Das Blut von Stieren und Ziegenböcken kann unmöglich Sünden wegnehmen

Aber in jenen Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden; denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen.
Elberfelder 1871 – Hebräer 10,3–4

Aber gerade wird durch jene Opfer das Andenken an die Sünde jährlich erneuert; denn unmöglich kann Blut von Stieren und Widdern Sünden tilgen.
van Ess 1858 – Hebräer 10:3–4

Dabei ist es vollkommen unmöglich, daß wir durch das Blut von Stieren und Böcken von unserer Schuld befreit werden können.
Hoffnung für alle – 1996 – Hebr 10,4

Es ist nämlich völlig unmöglich, dass das Blut von Stieren oder Schafsböcken die Schuld der Menschen fortnehmen kann.
Roland Werner – Das Buch – Hebr 10:4

Dass die Gnade des Herrn der eigentliche Grund für die Vergebung der Sünde ist, wird auch in der theologischen Erklärung zum Yom Kippur (3Mo. 16,29–34) betont. Dort wird angeordnet, dass die Israeliten an diesem Tag nicht zum Heiligtum kommen sollen, um selbst ein Opfer darzubringen. Sie sollen sich vielmehr zu Hause vor dem Herrn demütigen, denn an diesem Tag werde der Hohepriester für sie Sühnung erwirken, um sie von allen ihren Sünden vor dem Herrn zu reinigen. Damit ist ausgedrückt, dass der Herr die Sünde nicht aufgrund der Opfer selbst vergibt, sondern allein aufgrund seiner Gnade, die er dem Schuldigen, der sich vor dem Herrn demütigt, zuteil werden lässt. Es gilt also sowohl, dass das Blut von Böcken und Stieren keine Sünden wegnehmen kann (Hebr. 10,4), als auch, dass ohne Blutvergießen keine Vergebung möglich ist (Hebr. 9,22). Die erwirkte Vergebung am Yom Kippur ist also nicht effektiv, sondern forensisch; die bestehende Sünde wird vom Herrn nicht mehr angerechnet. Vergeben wird die Sünde erst durch das Blut und Leben eines vollkommenen und wertvolleren Opfers—durch das Blut des Gottessohnes und Menschen Jesus Christus (Hebr. 9,11–14), der sein Leben für seine Nachfolger geopfert hat. Die im zukünftigen Reich Gottes darzubringenden eschatologischen Opfer blicken dann auf den Opfertod Jesu zurück und bringen zum Ausdruck, dass sich der Opfernde unter die geschehene Vergebung stellt und diese dankbar annimmt. Auch diese Opfer haben also lediglich eine forensische Bedeutung.
Aus diesen Überlegungen können drei Folgerungen gezogen werden:

Wenn die Opfer selbst keine sündenvergebende Wirkung haben, sondern nur an die Sünde erinnern, die Notwendigkeit der Vergebung verdeutlichen und aufgrund von Gottes Gnade als stellvertretendes Opfer von Gott anstelle des Schuldigen angenommen werden, sind sie nicht zwingend für einen angemessenen Gottesdienst notwendig. Diese Schlussfolgerung bestätigt sich auch bei einem weiteren Blick in das Alte Testament. Denn insbesondere die Propheten thematisieren mehrfach den nichtigen Gottesdienst in Israel. Doch auch schon vor den Propheten finden sich entsprechende Ansätze: So muss sich beispielsweise Saul von Samuel belehren lassen, dass Gehorsam besser ist als Opfer (1Sam. 15,22; vgl. Ps. 40,7); und Salomo erkennt, dass Gerechtigkeit und Recht zu üben dem Herrn lieber ist als Opfer darzubringen (Spr. 21,3). Bei den Propheten äußert sich die Kritik dann folgendermaßen: Jesaja rügt einen äußerlichen Opferdienst bei einer gleichzeitigen falschen Herzenshaltung (Jes. 1,10–17; vgl. auch Am. 5,21–27) und bestätigt im Gegenzug Gottes Vergebung ohne Opfer (Jes. 43,22–25); Jeremia verwirft Opfer als Ersatz für Gehorsam (Jer. 7,21–23); Hosea erinnert daran, dass der Herr an Güte und Erkenntnis mehr Gefallen hat als an Opfern (Hos. 6,6); und Micha mahnt an, dem Herrn nachzufolgen anstatt unzählige Opfer darzubringen (Mi. 6,6–8).

Da dem Herrn mit dem Blut des Opfertieres sein Leben geopfert wird, dieses Leben jedoch die Sünden nicht effektiv wegnehmen kann, muss es ein weiteres blutiges Opfer geben, das dem Leben eines Menschen tatsächlich entspricht. Nur so kann die Sünde tatsächlich weggenommen werden. Damit der Mensch also wirkliche Vergebung erfahren kann, muss ein Mensch geopfert werden. Wie jedoch bereits angedeutet, wäre bei einem Menschenopfer der geopferte Mensch von der Vergebung ausgenommen. Diese Option scheidet damit so lange als umfassende Lösung aus, solange der geopferte Mensch selbst sündigt und Sünde auf sich geladen hat. Zudem wäre ja jeder sündige Mensch aufgrund seiner eigenen Sünde unfähig, alle Sünden auf sich zu nehmen (Hebr. 5,1–3). Stattdessen ist es nötig, dass Gott selbst ein sündloser Mensch wird und sich selbst für die Menschen opfert, um eine umfassende Vergebung für ihre Sünden zu erwirken (Hebr. 4,15; 5,5–10).

Die Notwendigkeit des symbolischen Opferns zur Vergebung der Sünden verlangt ein symbolisches blutiges Opfer, das allerdings tatsächlich und effektiv die Sünden wegnehmen kann. Es muss also ein Opfer dargebracht werden, das vor dem Herrn ausreicht und die Beziehung zu Gott tatsächlich frei macht (Hebr. 9,13–14).

Edition C Bibelkommentar Altes Testament – Opfer im Alten Vorderen Orient und im Alten Testament

    Von »dem Blut von Stieren und Böcken« war schon die Rede (vgl. Heb 9,12.19) sowie von dessen Unvermögen, »Sünden wegzunehmen« (vgl. Heb 9,9.13). Das Opferblut hatte höchstens einen prophetischen Zweck. Die Tieropfer hatten nur insofern einen Wert, als sie die Aufmerksamkeit der Israeliten auf den kommenden Erlöser und die verheißene Erlösung richteten. Nur ein Einziger vermag die Sünde wegzunehmen, nämlich Jesus Christus. Denn er hat ein für alle Mal die Macht der Sünde beseitigt, indem er den Schuldbrief an das Kreuz geheftet hat (vgl. Kol 2,14).

    Gerhard Maier – Edition C

    Was leistete nun das Opfersystem? Nach Vers 3 wurde das Opfersystem fortgesetzt, nur um eine Notwendigkeit zu verdeutlichen. In jenen Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden. Deshalb konnten die Menschen nie mit einem reinen Gewissen von dort weggehen. Das Opfersystem erinnerte sie nicht nur an die Sünde, sondern es rief auch einzelne Sünden im Sinne von Schuld ins Gedächtnis. Nach dem Opfer an Yom Kippur wurden sie beim Weggehen durch ihr Gewissen daran erinnert, dass ihre Sünden nur bedeckt, aber nicht entfernt worden sind. Unter dem Alten Bund wurden Sünden lediglich zugedeckt, und deshalb erinnerte man sich an die Sünden. Man wusste, dass das gesamte Ritual ein Jahr später wiederholt werden muss. Aber unter dem Neuen Bund sagte Gott, dass er ihrer Sünden nie mehr gedenken werde, wie in 8,12 gesagt wird.

    In Vers 4 steht der Grund dafür, warum das Gesetz ein Erfordernis darlegt, dem es nie gerecht werden konnte: Denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden wegnehmen. Alttestamentliche Opfer nahmen niemals Sünde weg. Als Jesus starb, ist er deshalb sowohl für die alttestamentlichen als auch für die neutestamentlichen Heiligen gestorben. Tierblut reicht nicht, um Sünden wegzunehmen. Dies war und ist unmöglich. Die Sünden der alttestamentlichen Heiligen wurden nur bedeckt. Kafar ist das gebräuchliche Wort für Bedeckung. Dasselbe Wort wird benutzt, als dem Noah befohlen wurde, seine Arche zu bauen. Ihm wurde gesagt, er solle die Arche mit Pech bedecken (verpichen). Das Tierblutopfer schaffte die Sünden nicht weg. Es bedeckte sie nur. Das Bild meint hier, dass die Sünde aus Gottes Blickfeld verschwand, sodass er dem alttestamentlichen Heiligen vergeben konnte. Aber sie wurde nicht entfernt.

    Arnold Fruchtenbaum – Der Hebräerbrief

    Hier liegt eine heilige Entschiedenheit in der Art und Weise vor, wie der Schreiber jetzt die tierischen Opfer der alten levitischen Ordnung beiseite läßt. Mit einer gewissen Prägnanz, Deutlichkeit und Bestimmtheit erklärt er, daß das Blut von Stieren und Böcken unmöglich Sünden hinwegnehmen kann. Zwar traf es zu, daß jene Opfer von Gott verfügt sowie angeordnet waren und Sühne für den Sünder erwirkten, doch sie konnten die traurige Tatsache der Sünde und des Sündenlebens nicht beseitigen. Sie bedeckten die Sünden (wobei an Golgatha gedacht war), doch während die Menschen weiterhin sündigten, bestanden auch die Opfer fort. Das Blut von Stieren und Böcken hatte keine Macht oder Kraft, Sünde zu beseitigen. Wie glückselig wäre es gewesen, wenn sowohl Sünde als auch das Verlangen danach aus dem menschlichen Herzen und Leben hätte entfernt werden können! Wie glückselig war der Mensch, der völlig und zu jeder Zeit im Willen Gottes leben kann, indem er überhaupt nicht sündigt! Doch im Blut von Stieren und Böcken lag keine solche Kraft, die einen solch glückseligen Zustand wie diesen hätte herbeiführen können. Es gab Begrenzungen, und manches war nicht möglich. Die tierischen Opfer wurden zu einem bestimmten Zweck angeordnet, und die Menschen waren verpflichtet zu opfern, wenn sie gesündigt hatten, doch das Blut, das sie vergossen, konnte niemals Sünden hinwegnehmen oder einen Menschen hervorbringen, der nicht sündigen würde. Sünden und sündiges Verhalten blieben gleichzeitig mit dem Darbringen dieser unzähligen Opfer bestehen, bis derjenige kommen würde, dessen heiliges Dasein und Lebensziel einzigartig war und sich bei der Ausführung des Willens Gottes zum Wohlgefallen Gottes vom Leben aller anderen unterschied.

    Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt