliche Wesen ernst. Wir sind für ihn keine unpersönliche Modelliermasse, die sich passiv gestalten ließe, sondern er sehnt sich danach, dass wir aus freien Stücken unsere Liebe hin erweisen, gerade auch Gehorsam. Dass diese Liebe, die wir zu ihm erweisen, nur aus der von ihm her kommenden Liebe entspringen kann, ist eine Erkenntnis, die dem Glaubenden vorbehalten bleibt.

In diesen Zusammenhang gehört dies als zweites: Oftmals wird »Mit Furcht und Zittern« im Sinne einer falschen Gesetzlichkeit verstanden. Sowenig die »Ausarbeitung unseres Heils« die Ursache unserer Rettung ist, so verkehrt wäre es, diese Wendung in jenem Sinne auszulegen. Durch eigenes Schaffen wird keiner das Heil erlangen, auch derjenige nicht, der bangt und sich ängstigt, der aus Angst vor dem Verlorengehen in eine verzweifelte Werkgerechtigkeit abgleitet. Ebenso falsch wäre es, die Wendung »mit Furcht und Zittern« in ihrem Gewicht abmindern zu wollen, indem man darauf hinweist, dass es sich hier um eine stehende Redewendung handelt. Zwar verwendet Paulus diese schon aus dem AT bekannte Wendung mehrmals (1Kor 2,3; 2Kor 7,15; Eph 6,5), aber nie in einer abgegriffenen Bedeutung. Gerade die Zusammenstellung der beiden Begriffe »Furcht« und »Zittern« soll ja die schwerwiegende Bedeutung der Sache, um die es geht, zum Ausdruck bringen. Dies ist es, woran wir uns schwertun. Es erscheint uns anstößig, unsere Beziehung zu Gott und unser ethisches Leben von der Furcht kennzeichnen zu lassen. Wir denken zu Recht an Stellen wie Römer 8,15 oder 1Johhannes 4,18, wo uns die Überwindung der Furcht in Jesus Christus zugesprochen wird. Auch in Phil 1,14 war schon die Rede von der Überwindung der Furcht. Das ist auch der Grundzug des Evangeliums, der frohen Botschaft: Den Jüngern Jesu ist der Grund zum Fürchten weggenommen: Das bedeutet, dass sie nicht mit der unbegründeten Furcht, mit der Angst, leben müssen. Die moderne Psychologie hat uns den Unterschied zwischen Furcht und Angst aufgezeigt. Furcht richtet sich gegen etwas Bestimmtes. Angst dagegen hat kein klares Gegenüber. Sie ist ein beengendes und beklemmendes Gefühl, das zwar eine Gefahr wahrzunehmen meint, diese Gefahr aber nicht näher bestimmen kann. Angst brauchen wir als Christen nicht zu haben. Wir dürfen uns geborgen wissen in Gottes Hand.

Und dennoch sollten wir nicht »furchtlos« sein. Die Bibel als Ganzes und auch das NT im besonderen sprechen einhellig von der Wirklichkeit der Furcht bei solchen Menschen, die Gott begegnet sind (z. B. Lk 5,8-10). Die Bibel weiß in vielfältiger Weise davon zu berichten, dass die Begegnung mit Gott die Heiligkeit und Mächtigkeit Gottes dem Menschen so konkret werden lassen, dass der Mensch davor fast vergeht. Ist es möglich, dass uns die Gottesfurcht deswegen nicht mehr bekannt ist, weil unsere Beziehung zu Gott abgeflacht ist und wir ihm nicht in seiner Heiligkeit und Größe begegnen? Können wir das mitempfinden, was in Hebräer 10,31 steht: »Schrecklich (furchtbar) ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen?« Oder haben wir uns an einen kameradschaftlichen Umgang mit dem allmächtigen Schöpfer und Erhalter gewöhnt? Die Erfahrung des Göttlichen muss ein Schaudern nach sich ziehen. Das spricht aber keineswegs gegen die Erfahrung der göttlichen Liebe. Im Gegenteil: Je mehr uns die Größe und Herrlichkeit Gottes bewusst wird, desto tiefer wird unser Empfinden seiner Liebe sein. Gott ist für den Menschen unserer Tage allzu oft der »liebe Gott«. Er wird verharmlost. Bibelworte wie Philipper 2,12 machen aber deutlich, dass die Erfahrung der Liebe und Gnade Gottes die Gottesfurcht, die Ehrfurcht vor Gott, zur Folge haben muss. Dies ist auch das Entscheidende, denn die Furcht ist für Christen als Ehrfurcht allein Gott vorbehalten. Philipper 1,28 hat gezeigt, dass wir unseren Feinden furchtlos gegenüberstehen sollten. Als Jünger Jesu und Kinder Gottes brauchen wir keine Angst zu haben, auch keine Furcht vor irgendwelchen Dingen oder Personen. Je mehr wir aber in der Erkenntnis Gottes wachsen, desto mehr werden wir davon überwältigt und auch erschüttert werden. Die Gottesfurcht ist als Ehrfurcht weit mehr als das heutige Ideal des Respekts.

Das Dritte zu o. g. Wendung betrifft die Worte »euer eigenes Heil«. Das Griechische hat verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis des Besitzes zum Ausdruck zu bringen. Die hier gewählte Form ist die stärkste. Paulus macht deutlich, dass jeder Einzelne der Philipper zunächst einmal eine Verantwortung für sein eigenes Glaubensleben und für seine eigene Beziehung zu Gott trägt. Die in Philippi laufenden Streitigkeiten übersahen womöglich diese Tatsache völlig. Auch in diesem Fall ist der Zusammenhang und die Situation in Philippi maßgebend. Es ist eindeutig eine Warnung an Christen, die sich weniger um ihre eigenen Glaubensangelegenheiten kümmern als um die ihrer Mitchristen. In ihrem Eifer wollen sie andere dazu zwingen, sich zu ändern. Der 13. Vers macht es deutlich, dass dies ein sinnloses Unterfangen ist.

Vers 13 begründet die vorausgehende Ermahnung. Wir lesen diesen Vers sicherlich falsch, wenn wir ihn als Gegensatz zur eben gemachten Aussage verstehen. Die streitenden Christen sollen verstehen, dass sie den anderen nicht ändern können. Diese Arbeit bleibt dem Heiligen Geist vorbehalten: »Gott ist es nämlich, der in euch vollbringt, sowohl das Wollen als auch das Vollbringen zu (seinem) Wohlgefallen.« Zu Recht fühlen wir uns in der Zwiespältigkeit unseres Herzens angesprochen. Wir merken, wie schwer das Glaubensleben sein kann und wie oft wir versagen, weil wir selbst die Kraft nicht haben. Und doch erkennen wir immer wieder im Nachhinein, wie Gott es gerade war, der uns durchgeführt hat. Dennoch gilt diese Aussage – vor allem bezogen auf die Art und Weise des Umgangs miteinander in der Gemeinde. Was für mich gilt, gilt auch für meinen Bruder. In seinem Leben ist es mit dieser Zwiespältigkeit kein bisschen anders.

Zwar kann ich ihm beistehen; vielleicht wird es mir auch vergönnt sein, ihm eine Hilfe zu sein, aber auch das nur unter der Voraussetzung, dass Gott es ist, der durch mich wirkt. Die Philipper – ihnen wir alle – sollten Vertrauen und Gelassenheit im Blick auf den Nächsten lernen. Gott ist auch am Wirken im Leben unserer Brüder und Schwestern. So sehr wir sie ernstnehmen sollen und zur gegebenen Zeit auch ermahnen und trösten, dürfen wir getrost sein in dem Wissen, dass Gott, »der in uns das gute Werk angefangen hat, es auch vollführen wird bis an den Tag Christi Jesu« (Phil 1,6). Gott allein ist Urheber und Vollender des Heils. Diese Aussage des ersten Kapitels wird hier bestätigt und entfaltet mit dem Begriff, der hinter der notdürftigen Übersetzung »vollbringen« (griech. energein) steht. Dieser Begriff meint »Aktivität« als Gegensatz zur Passivität. Als Christen sind wir nicht passiv. Der so weit verbreitete Schicksalsglaube lähmt und hat nichts mit dem Wirken Gottes in einem Menschenleben zu tun. Als Christen sollen wir aktive Menschen sein. Nur muss uns bewusst sein, dass Gott es ist, der in uns diese Aktivität ermöglicht und auch bewirkt.

Ganz entscheidend ist der Zusammenhang zwischen dem »Wollen« und dem »Vollbringen«. Unser menschliches Elend hängt oft am Auseinanderklaffen von Willen und Tun (vgl. Röm 7,14-25). Unser menschlicher (angebotenen und anerzogener) Wille wird nicht gänzlich durch den göttlichen Willen ersetzt. Es wird unsere lebenslange Aufgabe sein, das Gebet: »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe« zu lernen und täglich zu beten. Das ist auch mit der Aufforderung gemeint, unser Kreuz täglich auf uns zu nehmen, unseren eigenen Willen, den alten Menschen, täglich Gott aufs neue zu übergeben, ihm unser Leben samt Wille und Tat zu übereignen. So bringt die Faust’sche Formel: »Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust« die Erfahrung eines jeden Christen zum Ausdruck. Gott schenkt uns das neue Wollen, das das Vollbringen ermöglicht und als Konsequenz nach sich zieht. Gleichzeitig muss aber unser eigener Wille, der von unserer Selbstsucht geprägt ist, überwunden werden.

Die Rolle unseres Willens im Glaubensleben sollte nicht unterschätzt werden. Auf die Tat allein kommt es nämlich nicht an. Das wird z. B. in 1Korinther 13 deutlich, oder auch in 2Korinther 8,10: »… das ist euch nützlich, die ihr seit vorigem Jahr angefangen habt, nicht allein mit dem Tun, sondern auch mit dem Wollen.« Im »Kollektenteil« des zweiten Korintherbriefes wird bestätigt, dass Gott nicht einfach den Geber liebt, sondern den fröhlichen Geber. Mein Wille muss hinter meiner Tat stehen. Wenn ich etwas widerwillig für Jesus tue, dann hat es keinen Wert. Auch wir Christen dürfen nicht in einen falschen Pragmatismus abgleiten. Das Zeichen des Neuen Bundes ist das neue Herz (Jer 24,7; 31,31-33; Hes 11,19ff.; Hes 36,26ff.). Hier ist das Herz als Sitz des Willens angesprochen. Unser Herz soll Jesus gehören, und der Wille soll seinem Willen entsprechen. Gott ist immer am Werk in unserem Leben, wenn wir tätig werden: Er ist es aber auch, der die Motivation dazu gibt.

Gerhardt Maier – Edition C

Hier heute also ein wichtiger Vers – den man UNBEDINGT im Zusammenhang lesen muss, und NICHT aus dem Zusammenhang reißen darf. Leider eine Angewohnheit bei manchen Bibelausrisslesern – aber so darf man halt kein Buch lesen 😉