Autor: Thomas

14.Nisan – The End ??

(Matthäus 27:1, 2, 11-14; Markus 15:1-5; Lukas 23:1-5; Johannes 18:28-38; Lukas 23:6-12; Matthäus 27:3-10; Matthäus 27:15-18; Markus 15:6-10; Lukas 23:13-17; Johannes 18:39, 40; Matthäus 27:19; Matthäus 27:20-31 Markus 15,6-10; Lukas 23,13-17; Johannes 18,39.40; Matthäus 27,19; Matthäus 27,20-31; Markus 15,11-20; Lukas 23,18-25; Johannes 19,1-16).

DAS fahle graue Licht war in das des frühen Morgens übergegangen, als sich die Sanhedristen erneut im Palast des Kaiphas versammelten. Ein Vergleich mit der Beschreibung derjenigen, die in der vorangegangenen Nacht zusammengekommen waren, vermittelt den Eindruck, dass die Zahl der Anwesenden jetzt größer war und dass die, die jetzt kamen, zu den weisesten und einflussreichsten Mitgliedern des Rates gehörten. Es ist nicht unvernünftig anzunehmen, dass einige, die nicht an Beratungen teilnahmen, die praktisch einen Justizmord darstellten, sich, sobald der Beschluss gefasst war, in jüdischer Kasuistik von der Schuld freigesprochen fühlten, indem sie berieten, wie das informelle Urteil am besten in die Tat umgesetzt werden könnte. Dies und nicht die Frage nach der Schuld Christi war der Gegenstand der Beratungen an jenem frühen Morgen. Das Ergebnis war, Jesus zu „binden“ und ihn als Übeltäter an Pilatus zu übergeben, mit dem Entschluss, möglichst keine konkrete Anklage zu formulieren; a aber, falls dies notwendig werden sollte, den ganzen Nachdruck auf den rein politischen, nicht den religiösen Aspekt der Ansprüche Jesu zu legen.

Uns mag es seltsam erscheinen, dass sie, die, wenn man es genau nimmt, so grob unrechtmäßig gehandelt hatten und nun zu einer so grausamen und blutigen Tat schritten, durch religiöse Skrupel daran gehindert wurden, das „Prætorium“ zu betreten. Und doch wird der Student der jüdischen Kasuistik es verstehen; nein, ach, die Geschichte und sogar die gewöhnliche Beobachtung liefern nur zu viele parallele Beispiele von skrupelloser Skrupellosigkeit und ungerechter Gewissenhaftigkeit. Gewissen und Religiosität sind nur moralische Tendenzen, die dem Menschen natürlich sind; wohin sie tendieren, muss durch Erwägungen entschieden werden, die außerhalb von ihnen liegen: durch Aufklärung und Wahrheit. Das „Prätorium“, in das die jüdischen Führer, oder zumindest diejenigen von ihnen, die die Führer vertraten – weder Hannas noch Kaiphas scheinen persönlich anwesend gewesen zu sein -, den gefesselten Christus brachten, war (wie immer in den Provinzen) das Quartier des römischen Statthalters. In Cäsarea war dies der Palast des Herodes, und dort wurde Paulus später gefangen gehalten. In Jerusalem aber gab es zwei solche Quartiere: die Festung Antonia und den prächtigen Palast des Herodes am nordwestlichen Ende der Oberstadt. Obwohl es unmöglich ist, mit Gewissheit zu sprechen, spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Pilatus, als er mit seiner Frau in Jerusalem war, die wahrhaft königliche Residenz des Herodes bewohnte und nicht die befestigten Kasernen der Antonia. Vom östlichen Abhang gegenüber dem Tempelberg, wo der Palast des Kaiphas stand, schlängelte sich die melancholische Prozession durch die engen Gassen der Oberstadt bis zu den Portalen des großen Palastes des Herodes. Es ist überliefert, dass die, die ihn brachten, selbst nicht die Pforte des Palastes betreten wollten, „damit sie nicht verunreinigt würden, sondern das Passah essen könnten“.

Wenige Ausdrücke haben zu ernsthafteren Kontroversen Anlass gegeben als dieser. Zumindest über zwei Dinge können wir mit Gewissheit sprechen. Der Eintritt in ein heidnisches Haus machte levitisch gesehen für diesen Tag unrein – das heißt, bis zum Abend. Die Tatsache einer solchen Verunreinigung ist sowohl im Neuen Testament als auch in der Mischna eindeutig bezeugt, auch wenn die Gründe dafür unterschiedlich sein mögen. Eine Person, die auf diese Weise levitisch unrein geworden war, wurde technisch gesehen Tebhul Yom („gebadet am Tag“) genannt. Der andere Punkt ist, dass eine Person, die auf diese Weise für den Tag „unrein“ geworden war, sich nicht für das Essen des Osterlammes disqualifiziert hätte, da dieses Mahl nach dem Abend eingenommen wurde und ein neuer Tag begonnen hatte. Es ist sogar eindeutig festgelegt, dass der „Gebadete des Tages“, d. h. derjenige, der für den Tag unrein war und am Abend gebadet hatte, am Ostermahl teilnahm, und es wird ein Beispiel berichtet, in dem einige Soldaten, die die Tore Jerusalems bewachten, „untertauchten“ und das Osterlamm aßen. Daraus folgt, dass diese Sanhedristen den Palast des Pilatus nicht hätten betreten können, weil sie dadurch für das Ostermahl disqualifiziert worden wären.

Dieser Punkt ist von Bedeutung, weil viele Autoren den Ausdruck „Passah“ so interpretiert haben, dass er sich auf das Ostermahl bezieht, und argumentiert haben, dass unser Herr nach dem Vierten Evangelium am Vorabend nicht am Osterlamm teilgenommen hat oder dass der Bericht des Vierten Evangeliums in dieser Hinsicht nicht mit dem der Synoptiker übereinstimmt. Da es aber aus dem eben genannten Grund unmöglich ist, den Ausdruck „Passah“ auf das Ostermahl zu beziehen, bleibt nur zu fragen, ob der Begriff nicht auch auf andere Opfergaben angewandt wird. Und hier zeigen sowohl die alttestamentlichen als auch die jüdischen Schriften1 , dass der Begriff Pesach oder „Passah“ nicht nur auf das Osterlamm, sondern auf alle Passahopfer angewandt wurde, insbesondere auf das, was Chagigah oder Festopfer genannt wurde (von Chag. oder Chagag, das festliche Opfer bringen, das bei jedem der drei großen Feste üblich ist)‘. Nach der ausdrücklichen Regel (Chag. 1. 3) wurde die Chagigah am ersten Osterfest gebracht. Sie wurde unmittelbar nach dem Morgengottesdienst dargebracht und an diesem Tag gegessen – wahrscheinlich einige Zeit vor dem Abend, als, wie wir nach und nach sehen werden, eine andere Zeremonie die öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchte. Wir können daher durchaus verstehen, dass die Sanhedristen nicht am Vorabend des Passahfestes, sondern am ersten Ostertag eine Verunreinigung vermeiden wollten, die, da sie bis zum Abend andauerte, sie nicht nur in die Unannehmlichkeiten der levitischen Verunreinigung am ersten Festtag verwickelt hätte, sondern sie sogar daran gehindert hätte, an diesem Tag das Passah, das Festopfer oder die Chagigah darzubringen. Denn wir haben diese beiden ausdrücklichen Regeln: dass eine Person in levitischer Verunreinigung die Chagigah nicht darbringen konnte; und dass die Chagigah nicht für eine Person von jemand anderem dargebracht werden konnte, der ihren Platz einnahm (Jer. Chag. 76 a, Zeilen 16 bis 14 von unten). Diese Überlegungen und Kanones scheinen entscheidend für die oben dargelegten Ansichten zu sein. Es hätte keinen Grund gegeben, am Morgen des Osteropfers eine „Verunreinigung“ zu befürchten; aber das Betreten des Prätoriums am Morgen des ersten Pessachtages hätte es ihnen unmöglich gemacht, die Chagigah darzubringen, die auch mit dem Begriff Pessach bezeichnet wird.

Es mag gegen sieben Uhr morgens gewesen sein, wahrscheinlich sogar noch früher,als Pilatus zu denen ging, die ihn gerufen hatten, um Recht zu sprechen. Die Frage, die er an sie richtete, scheint sie aufgeschreckt und verunsichert zu haben. Ihr Verfahren war privat gewesen; es gehörte zum Wesen des römischen Rechts, dass es öffentlich war. Auch das Verfahren vor den Sanhedristen hatte die Form einer strafrechtlichen Untersuchung, während es zum Wesen des römischen Verfahrens gehörte, nur auf konkrete Anschuldigungen einzugehen. Dementsprechend lautete die erste Frage des Pilatus, welche Anklage sie gegen Jesus erhoben hätten. Die Frage kam umso unerwarteter, als Pilatus am Vorabend seine Zustimmung zum Einsatz der römischen Wache gegeben haben musste, die die Verhaftung Jesu bewirkte. Ihre Antwort zeugt von Demütigung, schlechter Laune und einem Versuch der Ausflucht. Wäre er nicht „ein Übeltäter“ gewesen, hätten sie ihn nicht „ausgeliefert „! Bei dieser vagen Anschuldigung weigerte sich Pilatus, bei dem wir durchweg eine merkwürdige Zurückhaltung feststellen – vielleicht aus Unwillen, den Juden zu gefallen, vielleicht aus dem Wunsch heraus, ihre Gefühle im zartesten Punkt zu verletzen, vielleicht weil er von einer höheren Hand zurückgehalten wurde -, weiterzumachen. Er schlug vor, dass die Sanhedristen Jesus nach dem jüdischen Gesetz verurteilen sollten. Das ist ein weiteres wichtiges Merkmal, denn es deutet darauf hin, dass Pilatus zuvor sowohl von den besonderen Ansprüchen Jesu wusste als auch davon, dass das Vorgehen der jüdischen Behörden von „Neid“ bestimmt war. a Aber unter normalen Umständen hätte Pilatus nicht gewollt, dass eine Person, die einer so schwerwiegenden Beschuldigung wie der, messianische Ansprüche zu erheben, angeklagt ist, den jüdischen Behörden übergeben wird, damit diese den Fall als rein religiöse Frage behandeln. In Verbindung mit der anderen, scheinbar damit unvereinbaren Tatsache, dass der Statthalter am Vorabend eine römische Wache für die Verhaftung des Gefangenen bestellt hatte, und mit dieser anderen Tatsache des Traums und der Warnung der Frau des Pilatus, entsteht ein eigenartiger Eindruck auf uns. Wir können das alles verstehen, wenn Pilatus am Abend zuvor, nachdem die römische Wache bewilligt worden war, mit seiner Frau darüber gesprochen hat, sei es, weil er sie kannte, sei es, weil sie an der Sache interessiert sein könnte. Die Überlieferung hat ihr den Namen Procula gegeben; ein apokryphes Evangelium beschreibt sie als Konvertitin zum Judentum; d während die griechische Kirche sie tatsächlich in den Katalog der Heiligen aufgenommen hat. Was wäre, wenn die Wahrheit zwischen diesen Aussagen läge und Procula nicht nur eine Proselytin gewesen wäre, wie die Frau eines früheren römischen Statthalters,sondern auch von Jesus gewusst und an jenem Abend mit Pilatus über ihn gesprochen hätte? Dies würde am besten sein Zögern bei der Verurteilung Jesu sowie ihren Traum von ihm erklären.

Da die jüdischen Behörden das Angebot des Statthalters, gegen Jesus vor ihrem eigenen Gericht zu verhandeln, mit der erklärten Begründung ablehnen mussten, dass sie nicht befugt seien, ein Todesurteil zu fällen,mussten sie nun eine Anklage formulieren. Dies wird nur von Lukas überliefert. a Es ging darum, dass Jesus gesagt hatte, er selbst sei Christus, der König. Man wird feststellen, dass sie mit dieser Aussage Jesus fälschlicherweise ihre eigenen politischen Erwartungen an den Messias unterstellten. Aber selbst das ist noch nicht alles. Sie fügten noch hinzu, dass er die Nation verderbe und es verbiete, Cäsar Tribut zu zahlen. Die letztgenannte Anklage war so unbegründet, dass wir sie nur als eine notwendige Schlussfolgerung aus der Tatsache betrachten können, dass er den Anspruch erhob, König zu sein. Und da sie am meisten gegen ihn sagten, setzten sie dies an die erste Stelle und behandelten die Schlussfolgerung, als ob sie eine Tatsache wäre – eine Praxis, die in politischen, religiösen oder privaten Kontroversen nur allzu häufig vorkommt.

Diese Anklage der Sanhedristen erklärt, was sich nach Aussage aller Evangelisten im Prätorium abgespielt hat. Wir nehmen an, dass Christus sich dort aufhielt, wahrscheinlich unter der Aufsicht einiger Wachen. Die Worte der Sanhedristen brachten Pilatus auf merkwürdige Gedanken. Er rief nun Jesus und fragte ihn: „Bist du der König der Juden? In dieser Frage steckt jene Mischung aus Verachtung, Zynismus und Ehrfurcht, die wir in der Haltung und den Worten des Pilatus durchweg bemerken. Es war, als ob zwei Kräfte um die Herrschaft in seinem Herzen rangen. Neben der einheitlichen Verachtung für alles Jüdische und dem allgemeinen Zynismus, der nicht an die Existenz von etwas Höherem glauben konnte, ist ein Gefühl der Ehrfurcht vor Christus zu erkennen, auch wenn es sich dabei teilweise um Aberglauben handeln mag. Von allem, was die Sanhedristen gesagt hatten, nahm Pilatus nur dies auf, dass Jesus behauptete, ein König zu sein. Christus, der die Anklage seiner Ankläger nicht gehört hatte, ignorierte sie nun in seinem Wunsch, das Heil auch einem Pilatus zu bringen. Er beachtete die angedeutete Ironie nicht und stellte Pilatus zuerst die Frage, ob die Frage – ob es sich um eine strafrechtliche Anklage oder eine Untersuchung handelte – seine eigene sei oder lediglich die Wiederholung dessen, was seine jüdischen Ankläger Pilatus über ihn berichtet hatten. Der Statthalter wies schnell jede persönliche Anfrage zurück. Wie konnte er eine solche Frage stellen? Er war kein Jude, und das Thema war nicht von allgemeinem Interesse. Jesu eigenes Volk und seine Führer hatten ihn als Verbrecher ausgeliefert: Was hatte er getan?

Die Antwort des Pilatus ließ Ihm, der selbst in dieser höchsten Stunde nur an andere und nicht an sich selbst dachte, nichts anderes übrig, als die Wahrheit, für die seine Worte den Anstoß gegeben hatten, direkt vor den Römer zu bringen. Es handelte sich nicht, wie Pilatus angedeutet hatte, um eine jüdische Frage: Es war eine Frage der absoluten Wahrheit; sie betraf alle Menschen. Das Reich Christi war nicht von dieser Welt, weder jüdisch noch heidnisch. Wäre es anders, hätte er seine Anhänger zu einem Wettstreit um seine Ansprüche und Ziele geführt und wäre nicht ein Gefangener der Juden geworden. In all dem fiel Pilatus nur ein Wort auf. ‚Du bist also ein König!‘ Er war nicht fähig, den höheren Gedanken und die Wahrheit zu begreifen. Wir erkennen in seinen Worten dieselbe Mischung aus Spott und Misstrauen. Pilatus zweifelte nun nicht mehr an der Natur des Königreichs; sein Ausruf und seine Frage bezogen sich auf das Königtum. Diese Tatsache würde Christus nun in der Herrlichkeit Seiner Erniedrigung betonen. Er akzeptierte, was Pilatus sagte, er nahm seine Worte an. Aber er fügte ihnen einen Appell oder vielmehr eine Erklärung seiner Ansprüche hinzu, die ein Heide und ein Pilatus verstehen konnten. Sein Reich war nicht von dieser Welt, sondern von jener anderen Welt, die zu offenbaren er gekommen war, um sie allen Gläubigen zu eröffnen. Hier war die Wahrheit! Seine Geburt oder Inkarnation als Gesandter des Vaters und sein eigenes freiwilliges Kommen in diese Welt – beides wird in seinen Worten erwähnt – hatten zum Ziel, die Wahrheit über jene andere Welt zu bezeugen, in der sein Reich war. Dies war kein jüdisch-messianisches Reich, sondern eines, das sich an alle Menschen richtete. Und alle, die eine moralische Affinität zur „Wahrheit“ hatten, hörten auf sein Zeugnis und erkannten ihn so als „König“ an.

Aber diese Worte trafen nur eine leere Stelle, als sie auf Pilatus fielen. Es war nicht nur Zynismus, sondern völlige Verzweiflung an allem Höheren – ein moralischer Selbstmord -, der in seiner Frage zum Ausdruck kam: „Was ist Wahrheit?“ Er hatte Christus verstanden, aber es lag nicht in ihm, auf seinen Aufruf zu antworten. Er, dessen Herz und Leben so wenig mit der „Wahrheit“ verwandt war, konnte das große Ziel des Lebens und des Werkes Jesu nicht nachempfinden, obwohl er es nur schemenhaft wahrnahm. Aber selbst die Frage des Pilatus scheint ein Eingeständnis, eine stillschweigende Huldigung an Christus zu sein. Einem der priesterlichen Ankläger Jesu hätte er sein Inneres sicher nicht so geöffnet.

Dieser Mann war kein Rebell, kein Verbrecher! Die, die ihn brachten, waren von den niedrigsten Leidenschaften bewegt. Und so sagte er ihnen beim Hinausgehen, dass er keine Schuld an ihm finde. Daraufhin hagelte es von den versammelten Sanhedristen ein wahres Feuerwerk an Anschuldigungen. Wir stellen uns das so vor, dass Christus die ganze Zeit in der Nähe stand, vielleicht hinter Pilatus, direkt an der Pforte des Prätoriums. Und auf all dieses Geschrei der Anklagen gab er keine Antwort. Es war, als ob sich die wilden Wogen weit unten am Fuß des Felsens brechen würden, der, unberührt, sein Haupt weit in den Himmel reckt. Aber als er in der ruhigen Stille der Majestät stand, wunderte sich Pilatus sehr. Fürchtete dieser Mensch nicht einmal den Tod; war er sich seiner Unschuld so sehr bewusst, dass er denen, die um ihn herum und gegen ihn waren, so unendlich überlegen war, oder hatte er den Tod so weit besiegt, dass er sich nicht zu ihren Worten herablassen wollte? Und warum hatte Er dann zu ihm von Seinem Reich und von dieser Wahrheit gesprochen?

Am liebsten hätte er sich dem Ganzen entzogen; nicht, weil ihn die absolute Wahrheit oder die persönliche Unschuld des Leidenden bewegte, sondern weil es etwas in dem Christus gab, das ihn vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben davor zurückschrecken ließ, ungerecht zu sein und Unrecht zu tun. Und als er inmitten dieser verwirrten Rufe den Namen Galiläa als Schauplatz von Jesu Wirken hörte, griff er gerne zu, was die Aussicht bot, die Verantwortung auf einen anderen abzuwälzen. Jesus war ein Galiläer und gehörte daher zur Gerichtsbarkeit des Königs Herodes. Zu Herodes, der zum Fest nach Jerusalem gekommen war und dort den alten Makkabäerpalast in der Nähe des Hohepriesters bewohnte, wurde Jesus nun geschickt.

Allein dem heiligen Lukas verdanken wir die Schilderung dessen, was dort geschah, wie überhaupt so viele Züge in dieser letzten Szene des schrecklichen Dramas. Die Gelegenheit, die sich nun bot, war für Herodes willkommen. Es war ein Zeichen der Versöhnung (oder könnte als solches angesehen werden) zwischen ihm und dem Römer, und in gewisser Weise schmeichelhaft für ihn selbst, da der erste Schritt vom Statthalter getan worden war, und zwar durch eine fast ostentative Anerkennung der Rechte des Tetrarchen, um die sich möglicherweise ihre frühere Fehde gedreht hatte. Außerdem hatte Herodes seit langem den Wunsch, Jesus zu sehen, von dem er so viel gehört hatte. b In dieser Stunde war grobe Neugier, die Hoffnung, einige magische Darbietungen zu sehen, das einzige Gefühl, das den Tetrarchen bewegte. Aber vergeblich bedrängte er Christus mit Fragen. Er war ihm gegenüber so schweigsam wie früher gegenüber den heftigen Anklagen der Sanhedristen. Aber ein Christus, der keine Zeichen tun wollte oder konnte, ja nicht einmal zu denselben Anklagen wie der Täufer ansetzte, war für den groben Realismus des Antipas nur eine hilflose Gestalt, die man beschimpfen und verhöhnen konnte, wie es der Tetrarch und seine Kriegsmänner taten. Und so wurde Jesus noch einmal ins Prätorium zurückgeschickt.

In die Zeit, in der Jesus bei Herodes war, oder wahrscheinlich bald danach, fällt die letzte unheimliche Szene im Leben des Judas, die Matthäus berichtet. Wir schließen dies aus dem Umstand, dass bei der Rückkehr Jesu von Herodes die Sanhedristen nicht anwesend gewesen zu sein scheinen, da Pilatus sie zusammenrufen musste,b vermutlich aus dem Tempel. Und hier sei daran erinnert, dass der Tempel in der Nähe des Makkabäerpalastes lag. Schließlich haben wir den Eindruck, dass die Hauptrolle vor Pilatus fortan vom „Volk“ übernommen wurde, wobei die Priester und Schriftgelehrten sie eher anstifteten, als dass sie den Prozess gegen Jesus führten. Es kann daher gut sein, dass, als die Sanhedristen vom Makkabäerpalast in den Tempel gingen, wie es an diesem Tag zu erwarten war, nur ein Teil von ihnen auf die Vorladung des Pilatus hin zum Prätorium zurückkehrte.

Aber wie dem auch sei, es war bereits genug geschehen, um Judas zu überzeugen, was das Ende sein würde. Es ist in der Tat schwer zu glauben, dass er sich in diesem Punkt von Anfang an getäuscht haben könnte, auch wenn er die Tatsache in ihrer schrecklichen Tragweite erst nach seiner Tat erkannt hatte. Die Worte, die Jesus im Garten zu ihm gesprochen hatte, müssen sich in seine Seele eingebrannt haben. Er gehörte zu den Soldaten, die bei seinem Anblick zurückwichen. Seitdem war Jesus gefesselt zu Hannas, zu Kaiphas, zum Prätorium und zu Herodes geführt worden. Selbst wenn Judas bei keiner dieser Gelegenheiten anwesend gewesen wäre, und wir nehmen nicht an, dass sein Gewissen dies zugelassen hätte, so muss doch ganz Jerusalem zu dieser Zeit voll von dem Bericht gewesen sein, wahrscheinlich sogar in übertriebener Form. Eines hat er gesehen: dass Jesus verurteilt wurde. Judas tat nicht „Buße“ im biblischen Sinne; aber „ein Wandel des Sinnes und der Gefühle“ kam über ihn. Selbst wenn Jesus ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre und die Beziehung des Judas zu ihm eine gewöhnliche gewesen wäre, könnten wir seine Gefühle verstehen, vor allem in Anbetracht seines feurigen Temperaments. Der Augenblick vor und nach der Sünde stellt den Unterschied der Gefühle dar, wie er in der Geschichte des Sündenfalls unserer ersten Eltern geschildert wird. Mit dem Begehen der Sünde ist all der betörende, berauschende Einfluss, der dazu verleitet hat, verschwunden, und es bleibt nur die nackte Tatsache. Der ganze Glanz ist verflogen, die ganze Wirklichkeit bleibt bestehen. Wenn wir es wüssten, würde wohl kaum einer von vielen Verbrechern nicht alles geben, ja sogar sein Leben, wenn er sich an die Tat erinnern könnte oder aus ihr erwachen würde, um festzustellen, dass sie nur ein böser Traum war. Aber das ist nicht möglich, und das Schrecklichste ist, dass es geschehen ist, und zwar für immer. Doch das ist keine „Reue“, oder zumindest weiß Gott allein, ob es eine solche ist; es kann, und im Fall von Judas war es nur eine „Sinnes- und Gefühlsänderung“ gegenüber Jesus sein. Ob dies in Reue hätte übergehen können, ob es so gewesen wäre, wenn er sich Jesus zu Füßen geworfen hätte, was er zweifellos hätte tun können, brauchen wir hier nicht zu fragen. Die Gedanken und Gefühle des Judas in Bezug auf die Tat, die er begangen hatte, und in Bezug auf Jesus waren nun ganz andere; sie wurden immer stärker und immer intensiver. Die Straße, die Straßen, die Gesichter der Menschen – alles schien nun gegen ihn und für Jesus zu zeugen. Er las es überall; er fühlte es immer; er stellte es sich vor, bis sein ganzes Wesen in Flammen stand. Was war gewesen, was war, was würde sein! Himmel und Erde wichen vor ihm zurück; es gab Stimmen in der Luft und Schmerzen in der Seele – und nirgendwo gab es ein Entkommen, Hilfe, Rat oder Hoffnung.

Es war Verzweiflung, und sein verzweifelter Entschluss. Er muss diese dreißig Silberstücke loswerden, die sich wie dreißig Schlangen mit einem schrecklichen Zischen des Todes um seine Seele winden. Dann hätte seine Tat wenigstens nichts Selbstsüchtiges an sich: nur einen schrecklichen Irrtum, einen Fehler, zu dem er von diesen Sanhedristen angestiftet worden war. Zurück zu ihnen mit dem Geld, und sie sollen es wieder haben! Und so drängte er sich weiter durch die staunende Menge, die vor dem hageren Gesicht mit den wilden Augen zurückwich, das das Verbrechen in diesen wenigen Stunden alt gemacht hatte, bis er auf den Haufen von Priestern und Sanhedristen stieß, die vielleicht gerade in diesem Augenblick über alles sprachen. Ein höchst unwillkommener Anblick und eine unangenehme Störung für sie, diese notwendige, aber verhasste Figur in dem Drama, die zu seiner Vergangenheit gehörte und die in seiner Dunkelheit ruhen sollte. Aber er würde gehört werden; ja, seine Worte würden ihnen die Last aufbürden, sie mit ihm zu teilen, denn mit heiserem Schrei brach er in dies ein: „Ich habe gesündigt – ich habe unschuldiges Blut verraten! Sie wandten sich von ihm ab mit Ungeduld, mit Verachtung, wie sich so oft der Verführer von dem Verführten abwendet – und, Gott helfe solchen, mit derselben teuflischen Höllenschuld: „Was geht uns das an? Sieh es dir an!‘ Und schon waren sie wieder in ein Gespräch oder eine Beratung vertieft. Er starrte einen Augenblick lang wild vor sich hin, die dreißig Silberstücke, die ihm abgewogen worden waren und die er nun zurückgebracht hatte und ihnen gerne gegeben hätte, noch immer in der Hand. Nur einen Augenblick lang, dann stürzte er wild vorwärts, auf das Heiligtum selbst zu,wahrscheinlich dorthin, wo der Hof Israels an den der Priester grenzte, wo gewöhnlich die Büßer warteten, während im Hof der Priester das Opfer für sie dargebracht wurde. Er beugte sich vor und schleuderte mit aller Kraft2 die dreißig Silberstücke von sich, so dass jedes einzelne auf das Marmorpflaster fiel und widerhallte.

Er stürzte aus dem Tempel, aus Jerusalem, „in die Einsamkeit“.Wohin soll es gehen? Hinab in die schreckliche Einsamkeit des Tals von Hinnom, das „Tophet“ der Vergangenheit mit seinen grausigen Erinnerungen, das Gehenna der Zukunft mit seinen gespenstischen Assoziationen. Aber es war keine Einsamkeit, denn es schien jetzt von Gestalten, Gesichtern und Geräuschen bevölkert zu sein. Durch das Tal und die steilen Hänge des Berges hinauf! Wir befinden uns jetzt auf dem „Töpferfeld“ des Jeremia – etwas westlich oberhalb der Stelle, wo die Täler Kidron und Hinnom zusammenfließen. Es ist ein kalter, weicher Lehmboden, auf dem die Schritte ausrutschen oder in klammen Fesseln stecken bleiben. Hier ragen zerklüftete Felsen senkrecht empor; vielleicht stand dort ein knorriger, gebogener, verkümmerter Baum. Dort oben kletterte er auf die Spitze des Felsens. Langsam und bedächtig löste er den langen Gürtel, der sein Gewand hielt. Es war der Gürtel, in dem er die dreißig Silberstücke getragen hatte. Er war jetzt ganz ruhig und gefasst. Mit diesem Gürtel wird er sich an dem Baum in der Nähe aufhängen3 , und wenn er ihn befestigt hat, wird er sich von dem zerklüfteten Felsen stürzen.

Es ist vollbracht; aber als er sich bewusstlos, vielleicht noch nicht tot, schwer an dem Ast schwang, gab der Gürtel unter der ungewohnten Last nach, oder vielleicht löste sich der Knoten, den seine zitternden Hände gemacht hatten, und er fiel schwer nach vorn zwischen die zerklüfteten Felsen darunter und kam auf die Weise um, an die der heilige Petrus seine Mitjünger in den Tagen vor Pfingsten erinnerte. Aber im Tempel wussten die Priester nicht, was sie mit diesen dreißig Geldstücken anfangen sollten. Ihre skrupellose Skrupellosigkeit brach wieder über sie herein. Es war nicht erlaubt, Geld, das unrechtmäßig erworben worden war, in den Tempelschatz zu nehmen, um heilige Dinge zu kaufen. In solchen Fällen sah das jüdische Gesetz vor, dass das Geld dem Spender zurückgegeben werden musste, und wenn er darauf bestand, es zu geben, sollte er dazu gebracht werden, es für etwas zum Wohle der Allgemeinheit auszugeben. Dies erklärt die scheinbare Diskrepanz zwischen den Berichten in der Apostelgeschichte und bei Matthäus. Aufgrund einer Gesetzesfiktion wurde das Geld immer noch als Judas‘ Geld angesehen und von ihmb für den Kauf des bekannten „Töpferfeldes“ verwendet, um Fremde auf ihm zu begraben. Aber von nun an wurde der alte Name „Töpferfeld“ im Volksmund in „Feld des Blutes“ (Haqal Dema) umgewandelt. Und doch war es die Tat Israels durch seine Führer: „Sie nahmen die dreißig Silberstücke – den Preis dessen, der geschätzt wurde, den sie von den Kindern Israel schätzten – und gaben sie für den Töpferacker! Es gehörte alles ihnen, obwohl sie es am liebsten ganz Judas überlassen hätten: das Schätzen, das Verkaufen und das Kaufen. Und „der Töpferacker“ – genau der Ort, an dem Jeremia göttlich angewiesen worden war, gegen Jerusalem und gegen Israel zu prophezeien:wie erfüllte sich nun alles im Licht der vollendeten Sünde und des Abfalls des Volkes, wie sie von Sacharja prophetisch beschrieben wurden! Dieses Tophet des Jeremia, nachdem sie Israels Messias, den Hirten, geschätzt und für dreißig Schekel verkauft hatten – wahrhaftig ein Tophet, und ein Feld des Blutes geworden! Sicherlich ist es kein Zufall, dass dies der Ort der Gerichtsankündigung Jeremias sein sollte: kein Zufall, sondern wahrhaftig eine Erfüllung seiner Prophezeiung! Und so stellt Matthäus, der diese Prophezeiung sowohl in der Form1 als auch in ihrem Geist aufgreift und in wahrhaft jüdischer Manier die prophetische Beschreibung von Sacharja daran knüpft, das Ereignis als die Erfüllung von Jeremias Prophezeiung dar.

Wir befinden uns wieder vor dem Prätorium, zu dem Pilatus die Sanhedristen und das Volk aus dem Tempel gerufen hatte. Die Menschenmenge aus der Stadt wuchs augenblicklich an. Nicht nur, um zu sehen, was geschehen würde, sondern auch, um einem anderen Schauspiel beizuwohnen, nämlich der Freilassung eines Gefangenen. Denn es scheint Brauch gewesen zu sein, dass der römische Statthalter am Passahfest4 einen berüchtigten Gefangenen, der zum Tode verurteilt war, an die jüdische Bevölkerung freigab. Dies ist ein sehr bezeichnender Brauch der Freilassung, für den sie nun zu schreien begannen. Es mag sein, dass sie dazu auch von den Sanhedristen angestachelt wurden, die sich unter sie mischten. Denn wenn es gelänge, den Strom der Sympathie des Volkes auf Bar-Abbas zu lenken, wäre das Verhängnis Jesu umso sicherer besiegelt. Bei dieser Gelegenheit war es vielleicht um so leichter, das Volk zu beeinflussen, als Bar-Abbas zu jener damals nicht unüblichen Klasse gehörte, die unter dem Vorwand politischer Bestrebungen Raub und andere Verbrechen beging. Aber diese Bewegungen hatten sich tief in die Sympathie des Volkes eingegraben. Ein seltsamer Name und eine seltsame Gestalt, Bar-Abbas. Das kann kaum sein richtiger Name gewesen sein. Er bedeutet „Sohn des Vaters“.1 War er ein politischer Anti-Christ? Und warum hätte Pilatus, wenn es nicht eine Verbindung zwischen ihnen gegeben hätte, die Alternative Jesus oder Bar-Abbas vorschlagen sollen und nicht eher die eines der beiden Übeltäter, die tatsächlich mit Jesus gekreuzigt wurden?

Aber als der Statthalter, in der Hoffnung, die Sympathie des Volkes zu gewinnen, ihnen diese Alternative vorschlug – ja, sie sogar forderte, mit der Begründung, dass weder er noch Herodes ein Verbrechen an Ihm gefunden hätten, und dass er sogar ihren Rachedurst beschwichtigt hätte, indem er anbot, Jesus der grausamen Strafe der Geißelung zu unterwerfen, war das vergeblich. Nun setzte sich Pilatus auf den „Richterstuhl“. Doch bevor er fortfahren konnte, kam die Nachricht von seiner Frau über ihren Traum und die warnende Bitte, nichts mit „diesem Gerechten“ zu tun zu haben. Ein Omen wie ein Traum und ein damit verbundener Appell, besonders unter den Umständen dieses Prozesses, würde einen Römer stark beeindrucken. Und für einige Augenblicke sah es so aus, als ob der Appell an das Volksempfinden zugunsten Jesu erfolgreich gewesen wäre. Aber wieder einmal setzten sich die Sanhedristen durch. Offenbar hatten sich alle Anhänger Jesu zerstreut. Keiner von ihnen scheint anwesend gewesen zu sein, und wenn sich die eine oder andere schwache Stimme für ihn erhob, wurde sie aus Angst vor den Sanhedristen zum Schweigen gebracht. Es war Bar-Abbas, für den die Bevölkerung, angestachelt durch die Priesterschaft, nun mit zunehmender Vehemenz schrie. Auf die halb bittere, halb spöttische Frage, was sie mit dem zu tun wünschten, den ihre eigenen Führer in ihrer Anklage als „König der Juden“ bezeichnet hatten, ertönte immer lauter der furchtbare Schrei: „Kreuzige ihn! Dass ein solcher Schrei erhoben wurde, und zwar von Juden und vor den Römern und gegen Jesus, sind an sich fast unfassbare Tatsachen, denen die Geschichte dieser achtzehn Jahrhunderte ein schreckliches Echo verliehen hat. Vergeblich hat Pilatus argumentiert, argumentiert, appelliert. Die Volkswut wuchs nur, je mehr man sich ihr entgegenstellte.

Da alle Überlegungen fehlgeschlagen waren, griff Pilatus zu einem weiteren Mittel, das unter normalen Umständen wirksam gewesen wäre. Wenn ein Richter, nachdem er die Unschuld des Angeklagten erklärt hat, sich tatsächlich vom Richterstuhl erhebt und durch einen symbolischen Akt die Hinrichtung des Angeklagten zu einem Justizmord erklärt, von dessen Beteiligung er sich feierlich reinwaschen will, würde sicherlich kein Geschworener darauf bestehen, das Todesurteil zu fordern. Aber im vorliegenden Fall kam noch mehr hinzu. Obwohl wir Anspielungen auf einen solchen Brauch bei den Heiden finden,1 war das, was hier geschah, ein im Wesentlichen jüdischer Ritus, der den Juden umso mehr gefallen haben muss, als er von Pilatus durchgeführt wurde. Und nicht nur der Ritus, sondern auch die Worte selbst waren jüdisch. Sie erinnern nicht nur an den Ritus, der in Dtn 21,6 usw. vorgeschrieben ist, um die Schuldfreiheit der Ältesten einer Stadt zu kennzeichnen, in der ein unaufgeklärter Mord begangen worden war, sondern auch an die Worte solcher alttestamentlichen Ausdrücke wie in 2 Sam. 3:28, und Ps. 26:6, 73:13,und in späteren Zeiten in Sus. ver. 46. Die Mischna bezeugt, dass dieser Ritus beibehalten wurde. Da Pilatus in Israel Recht sprach, muss er von diesem Ritus gewusst haben. 3 Es berührt nicht die Frage, ob sich ein Richter, insbesondere unter den geschilderten Umständen, von seiner Schuld freisprechen konnte oder nicht. Sicherlich konnte er das nicht; aber ein solches Verhalten eines Pilatus erscheint so völlig ungewöhnlich, wie überhaupt sein ganzes Verhalten Christus gegenüber, dass wir es nur durch den tiefen Eindruck erklären können, den Jesus auf ihn gemacht hatte. Umso schrecklicher wäre die Schuld des jüdischen Widerstands. Es hat etwas Überwältigendes, wenn Pilatus sagt: „Seht zu“ – eine Antwort auf das „Seht zu“ der Sanhedristen an Judas, und zwar mit denselben Worten. Es scheint fast so, als würde die Szene der gegenseitigen Schuldzuweisung im Garten Eden nachgespielt werden. Die Mischna berichtet uns, dass die Priester nach der feierlichen Handwaschung der Ältesten und ihrem Schuldbekenntnis mit diesem Gebet antworteten: „Vergib deinem Volk Israel, das du erlöst hast, Herr, und lass kein unschuldiges Blut auf dein Volk Israel kommen! Aber hier, als Antwort auf Pilatus‘ Worte, kam der tiefe, heisere Schrei zurück: „Sein Blut komme über uns“ und – Gott helfe uns – „über unsere Kinder“. Etwa dreißig Jahre später wurde genau an dieser Stelle das Urteil über einige der Besten Jerusalems gesprochen; und unter den 3.600 Opfern des Zorns des Statthalters, von denen nicht wenige direkt gegenüber dem Prätorium gegeißelt und gekreuzigt wurden, befanden sich viele der edelsten Bürger Jerusalems. Ein paar Jahre später trugen Hunderte von Kreuzen jüdische verstümmelte Körper in Sichtweite Jerusalems. Und immer noch scheinen diese Wanderer von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Land zu Land diese Blutlast zu tragen; und immer noch scheint sie „auf uns und unseren Kindern“ zu lasten.

Die Evangelisten haben die letzten Szenen der Demütigung und des Grauens so schnell wie möglich hinter sich gelassen, und wir sind zu dankbar, um ihrem Beispiel zu folgen. Bar-Abbas wurde sofort freigelassen. Jesus wurde den Soldaten übergeben, um gegeißelt und gekreuzigt zu werden, obwohl das endgültige und förmliche Urteil noch nicht gesprochen worden war. In der Tat scheint Pilatus gehofft zu haben, dass die Schrecken der Geißelung das Volk noch dazu bewegen würden, von dem wilden Schrei nach dem Kreuz abzulassen. b Aus demselben Grund dürfen wir auch hoffen, dass die Geißelung nicht mit derselben Grausamkeit durchgeführt wurde wie bei den christlichen Märtyrern, bei denen die Geißel aus Lederriemen mit Blei geladen oder mit Stacheln und Knochen bestückt war, um andere zum Geständnis oder zum Widerruf zu bewegen, und die Rücken, Brust und Gesicht zerfetzte, bis das Opfer manchmal als blutende Masse zerrissenen Fleisches vor dem Richter niederfiel. Doch ohne den erschütternden Realismus eines Cicero wiederholen zu wollen, war die Geißelung die schreckliche Einleitung zur Kreuzigung – „der Zwischentod“. Entkleidet, mit gefesselten Händen und gebeugtem Rücken, wurde das Opfer vor dem Prätorium an eine Säule oder einen Pfahl gebunden. Nach Beendigung der Geißelung warfen ihm die Soldaten eilig seine Obergewänder über und führten ihn zurück ins Prätorium. Hier riefen sie die ganze Kohorte zusammen, und der schweigsame, ohnmächtige Leidende wurde zum Gegenstand ihres schelmischen Spotts. Von seinem blutenden Leib zerrissen sie die Kleider und kleideten ihn zum Spott in Scharlach und Purpur. Als Krone wickelten sie Dornen zusammen, und als Zepter legten sie ein Rohr in seine Hand. Dann riefen sie Ihn abwechselnd als König aus oder verehrten Ihn als Gott und schlugen Ihn oder überhäuften Ihn mit anderen Schandtaten.

Ein solches Schauspiel hätte wohl die Feindschaft entwaffnen und die Ängste der Welt für immer zerstreuen können. So hatte Pilatus gehofft, als Jesus auf sein Geheiß hin aus dem Prätorium kam, als Scheinkönig gekleidet, und der Statthalter ihn dem Volk mit den Worten vorstellte, die die Kirche seither bewahrt hat: „Seht den Menschen! Aber dieser Anblick war alles andere als beruhigend, sondern stachelte die „Hohenpriester“ und ihre Untergebenen nur noch mehr an. Dieser Mann vor ihnen war der Anlass, dass ein Heide es an diesem Ostertag wagte, in Jerusalem selbst ihre tiefsten Gefühle zu beleidigen, ihre am meisten gehegten messianischen Hoffnungen zu verhöhnen! Kreuzige!“, schallte es von allen Seiten. Noch einmal appellierte Pilatus an sie, als er dem Volk unwissentlich und ungewollt entlockte, dass Jesus behauptet hatte, der Sohn Gottes zu sein.

Was für ein Licht wirft es auf die Art und Weise, wie Jesus sich inmitten jener Folterungen und Beleidigungen verhalten hatte, dass diese Aussage der Juden Pilatus mit Furcht erfüllte und ihn dazu brachte, erneut das Gespräch mit Jesus im Prätorium zu suchen. Der Eindruck, der beim ersten Mal entstanden war und sich immer weiter vertieft hatte, war nun in den Schrecken des Aberglaubens übergegangen. Seine erste Frage an Jesus lautete: „Woher ist er? Und als Jesus, wie es sich gehörte – denn er konnte es nicht verstehen -, keine Antwort gab, wurden die Gefühle des Römers nur noch intensiver. Wollte er nicht sprechen; wusste er nicht, dass er die absolute Macht hatte, ihn freizulassen oder zu kreuzigen“? Nein, nicht die absolute Macht – alle Macht kam von oben; aber die Schuld am Missbrauch der Macht war viel größer auf Seiten des abgefallenen Israels und seiner Führer, die wussten, woher die Macht kam und wem gegenüber sie für ihre Ausübung verantwortlich waren.

So sprach kein Hochstapler, so sprach kein gewöhnlicher Mensch – nach solchen Leiden und unter solchen Umständen – zu einem, der die Macht über Leben und Tod über ihn hatte, wenn er sie auch hatte. Und Pilatus spürte es umso mehr, als er zynisch und ungläubig war gegenüber allem, was höher war. Und umso ernsthafter versuchte er nun, ihn freizulassen. Aber im Verhältnis dazu wurde der Schrei der Juden nach Seinem Blut immer lauter und heftiger, bis sie drohten, den Statthalter selbst in die Anklage der Rebellion gegen Cäsar zu verwickeln, wenn er in der ungewohnten Gnade verharrte.

Einer solchen Gefahr würde sich ein Pilatus niemals aussetzen. Er setzte sich erneut auf den Richterstuhl, der sich außerhalb des Prätoriums befand, an einem Ort, der „Pflaster“ genannt wurde, und von dem aus man die Stadt überblicken konnte, „Gabbatha „, „die runde Höhe“. Der Vorgang ist so feierlich, dass der Evangelist innehält, um noch einmal den Tag – ja sogar die Stunde – zu erwähnen, an dem der Prozess begonnen hatte. Es war ein Freitag in der Passahwoche,1 und zwar zwischen sechs und sieben Uhr morgens. Und zum Schluss stellte Pilatus ihnen Jesus noch einmal zum Spott vor: „Seht euren König!“3 Noch einmal forderten sie seine Kreuzigung – und als sie erneut herausgefordert wurden, brachen die Hohenpriester in den Schrei aus, der dem endgültigen Urteil des Pilatus vorausging, das gleich vollstreckt werden sollte: „Wir haben keinen König außer Cæsar!

Mit diesem Schrei machte sich das Judentum in der Person seiner Vertreter der Gottesleugnung, der Gotteslästerung und des Glaubensabfalls schuldig. Es beging Selbstmord, und seither wird sein toter Körper in Scharen von Land zu Land und von Jahrhundert zu Jahrhundert getragen: um tot zu sein und tot zu bleiben, bis Er ein zweites Mal kommt, der die Auferstehung und das Leben ist!

Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
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(St. Matt. 27:31-43; St. Mark 15:20-32a; St. Luke 23:26-38; St. John 19:16-24; St. Matt. 27:44; St. Mark 15:32b; St. Luke 23:39-43; St. John 19:25-27; St. Matt. 27:45-56; St. Markus 15,33-41; Lukas 23,44-49; Johannes 19,28-30; Johannes 19,31-37; Matthäus 27,57-61; Markus 15,42-47; Lukas 23,50-56; Johannes 19,38-42; Matthäus 27,62-66).

Für ihre Schuld ist ES unerheblich, ob wir unter dem Druck der Sprache des Johannes verstehen sollen, dass Pilatus Jesus den Juden zur Kreuzigung übergab oder, wie wir eher annehmen, seinen eigenen Soldaten. Dies war die übliche Praxis, und es stimmt sowohl mit dem früheren Spott des Statthalters gegenüber den Juden b als auch mit der Nachbemerkung der Synoptiker überein. Sie, denen er „ausgeliefert“ wurde, „führten ihn ab, um gekreuzigt zu werden“, und sie, die ihn so abführten, „zwangen“ den Kyrenäer Simon, das Kreuz zu tragen. Wir können uns kaum vorstellen, dass die Juden, noch weniger die Sanhedristen, dies getan hätten. Aber ob formell oder nicht, das schreckliche Verbrechen, ihren Messias-König mit böser Hand zu töten, lastet leider auf Israel.

Noch einmal wurde Er entkleidet und bekleidet. Das Purpurgewand wurde von Seinem verwundeten Körper gerissen, die Dornenkrone von Seiner blutenden Stirn. Wieder in seine eigenen, nun blutbefleckten Gewänder gekleidet, wurde Er zur Hinrichtung geführt. Es waren nur etwa zweieinhalb Stunden vergangen,c seit Er das erste Mal vor Pilatus gestanden hatte (etwa um halb sieben),als die melancholische Prozession Golgatha erreichte (um neun Uhr MORGENS). In Rom lagen zwischen dem Urteil und seiner Vollstreckung normalerweise zwei Tage; aber diese Regel scheint in den Provinzen nicht gegolten zu haben,wenn überhaupt die formalen Regeln des römischen Verfahrens in diesem Fall eingehalten wurden.

Bald wurden die schrecklichen Vorbereitungen getroffen: der Hammer, die Nägel, das Kreuz, die Nahrung für die Soldaten, die unter jedem Kreuz wachen sollten. Für jedes Kreuz wurden vier Soldaten abgestellt, die alle unter dem Kommando eines Hauptmannes standen. Wie immer wurde das Kreuz von demjenigen, der daran leiden sollte, zur Hinrichtung getragen – vielleicht waren seine Arme mit Stricken daran gebunden. Aber es gibt glücklicherweise keinen Beweis – im Gegenteil, alles deutet darauf hin -, dass der Hals des Leidenden nach altem Brauch im Patibulum befestigt wurde, zwei horizontalen Holzstücken, die am Ende befestigt waren und an denen die Hände gefesselt wurden. Gewöhnlich wurde die Prozession vom angeführt, oder besser gesagt, es ging einer voraus, der die Art des Verbrechens verkündete2 und eine weiße Holztafel trug, auf die es geschrieben wurde. Gewöhnlich nahm sie auch den längsten Weg zur Hinrichtungsstätte und führte durch die am stärksten bevölkerten Straßen, um die größte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wir vermuten jedoch, dass sowohl dieser lange Weg als auch die Verkündigung durch den Herold im vorliegenden Fall entbehrlich waren. Sie werden im Text nicht angedeutet und scheinen nicht zur festlichen Jahreszeit und zu den anderen Umständen der Geschichte zu passen.

Lassen wir alle späteren legendären als nur störend beiseite, so wollen wir versuchen, uns die Szene so vorzustellen, wie sie in den Evangelien beschrieben wird. Unter der Führung des Hauptmanns, ob in Begleitung desjenigen, der die Tafel mit der Inschrift trug, oder nur umgeben von den vier Soldaten, von denen einer diese Tafel tragen konnte, ging Jesus mit seinem Kreuz voran. Ihm folgten zwei Übeltäter – „Räuber“ -, die wahrscheinlich zu der damals so zahlreichen Klasse gehörten, die ihre Verbrechen mit dem Vorwand politischer Motive verschleierte. Auch diese beiden trugen jeweils ihr Kreuz und wurden wahrscheinlich von jeweils vier Soldaten begleitet. Die Kreuzigung war keine jüdische Bestrafungsmethode, obwohl der Makkabäerkönig Jannäus die Ansprüche der Menschlichkeit und der Religion so weit vergessen hatte, dass er bei einer Gelegenheit nicht weniger als 800 Personen in Jerusalem selbst kreuzigen ließ. a Aber selbst Herodes griff bei all seiner Grausamkeit nicht zu dieser Hinrichtungsmethode. Sie wurde auch von den Römern erst nach der Zeit Cäsars angewandt, als sie mit der schnell zunehmenden Grausamkeit der Strafen in den Provinzen furchtbar üblich wurde. Besonders scheint sie die Herrschaft Roms in Judäa unter jedem Statthalter zu kennzeichnen. Während der letzten Belagerung Jerusalems entstanden täglich Hunderte von Kreuzen, bis weder Platz noch Holz dafür vorhanden zu sein schienen, und die Soldaten vergnügten sich mit immer neuen Kreuzigungsarten auf grausame Weise. So kam der jüdische Appell an Rom, den König Israels zu kreuzigen, in hundertfachem Widerhall zurück. Aber besser als eine solche Vergeltung hat das Kreuz des Gottmenschen der Bestrafung durch das Kreuz ein Ende gesetzt und stattdessen das Kreuz zum Symbol der Menschlichkeit, der Zivilisation, des Fortschritts, des Friedens und der Liebe gemacht.

Wie die meisten Abscheulichkeiten der antiken Welt, sei es in der Religion oder im Leben, war die Kreuzigung phönizischen Ursprungs, obwohl Rom sie übernahm und verbesserte. Die Hinrichtungsarten bei den Juden waren: Strangulation, Enthauptung, Verbrennung und Steinigung. Die Rabbiner zögerten am meisten, unter gewöhnlichen Umständen ein Todesurteil auszusprechen. Dies geht sogar aus der Anordnung hervor, dass die Richter am Tag eines solchen Urteils fasten sollten. Zwei der führenden Rabbiner geben sogar zu Protokoll, dass ein solches Urteil in einem Sanhedrin, dem sie angehörten, niemals ausgesprochen worden wäre. Die Demütigung des Hängens – und dies erst, nachdem der Verbrecher auf andere Weise hingerichtet worden war – war den Verbrechen des Götzendienstes und der Gotteslästerung vorbehalten. b Der Ort, an dem Verbrecher gesteinigt wurden (Beth haSeqilah), befand sich auf einer etwa elf Fuß hohen Anhöhe, von der der Verbrecher vom ersten Zeugen hinuntergeworfen wurde. Wenn er durch den Sturz nicht gestorben war, warf der zweite Zeuge einen großen Stein auf sein Herz, während er lag. Wenn er noch nicht tot war, wurde er vom ganzen Volk gesteinigt. In einer Entfernung von sechs Fuß von der Hinrichtungsstätte wurde der Verbrecher entkleidet, wobei nur die für den Anstand absolut notwendige Bedeckung zurückblieb. c Im Falle Jesu haben wir Grund zu der Annahme, dass, obwohl die Art der Bestrafung, der er unterworfen wurde, unjüdisch war, jedes Zugeständnis an die jüdische Sitte gemacht wurde, und daher glauben wir dankbar, dass ihm am Kreuz die Demütigung der Entblößung erspart blieb. Das wäre wirklich unjüdisch gewesen.

Drei Arten von Kreuzen waren in Gebrauch: das sogenannte Andreaskreuz (×, Crux decussata), das Kreuz in Form eines T (Crux commissa) und das gewöhnliche lateinische Kreuz (+, Crux immissa). Wir glauben, dass Jesus das letzte dieser Kreuze trug. Dies würde auch am ehesten die Anbringung der Tafel mit der dreifachen Inschrift erlauben, von der wir wissen, dass sein Kreuz sie trug. Außerdem spricht das allgemeine Zeugnis derjenigen, die am nächsten an der Zeit lebten (Justin Martyr, Irenäus und andere), und die leider nur zu oft Gelegenheit hatten, zu erfahren, was Kreuzigung bedeutet, für diese Ansicht. Dieses Kreuz trug Jesus, wie der heilige Johannes ausdrücklich sagt, zu Beginn selbst. Und so bewegte sich die Prozession weiter in Richtung Golgatha. Nicht nur der Ort, sondern sogar der Name dieses Ortes, der jedes christliche Herz so sehr anspricht, ist umstritten. Der Name kann nicht von den herumliegenden Schädeln abgeleitet werden, da eine solche Enthüllung ungesetzlich gewesen wäre, und muss daher auf die schädelartige Form und das Aussehen des Ortes zurückzuführen sein. Dementsprechend wird der Name gemeinhin als die griechische Form des aramäischen Gulgalta oder des hebräischen Gulgoleth erklärt, was Schädel bedeutet.

Eine solche Beschreibung würde nicht nur den Erfordernissen der Erzählung, sondern auch dem Aussehen des Ortes, der, soweit wir es beurteilen können, Golgatha darstellt, voll entsprechen. Wir können hier nicht auf die verschiedenen Gründe eingehen, aus denen der traditionelle Ort aufgegeben werden muss. Sicher ist, dass Golgatha „außerhalb des Tores „und „in der Nähe der Stadt „b lag und höchstwahrscheinlich die übliche Hinrichtungsstätte war. Schließlich wissen wir, dass es in der Nähe von Gärten lag, wo es Gräber gab, und in der Nähe der Landstraße. Die drei letzten Bedingungen deuten auf den Norden Jerusalems hin. Es sei daran erinnert, dass die dritte Mauer, die Jerusalem später umgab, erst einige Jahre nach der Kreuzigung gebaut wurde. Die neue Vorstadt Bezetha erstreckte sich zu dieser Zeit außerhalb der zweiten Mauer. Hier verlief die große Straße nach Norden; in der Nähe befanden sich Villen und Gärten; und hier wurden auch in Fels gehauene Gräber entdeckt, die aus dieser Zeit stammen. Aber das ist noch nicht alles. Das heutige Damaskustor im Norden der Stadt scheint in der ältesten Überlieferung den Namen Stephanstor getragen zu haben, weil man glaubte, der Ur-Märtyrer sei durch dieses Tor zu seiner Steinigung gegangen. Der Ort der Hinrichtung muss also ganz in der Nähe gewesen sein. Und zumindest eine jüdische Überlieferung nennt genau diesen Ort, in der Nähe der so genannten Grotte des Jeremia, als den antiken „Ort der Steinigung“ (Beth haSeqilah). Und die Beschreibung des Ortes erfüllt alle Anforderungen. Es ist ein unheimlicher, trostloser Ort, zwei oder drei Minuten von der Hauptstraße entfernt, mit einem hohen, abgerundeten, schädelartigen Felsplateau und einer plötzlichen Vertiefung oder Höhle darunter, als ob sich die Kiefer dieses Schädels geöffnet hätten. Ob das „Grab aus der herodianischen Zeit in der Felskuppe westlich von Jeremias Grotte“ der heiligste Ort auf Erden war – das „Grab im Garten“ -, wagen wir nicht mit Sicherheit zu behaupten, obwohl jede Wahrscheinlichkeit dafür spricht.

Dorthin bewegte sich also diese melancholische Prozession an jenem Freitag in der Pessachwoche zwischen acht und neun Uhr. Vom alten Palast des Herodes stieg sie hinab und ging wahrscheinlich durch das Tor in der ersten Mauer und damit in das geschäftige Viertel von Akra. Je weiter er ging, desto mehr Menschen folgten ihm aus dem Tempel und aus dem dichten Geschäftsviertel, durch das er zog. Die Geschäfte, Basare und Märkte waren an diesem heiligen Festtag zwar geschlossen. Aber eine ziemliche Menschenmenge säumte die Straßen und folgte dem Zug; und vor allem die Frauen, die ihre Festvorbereitungen verließen, stießen laute Wehklagen aus, nicht in geistiger Anerkennung der Ansprüche Christi, sondern aus Mitleid und Sympathie. 2 Und wer hätte ein solches Schauspiel ungerührt betrachten können, wenn nicht fanatischer Hass alles Menschliche aus seinem Schoß verbrannt hätte? Seit dem Ostermahl hatte Jesus weder Essen noch Trinken zu sich genommen. Nach der tiefen Ergriffenheit jenes Festes mit all den heiligen Institutionen, die es beinhaltete, nach dem vorweggenommenen Verrat des Judas und nach dem Abschied von seinen Jüngern war er nach Gethsemane gegangen. Dort war er stundenlang allein – denn seine engsten Jünger konnten nicht einmal eine Stunde mit ihm wachen -, und die tiefen Wasser waren bis zu seiner Seele hinaufgerollt. Er hatte von ihnen getrunken, war darin eingetaucht und fast darin umgekommen. Dort hatte Er sich in einem tödlichen Kampf gequält, bis die großen Blutstropfen sich auf Seine Stirn drückten. Dort war Er ausgeliefert worden, während sie alle geflohen waren. Zu Hannas, zu Kaiphas, zu Pilatus, zu Herodes und wieder zu Pilatus; von Demütigung zu Demütigung, von Folter zu Folter wurde Er die ganze lange Nacht und den ganzen Morgen gejagt. Die ganze Zeit über hatte Er sich mit einer göttlichen Majestät getragen, die sowohl die tiefen Gefühle des Pilatus als auch den wütenden Hass der Juden erweckt hatte. Aber wenn Seine Göttlichkeit Seiner Menschlichkeit die wahre Bedeutung gab, so gab diese Menschlichkeit Seinem freiwilligen Opfer die wahre Bedeutung. Die Evangelisten sind also weit davon entfernt, ihre Erscheinungsformen zu verbergen, und stellen sie nicht unnötig, sondern ohne zu zögern in den Vordergrund. Nach den schrecklichen Ereignissen jener Nacht und jenes Morgens, als sein bleiches Gesicht die Blutspuren der Dornenkrone trug, war sein geschundener Körper weder durch Nahrung noch durch Schlaf erfrischt und konnte die Last des Kreuzes nicht tragen. Kein Wunder, dass das Mitleid der Frauen von Jerusalem erregt war. Aber unser Mitleid ist kein Mitleid, es ist Anbetung bei diesem Anblick. Denn hinter Seiner menschlichen Schwäche lag die göttliche Stärke, die Ihn zu dieser freiwilligen Selbsthingabe und Selbstauslöschung führte. Es war die göttliche Kraft Seines Mitleids und Seiner Liebe, die in Seiner menschlichen Schwäche zum Ausdruck kam.

Bis zu diesem letzten Tor, das von der „Vorstadt“ zur Hinrichtungsstätte führte, trug Jesus sein Kreuz. Dann, so folgern wir, wich seine Kraft unter ihm. Ein Mann kam aus der entgegengesetzten Richtung, einer aus der großen jüdischen Kolonie, die sich, wie wir wissen, in Kyrene niedergelassen hatte. Er würde besonders auffallen; denn nur wenige würden zu dieser Stunde, am Festtag, „aus dem Lande“ kommen,2 obwohl dies nicht gegen das Gesetz verstieß. Es ist so viel daraus gemacht worden, dass man genau wissen sollte, dass das Reisen, das an Sabbaten verboten war, an Festtagen nicht verboten war. Außerdem könnte der Ort, von dem er kam – vielleicht sein Haus -, innerhalb der kirchlichen Grenzen Jerusalems gelegen haben. Auf jeden Fall scheint er zumindest später in der Kirche gut bekannt gewesen zu sein – und seine Söhne Alexander und Rufus noch besser als er. a Nur so viel können wir mit Sicherheit sagen; sie mit Personen gleichen Namens zu identifizieren, die an anderen Stellen des Neuen Testaments erwähnt werden, kann nur Gegenstand von Spekulationen sein. Aber wir können uns des Gedankens kaum erwehren, dass Simon von Kyrene vor jenem Tag noch kein Jünger war; er hatte erst gelernt, Christus nachzufolgen, als ihn an jenem Tag, als er durch das Tor kam, die Soldaten festhielten und ihn gegen seinen Willen zwangen, das Kreuz nach Christus zu tragen. Einen weiteren Hinweis auf die Notwendigkeit einer solchen Hilfe gibt uns der heilige Markus,b der einen Ausdruck5 verwendet, der zwar nicht unbedingt ausdrückt, dass der Heiland getragen werden musste, aber doch, dass er von dem Ort, an dem sie Simon trafen, nach Golgatha getragen werden musste.

Hier, wo der Heiland zwar nicht unter seiner Last zusammenbrach, sie aber dennoch auf den Zyrenäer übertragen werden musste, während er selbst von nun an der körperlichen Unterstützung bedurfte, platzieren wir den nächsten Vorfall in dieser Geschichte. Während das Kreuz auf den unwilligen Simon gelegt wurde, schlossen sich die Frauen, die mit dem Volk gefolgt waren, um den Leidenden und erhoben ihre Klagen. 1 Bei seinem Einzug in Jerusalem hatte Jesus über die Töchter Jerusalems geweint; als er es zum letzten Mal verließ, weinten sie über ihn. Aber die Gründe für seine Tränen waren ganz andere als die des bloßen Mitleids. Und wenn man einen Beweis für Seine göttliche Stärke selbst in der tiefsten Tiefe Seiner menschlichen Schwäche bräuchte – wie Er, der Besiegte, der Eroberer war -, so würde man ihn sicherlich in den Worten finden, mit denen Er sie aufforderte, ihre Gedanken des Mitleids dorthin zu richten, wo Mitleid erforderlich sein würde, sogar zu sich selbst und ihren Kindern in dem nahen Gericht über Jerusalem. Die Zeit würde kommen, in der der alttestamentliche Fluch der Unfruchtbarkeit als Segen begehrt werden würde. Um die Erfüllung dieser prophetischen Klage Jesu zu zeigen, ist es nicht nötig, an die erschütternden Einzelheiten zu erinnern, die Josephus aufzeichnete,als eine rasende Mutter ihr eigenes Kind röstete und in der Verhöhnung der Verzweiflung die Hälfte der schrecklichen Mahlzeit für die Mörder aufbewahrte, die täglich bei ihr einbrachen, um ihr die spärliche Nahrung zu rauben, die ihr noch geblieben war; auch nicht an andere jener Vorfälle, die der Geschichtsschreiber der letzten Belagerung Jerusalems berichtet und die zu abscheulich sind, um sie unnötig zu wiederholen. Aber wie oft müssen die Frauen Israels in diesen vielen Jahrhunderten diese schreckliche Sehnsucht nach Kinderlosigkeit empfunden haben, und wie oft muss das Gebet der Verzweiflung für einen schnellen Tod durch herabstürzende Berge und begrabende Hügel statt langer Qualen über die Lippen der Leidenden Israels gekommen sein! Und doch waren diese Worte auch eine Prophezeiung für eine noch schrecklichere Zukunft! f Denn wenn Israel seinen „grünen Baum“ so angezündet hatte, wie schrecklich würde das göttliche Gericht unter dem trockenen Holz eines abtrünnigen und rebellischen Volkes brennen, das seinen göttlichen König so ausgeliefert und das Urteil über sich selbst ausgesprochen hatte, indem es es über ihn aussprach!

So natürlich und in mancher Hinsicht echt die Tränen der „Töchter Jerusalems“ auch waren, die bloße Sympathie mit Christus bringt fast eine Schuld mit sich, denn sie impliziert eine Sichtweise von ihm, die im Grunde das Gegenteil von dem ist, was seine Ansprüche verlangen. Diese Tränen waren das Sinnbild jener modernen Einstellung zu Christus, die in ihrer Überschwänglichkeit eher eine Beleidigung als eine Huldigung darstellt und eher eine Ablehnung als eine Anerkennung seiner Person impliziert. Wir schrecken vor der Anmaßung eines höheren Standpunktes zurück, die in so vielen der modernen so genannten Kritiken über den Christus enthalten ist. Aber auch darüber hinaus ist jeder bloße Sentimentalismus hier das Ergebnis der Unkenntnis unseres wirklichen Zustandes. Wenn das Gefühl der Sünde in uns geweckt ist, werden wir nicht über das trauern, was Christus gelitten hat, sondern über das, was er für uns gelitten hat. Die Überschwänglichkeit des bloßen Gefühls ist eine Unverschämtheit oder eine Torheit: Unverschämtheit, wenn er der Sohn Gottes war; Torheit, wenn er nur ein Mensch war. Und auch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt gibt es hier eine Lektion zu lernen. Es ist eine Besonderheit des Romanismus, Christus immer in seiner menschlichen Schwäche darzustellen. Es ist die Eigenart eines extremen Teils auf der anderen Seite, ihn nur in seiner Göttlichkeit zu sehen. Wir sollten uns immer vor Augen halten und verehren, wenn wir uns daran erinnern, dass Christus der Retter und Gottmensch ist.

Es war neun Uhr morgens, als die melancholische Prozession Golgatha erreichte und die noch melancholischeren Vorbereitungen für die Kreuzigung begannen. Es wurde erklärt, dass die Strafe erfunden wurde, um den Tod so schmerzhaft und langwierig zu machen, wie es die menschliche Kraft ertragen konnte. Zuerst wurde das aufrechte Holz in den Boden gepflanzt. Es war nicht hoch, und wahrscheinlich waren die Füße des Leidenden nicht höher als ein oder zwei Fuß vom Boden entfernt. So konnte die in den Evangelien beschriebene Kommunikation zwischen Ihm und den anderen stattfinden; so konnten auch Seine Heiligen Lippen mit dem Schwamm, der an einem kurzen Ysopstängel befestigt war, befeuchtet werden. Als Nächstes wurde das Querholz (Antenne) auf den Boden gelegt, und der Leidende wurde darauf gelegt, während Seine Arme ausgebreitet, hochgezogen und daran gebunden wurden. Dann wurde (nicht in Ägypten, sondern in Karthago und in Rom) ein starker, scharfer Nagel zuerst in die rechte, dann in die linke Hand (die clavi trabales) geschlagen. Dann wurde der Leidende mit Hilfe von Seilen, vielleicht auch Leitern, hochgezogen; das Querholz wurde entweder festgebunden oder an den Pfosten genagelt, und eine Auflage oder Stütze für den Körper (das cornu oder sedile) wurde daran befestigt. Schließlich wurden die Füße verlängert und entweder ein Nagel in jeden Fuß geschlagen oder ein größeres Eisenstück durch die beiden Füße geschlagen. Wir haben bereits unsere Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Demütigung der Entblößung bei einer solchen jüdischen Hinrichtung nicht vorgesehen war. Und so konnte der Gekreuzigte stundenlang, ja sogar tagelang, in unsagbaren Qualen hängen, bis er endlich das Bewusstsein verlor.

Es war ein barmherziger jüdischer Brauch, denen, die zur Hinrichtung geführt wurden, einen Schluck starken, mit Myrrhe vermischten Weines zu geben, um das Bewusstsein zu betäuben. Dieses wohltätige Amt wurde auf Kosten, wenn nicht sogar von einer Vereinigung von Frauen in Jerusalem ausgeführt. Dieser Schluck wurde Jesus angeboten, als er Golgatha erreichte. Aber nachdem er ihn gekostet und sich von seinem Charakter und Zweck überzeugt hatte, wollte er ihn nicht trinken. Es war so, wie er zuvor das Mitleid der „Töchter Jerusalems“ abgelehnt hatte. Niemand konnte Ihm das Leben nehmen; Er hatte die Macht, es hinzulegen und wieder aufzunehmen. Er würde hier auch nicht der gewöhnlichen Schwäche unserer menschlichen Natur nachgeben, nicht leiden und sterben, als wäre es eine Notwendigkeit und nicht eine freiwillige Selbstaufgabe gewesen. Er würde dem Tod selbst in seiner strengsten und grimmigsten Stimmung begegnen und ihn besiegen, indem er sich voll und ganz unterwirft. Auch dies ist eine, wenn auch schwierige, Lektion für den leidenden Christen.

Und so wurde er an sein Kreuz genagelt, das zwischen den Kreuzen der beiden mit ihm gekreuzigten Übeltäter stand, wahrscheinlich etwas höher als diese. blieb nur noch eines übrig: das Anbringen des so genannten „Titulus“ an Seinem Kreuz, auf dem die Anklage stand, wegen der Er verurteilt worden war. Wie bereits erwähnt, war es üblich, diese Tafel vor dem Gefangenen zu tragen, und es gibt keinen Grund, in dieser Hinsicht eine Ausnahme anzunehmen. In der Tat scheint der Umstand, dass der „Titel“ offensichtlich unter der Leitung von Pilatus verfasst worden war, darauf hinzuweisen. Er war – wie zu erwarten war, und doch höchst bezeichnend3 – dreisprachig: in Latein, Griechisch und Aramäisch. Wir nehmen an, dass es in dieser Reihenfolge geschrieben und dass die Worte die von den Evangelisten aufgezeichneten waren (mit Ausnahme von Lukas5 , der eine Abänderung des ursprünglichen oder aramäischen Textes wiedergibt). Die von Matthäus überlieferte Inschrift stimmt genau mit der überein, die Eusebiusc als lateinischen Titulus auf dem Kreuz eines der frühen Märtyrer überliefert. Wir schließen daraus, dass es sich um die lateinischen Worte handelt. Auch scheint es nur natürlich, dass die ausführlichste und für die Juden anstößigste Beschreibung in aramäischer Sprache verfasst wurde, die alle lesen konnten. Sehr bezeichnend ist, dass dies vom heiligen Johannes berichtet wird. Daraus folgt, dass die von Markus gegebene Inschrift der griechischen entsprechen muss. Obwohl sie viel weniger umfangreich war, hatte sie dieselbe Anzahl von Wörtern und genau dieselbe Anzahl von Buchstaben wie die von Johannes angegebene aramäische Inschrift.

Es scheint wahrscheinlich, dass die Sanhedristen von jemandem, der die Prozession auf dem Weg nach Golgatha beobachtet hatte, von der Inschrift gehört hatten, die Pilatus auf den „titulus“ geschrieben hatte – teils um sich an den Juden zu rächen, teils um sie zu verspotten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie Pilatus gebeten hätten, die Inschrift zu entfernen, nachdem sie am Kreuz angebracht worden war; und es scheint kaum glaubhaft, dass sie vor dem Prätorium gewartet hätten, bis die melancholische Prozession ihren Marsch antrat. Wir nehmen an, dass die Sanhedristen nach der Verurteilung Jesu vom Prätorium in den Tempel gegangen waren, um an dessen Gottesdiensten teilzunehmen. Als sie von der anstößigen Tafel erfuhren, eilten sie erneut zum Prätorium, um Pilatus zu veranlassen, die Anbringung der Tafel zu verhindern. Dies erklärt die Umkehrung der Reihenfolge des Berichts im Johannesevangelium,oder besser gesagt, seine Position in dieser Erzählung in unmittelbarer Verbindung mit dem Hinweis, dass die Sanhedristen befürchteten, die vorbeigehenden Juden könnten durch die Inschrift beeinflusst werden. Wir stellen uns vor, dass die Sanhedristen ursprünglich nicht die Absicht hatten, etwas so Unjüdisches zu tun, als die Leiden des Gekreuzigten nicht nur zu bestaunen, sondern ihn sogar in seinem Todeskampf zu verhöhnen – dass sie in Wirklichkeit gar nicht vorhatten, nach Golgatha zu gehen. Als sie aber sahen, dass Pilatus ihrem Drängen nicht nachgeben wollte, eilten einige von ihnen zum Ort der Kreuzigung und suchten, indem sie sich unter die Menge mischten, ihren Spott zu schüren, um jeden tieferen Eindruck zu verhindern, den die bedeutungsvollen Worte der Inschrift hätten hervorrufen können.

Bevor sie ihn ans Kreuz nagelten, teilten die Soldaten das armselige weltliche Erbe seiner Kleider unter sich auf. In diesem Punkt gibt es geringfügige scheinbare Unterschiede1 zwischen den Notizen der Synoptiker und dem ausführlicheren Bericht des Vierten Evangeliums. Solche Unterschiede würden, falls sie wirklich bestehen, nur einen neuen Beweis für die allgemeine Glaubwürdigkeit der Erzählung liefern. Wir müssen uns nämlich vor Augen halten, dass von allen Jüngern nur Johannes Zeuge der letzten Szenen war und dass daher die anderen Berichte, die in der frühen Kirche zirkulierten, gewissermaßen aus zweiten Quellen stammen müssen. Dies erklärt, warum vielleicht die größte Anzahl scheinbarer Unstimmigkeiten in den Evangelien in der Erzählung der letzten Stunden im Leben Christi auftritt, und wie, entgegen dem, was wir sonst vielleicht erwartet hätten, der detaillierteste und genaueste Bericht darüber von Johannes stammt. Im vorliegenden Fall lassen sich diese geringfügigen scheinbaren Unterschiede wie folgt erklären. Wie der heilige Johannes berichtet, gab es zunächst eine Aufteilung der fast gleichwertigen Gewänder des Herrn in vier Teile – einen für jeden der Soldaten. Die Kopfbedeckung, das äußere, mantelartige Gewand, der Gürtel und die Sandalen unterschieden sich kaum im Preis. Aber die Frage, welches von ihnen jedem der Soldaten gehören sollte, würde natürlich, wie uns die Synoptiker mitteilen, durch das Los entschieden werden.

Aber außer diesen vier Kleidungsstücken gab es noch das nahtlos gewebte innere Gewand,das bei weitem das wertvollste von allen war, und um das sie, da es nicht geteilt werden konnte, ohne zerstört zu werden, eigens das Los warfen3 (wie der heilige Johannes berichtet). Nichts in dieser Welt kann zufällig sein, denn Gott ist nicht weit weg von uns allen. Aber in der Geschichte Christi muß sich der göttliche Plan, der Gegenstand aller Prophezeiungen ist, ständig verwirklicht haben, ja, er muß sich dem Betrachter aufgedrängt haben, und zwar um so unwiderstehlicher, wenn, wie im vorliegenden Fall, die äußeren Umstände in so scharfem Gegensatz zur höheren Wirklichkeit standen. Für Johannes, den geliebten und geschätzten Jünger, konnte kaum ein größerer Kontrast bestehen als zwischen dieser groben Aufteilung durch das Los unter den Soldaten und dem Charakter und den Ansprüchen dessen, dessen Gewänder sie auf diese Weise aufteilten, als wäre er ein hilfloses Opfer in ihren Händen. Hier konnte es nur eine Erklärung geben: dass in der Erlaubnis eines solchen Ereignisses eine besondere göttliche Bedeutung lag – dass es die Erfüllung einer alten Prophezeiung war. Als er auf die schreckliche Szene blickte, erschienen ihm die Worte des Psalms 1, die die Verlassenheit, die Leiden und die Verachtung des Knechtes des Herrn bis zum Tod schilderten, im roten Licht der im Blut untergehenden Sonne. Sie blitzten in seinem Geist auf – zum ersten Mal verstand er sie; und die Flammen, die den Leidenden umspielten, wurden als das Opferfeuer gesehen, das das von ihm dargebrachte Opfer verzehrte. Allein die Tatsache, dass dieses Zitat im vierten Evangelium steht, beweist, dass sein Verfasser ein Augenzeuge war; dass es überhaupt im vierten Evangelium steht, beweist, dass er ein Jude war, tief durchdrungen von jüdischen religiösen Denkweisen. Und die Beweise für beides sind umso stärker, wenn wir uns an die vergleichsweise seltenen Zitate aus dem Alten Testament im Vierten Evangelium erinnern und an den eigentümlich jüdischen Charakter dieser Zitate.

Als sie ihn so ans Kreuz nagelten und seine Kleider zerteilten, sprach er das erste der sogenannten „Sieben Worte“: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. „Schon der Hinweis in diesem Gebet auf das, „was sie tun“ (weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft), weist auf die Soldaten als primäres, wenn auch sicher nicht einziges Ziel des Gebetes des Erlösers hin. b Aber auch höhere Gedanken kommen uns. In dem Augenblick der tiefsten Erniedrigung der menschlichen Natur Christi bricht das Göttliche am hellsten hervor. Es ist, als ob der Heiland in seinem Leiden alles rein Menschliche ablegen würde, so wie er zuvor den Kelch mit dem betäubenden Wein abgelegt hatte. Diese Soldaten waren nur die unbewussten Werkzeuge: die Form war nichts; der Kampf war zwischen dem Reich Gottes und dem der Finsternis, zwischen Christus und Satan, und diese Leiden waren nur der notwendige Weg des Gehorsams und zum Sieg und zur Herrlichkeit. Wenn er am menschlichsten ist (in dem Moment, in dem er ans Kreuz genagelt wird), dann ist er am göttlichsten, wenn er die menschlichen Elemente des menschlichen Werkzeugs und des menschlichen Leidens völlig ablegt. Auch in der völligen Selbstvergessenheit des Gottmenschen – die einer der Aspekte der Menschwerdung ist – gedenkt Er nur der göttlichen Barmherzigkeit und betet für die, die Ihn kreuzigen; und so besiegt auch der Besiegte wahrhaftig Seine Bezwinger, indem Er für sie erbittet, was sie durch ihre Tat verwirkt hatten. Und schließlich zeigt er dadurch, dass sowohl die erste als auch die letzte seiner Reden mit „Vater“ beginnt, durch die Ungebrochenheit seines Glaubens und seiner Gemeinschaft den wahren geistlichen Sieg, den er errungen hat. Und Er hat ihn nicht nur für die Märtyrer errungen, die von Ihm gelernt haben, so zu beten, wie Er es tat, sondern für jeden, der sich inmitten all dessen, was ihm am meisten entgegengesetzt zu sein scheint, über das bloße Vergessen dessen, was um ihn herum ist, hinaus erheben kann, um den Glauben und die Gemeinschaft mit Gott als „dem Vater“ zu verwirklichen – der durch den dunklen Wolkenvorhang hindurch den hellen Himmel erkennen und die unerschütterliche Zuversicht, wenn nicht gar die ungebrochene Freude des absoluten Vertrauens spüren kann.

Dies war seine erste Äußerung am Kreuz – in Bezug auf sie, in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf Gott. So hat der Mensch sicher nicht gelitten. Ist dieses Gebet Christi erhört worden? Wir wagen es nicht zu bezweifeln; ja, wir erkennen es in gewissem Maße in den Segenstropfen, die auf die Heiden gefallen sind und auch Israel, selbst in seiner Unwissenheit, einen Überrest nach der Auserwählung der Gnade gelassen haben.

Und nun begannen die wahren Qualen des Kreuzes – körperlich, seelisch und geistig. Es war das müde, unerlöste Warten, während sich die Dunkelheit immer mehr verdichtete. Bevor sie sich zu ihrer melancholischen Wache über den Gekreuzigten setzten, erfrischten sich die Soldaten nach ihrer Anstrengung, Jesus an das Kreuz zu nageln, es hochzuheben und zu befestigen, mit einem Schluck des billigen Weines des Landes. Während sie ihn tranken, stießen sie ihn in ihrer groben Brutalität an und traten spöttisch an ihn heran, indem sie ihn aufforderten, sie zu verpfänden. Ihre Spötteleien richteten sich zwar nicht in erster Linie gegen Jesus persönlich, sondern in seiner Stellvertreterfunktion und damit gegen die verhassten, verachteten Juden, deren König sie nun spöttisch herausforderten, sich selbst zu retten. Dennoch scheint es uns von tiefster Bedeutung, dass er in seiner Stellvertreterfunktion und als König der Juden so behandelt und verspottet wurde. Es ist das ungewollte Zeugnis der Geschichte, sowohl was den Charakter Jesu als auch was die Zukunft Israels betrifft. Aber was wir von fast jedem Standpunkt aus nur schwer verstehen können, ist die unsagbare Erniedrigung der Führer Israels – ihr moralischer Selbstmord in Bezug auf Israels Hoffnung und geistige Existenz. Dort, an jenem Kreuz, hing derjenige, der zumindest die große Hoffnung der Nation verkörperte; der sogar nach ihren eigenen Angaben bis zum Äußersten für diese Idee litt und sie dennoch nicht aufgab, sondern in unerschütterlichem Vertrauen an ihr festhielt; einer, gegen dessen Leben oder sogar Lehre kein Einwand erhoben werden konnte, außer dem dieser großen Idee. Und doch, als er ihnen in dem höhnischen Spott dieser heidnischen Soldaten begegnete, rief er keine anderen oder höheren Gedanken in ihnen hervor; und sie hatten die unbeschreibliche Niedertracht, sich dem Spott über Israels große Hoffnung anzuschließen und den Volkschor darin anzuführen!

Denn wir können nicht daran zweifeln, dass sie – vielleicht auch, um die Spitze des Spottes von Israel abzulenken – ihn aufgriffen und versuchten, ihn gegen Jesus zu richten; und dass sie den unwissenden Pöbel bei den kläglichen Versuchen des Spottes anführten. Und fühlte keiner von denen, die ihn in allen Hauptaspekten seines Werkes so schmähten, dass sie, wie Judas den Meister umsonst verkauft und Selbstmord begangen hatte, dies auch in Bezug auf ihre messianische Hoffnung taten? Denn ihr Spott verachtete die vier großen Tatsachen im Leben und Werk Jesu, die auch die Grundgedanken des messianischen Königreichs waren: die neue Beziehung zu Israels Religion und dem Tempel („Du, der du den Tempel zerstörst und ihn in drei Tagen wieder aufbaust“); die neue Beziehung zum Vater durch den Messias, den Sohn Gottes („Wenn du der Sohn Gottes bist“); die neue, allgenügende Hilfe für Leib und Seele in der Erlösung („Er hat andere gerettet“); und schließlich die neue Beziehung zu Israel in der Erfüllung und Vervollkommnung seiner Mission durch seinen König („Wenn er der König Israels ist“). Auf all das wirft die höhnische Herausforderung der Sanhedristen, vom Kreuz herabzusteigen und sich selbst zu retten, wenn er die Treue ihres Glaubens beanspruchen würde, das, was Matthäus und Markus als „Lästerung „des Zweifels bezeichnen. Wir vergleichen mit ihnen die Berichte des Lukas und des Johannes. Der Bericht des Lukas liest sich wie der Bericht eines Menschen, der die ganze Zeit über ganz in der Nähe war, vielleicht sogar an der Kreuzigung teilgenommen hat2 – man könnte fast vermuten, dass er von dem Hauptmann stammte. 3 Die Erzählung des Johannes liest sich deutlich wie die eines Augenzeugen, und er ist ein Judäer. Und wenn wir den allgemeinen jüdischen Stil und die alttestamentlichen Zitate mit den anderen Teilen des vierten Evangeliums vergleichen, haben wir das Gefühl, als ob (wie so oft) unter dem Einfluss der stärksten Emotionen die spätere Entwicklung und das eigentümliche Denken so vieler Jahre danach für eine Zeit lang aus dem Geist des Johannes getilgt oder vielmehr den jüdischen Denk- und Redeweisen Platz gemacht hätten, die ihm in früheren Tagen vertraut waren. Schließlich scheint der Bericht des Matthäus aus priesterlicher Sicht geschrieben zu sein, so als wäre er von einem der damals anwesenden Priester oder Sanhedristen verfasst worden.

Doch es gibt noch weitere Schlüsse, die wir ziehen können. Erstens besteht ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen dem, was Lukas als Ausspruch der Soldaten zitiert: „Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst“, und dem Bericht der Worte bei Matthäus:“Er hat andere gerettet – sich selbst kann er nicht retten. Er2 ist der König von Israel! Lasst ihn nun vom Kreuz herabsteigen, und wir werden an ihn glauben!‘ Dies sind die Worte der Sanhedristen, und sie scheinen auf die Worte der Soldaten zu antworten, wie sie der heilige Lukas berichtet, und sie weiterzuführen. Das „Wenn“ der Soldaten: „Wenn Du der König der Juden bist“, wird nun zu einer direkten gotteslästerlichen Herausforderung. Wenn wir daran denken, scheinen sie die frühere jüdische Forderung nach einem äußeren, unfehlbaren Zeichen zum Beweis seiner Messianität zu wiederholen, und zwar jetzt mit dem Gelächter des höllischen Triumphs. Aber sie greifen auch das auf und wiederholen, was Satan Jesus in der Versuchung in der Wüste vorgesetzt hatte. Zu Beginn seines Werkes hatte der Versucher vorgeschlagen, dass Christus den absoluten Sieg durch einen Akt anmaßender Selbstbehauptung erringen solle, der dem Geist Christi völlig zuwiderlief, den Satan aber als einen Akt des Vertrauens in Gott darstellte, den er mit Sicherheit anerkennen würde. Und nun, am Ende seines messianischen Werkes, suggerierte der Versucher in der Anfechtung der Sanhedristen, dass Jesus eine absolute Niederlage erlitten habe und dass Gott das Vertrauen, das der Christus in ihn gesetzt hatte, öffentlich zurückgewiesen habe: „Er vertraut auf Gott; wenn er ihn haben will, so soll er ihn jetzt befreien. „3 Hier, wie auch in der Versuchung in der Wüste, wurden die Worte der Heiligen Schrift falsch angewandt – in diesem Fall die aus Ps 22,8. Und das von den Sanhedristen angeführte Zitat ist umso bemerkenswerter, als dieser Psalm entgegen der allgemeinen Behauptung von Schriftstellern von der antiken Synagoge messianisch angewandt wurde. Vor allem dieser Vers,a der dem spöttischen Zitat der Sanhedristen vorausgeht, wurde ausdrücklich auf die Leiden und den Spott angewandt, die der Messias von seinen Feinden erdulden musste: „Alle, die mich sehen, verlachen mich; sie schießen die Lippen auf, sie schütteln den Kopf. „

Der Spott der Sanhedristen unter dem Kreuz war, wie bereits erwähnt, nicht völlig spontan, sondern hatte einen besonderen Grund. Der Ort der Kreuzigung lag nahe an der großen Straße, die vom Norden nach Jerusalem führte. An diesem Festtag, an dem es kein Gesetz gab, das die Fortbewegung wie am wöchentlichen Ruhetag auf eine „Sabbatfahrt“ beschränkte, gingen viele in die Stadt hinein und aus ihr heraus, und die Menge wurde natürlich vom Anblick der drei Kreuze angehalten. Ebenso natürlich wären sie von dem Titulus über dem Kreuz Christi beeindruckt gewesen. Die Worte, die den Leidtragenden als „König der Juden“ bezeichneten, hätten in Verbindung mit dem, was über Jesus bekannt war, höchst gefährliche Fragen aufwerfen können. Und dies sollte durch die Anwesenheit der Sanhedristen verhindert werden, indem die Meinung des Volkes in eine völlig andere Richtung gelenkt wurde. Es war genau eine solche Verhöhnung und Argumentation, die an den groben Realismus des gemeinen Volkes appellieren würde, der allzu oft fälschlicherweise als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet wird. Lukas schreibt den Spott über Jesus bezeichnenderweise nur den Machthabern zu,und wir wiederholen, dass der von Matthäus und Markus aufgezeichnete Spott der Vorübergehenden von diesen ausgelöst wurde. So lag auch hier die Hauptschuld bei den Führern des Volkes.

Ein weiteres Merkmal finden wir bei Lukas, das unseren Eindruck bestätigt, dass sein Bericht von einem stammt, der ganz nahe am Kreuz gestanden und wahrscheinlich offiziell an der Kreuzigung teilgenommen hat. Matthäus und Markus erwähnen lediglich allgemein, dass der Spott der Sanhedristen und des Volkes von den Schächern am Kreuz mitgetragen wurde. Eine Eigenschaft, die wir nicht nur für psychologisch zutreffend halten, sondern auch für umso wahrscheinlicher, als jede Sympathie oder mögliche Linderung ihrer Leiden am besten dadurch erreicht werden konnte, dass sie sich dem Spott der Führer anschlossen und die Empörung des Volkes auf Jesus konzentrierten. Lukas berichtet aber auch von einem entscheidenden Unterschied zwischen den beiden „Räubern“ am Kreuz. Der unbußfertige Dieb greift den Spott der Sanhedristen auf: „Bist du nicht der Christus? dich und uns!‘ Die Worte sind umso bedeutsamer, als sie sowohl die majestätische Ruhe und die mitleidige Liebe des Erlösers am Kreuz als auch die Äußerung des „reuigen Schächers“ widerspiegeln, denn – so seltsam es klingen mag – es scheint ein schreckliches Phänomen gewesen zu sein, das von den Geschichtsschreibern festgehalten wurde,3 dass die am Kreuz Hängenden die Zuschauer zu beschimpfen und zu verwünschen pflegten, weil die getriebene Natur vielleicht in solchen Ausbrüchen Erleichterung suchte. Nicht so, wenn das Herz in wahrer Reue berührt wurde.

Wenn eine genauere Betrachtung der Worte des „reuigen Diebes“ die Fülle der Bedeutung, die die traditionelle Sichtweise ihnen beimisst, zu schmälern scheint, so gewinnen sie umso mehr, je mehr wir ihre historische Realität erkennen. Seine ersten Worte waren ein Vorwurf an seinen Kameraden. Überkam ihn in jener schrecklichen Stunde, inmitten der Qualen eines langsamen Todes, nicht die Furcht vor Gott – zumindest so weit, dass er sich nicht dem schändlichen Spott derer anschloss, die die Todesqualen des Leidenden beleidigten? Und dies um so mehr, als die Umstände sehr merkwürdig waren. Sie waren alle drei Leidtragende; aber sie zwei zu Recht, während der, den er beleidigte, nichts Unrechtes getan hatte. Von dieser Tatsachenbasis aus stieg der Büßer schnell zur Höhe des Glaubens auf. Dies ist nicht ungewöhnlich, wenn ein Geist die Lektionen der Wahrheit in der Schule der Gnade lernt. Nur tritt es hier um so schärfer hervor, weil der dunkle Hintergrund, vor dem es sich abzeichnet, in so breiten und hell leuchtenden Umrissen erscheint. Die Stunde der tiefsten Erniedrigung Christi sollte, wie alle Augenblicke seiner größten Erniedrigung, durch eine Offenbarung seiner Herrlichkeit und seines göttlichen Charakters gekennzeichnet sein – gleichsam durch Gottes Zeugnis für ihn in der Geschichte, wenn nicht durch die Stimme Gottes vom Himmel. Und was den „Büßer“ selbst betrifft, so bemerken wir die Entwicklung in seiner Seele. Niemand konnte in Unkenntnis darüber sein – am wenigsten diejenigen, die mit ihm zur Kreuzigung geführt wurden -, dass Jesus nicht wegen eines Verbrechens oder einer politischen Bewegung gelitten hat, sondern weil er die große Hoffnung Israels verkörperte und von seinen Führern abgelehnt wurde. Und wenn jemand unwissend gewesen wäre, hätten der „Titel“ über dem Kreuz und die erbitterte Feindschaft der Sanhedristen, die ihn mit Spott und Hohn verfolgten, wo selbst die gewöhnliche Menschheit und noch mehr das jüdische Gefühl Schweigen, wenn nicht gar Mitleid geboten hätte, zeigen müssen, was die Motive der „Verurteilung“ Jesu gewesen waren. Aber wenn der Verstand erst einmal geöffnet war, um all diese Tatsachen zu erkennen, würde der Fortschritt schnell sein. In Stunden der Not kann ein Mensch sich selbst täuschen und auf verhängnisvolle Weise Furcht mit Gottesfurcht verwechseln, und die Erinnerung an bestimmte äußere Kenntnisse mit geistiger Erfahrung. Aber wenn ein Mensch in solchen Zeiten wirklich lernt, kann die Lehre von Jahren in Augenblicken komprimiert werden, und der sterbende Schächer am Kreuz könnte das Wissen übertreffen, das die Apostel in ihren Jahren der Nachfolge Christi erlangt haben.

Eines war dem „reuigen Dieb“, der in dieser Stunde Gott fürchtete, besonders bewusst. Jesus hatte nichts Falsches getan. Und dies umgab die Inschrift am Kreuz mit einem Heiligenschein aus moralischem Ruhm, lange bevor ihre Worte eine neue Bedeutung bekamen. Aber wie hat dieser Unschuldige sich im Leiden verhalten? Richtig königlich – nicht in einem irdischen Sinn, sondern in dem, in dem er allein das Reich beanspruchte. So hatte Er zu den Frauen gesprochen, die Ihn beklagten, als Seine schwache Gestalt die Last des Kreuzes nicht mehr tragen konnte; und so hatte Er den Zug abgelehnt, der Bewusstsein und Empfindungsvermögen betäubt hätte. Als sie dann zu dritt auf den Querbalken gestreckt wurden und in der ersten und schärfsten Agonie des Schmerzes die Nägel mit grausamen Hammerschlägen durch das bebende Fleisch getrieben wurden, und in der namenlosen Agonie, die den ersten Momenten der Kreuzigung folgte, war nur ein Gebet für diejenigen, die in Unwissenheit die Werkzeuge Seiner Folter waren, über Seine Lippen gekommen. Und doch war Er unschuldig, der so grausam litt! Alles, was danach kam, muss den Eindruck nur noch vertieft haben. Mit welcher Ruhe des Ertragens und mit welch majestätischem Schweigen hatte Er die Beleidigungen und den Spott derer ertragen, die selbst dem geistig nicht erleuchteten Auge so unendlich weit unter Ihm erschienen sein mussten! Dieser Mann spürte die „Furcht“ Gottes, der nun die neue Lektion lernte, dass die Gottesfurcht wahrhaftig der Anfang der Weisheit ist. Und als er einmal dem moralischen Element Platz machte, als er unter der Furcht Gottes seinen Kameraden zurechtwies, wurde diese neue moralische Entscheidung für ihn, wie so oft, der Anfang des geistlichen Lebens. Rasch ging er nun ins Licht, und weiter und weiter: Herr, gedenke meiner, wenn Du kommst in Deinem Reich!

Die vertrauten Worte unserer autorisierten Fassung – „Wenn Du in Dein Reich kommst“ – vermitteln die Vorstellung von dem, was wir als eine eher geistliche Bedeutung der Bitte bezeichnen könnten. Aber wir können kaum glauben, dass sie in jenem Moment entweder bedeutete, dass Christus in sein Reich eintrat, oder dass der „reuige Schächer“ auf Christus wartete, um in das Himmelreich aufgenommen zu werden. Die Worte entsprechen der jüdischen Sichtweise des Mannes. Er erkannte und besaß Jesus als den Messias, und er tat dies durch eine wunderbare Vorwärtsbewegung des Glaubens, sogar in der äußersten Erniedrigung Christi. Und das ging sofort über den jüdischen Standpunkt hinaus, denn er erwartete, dass Jesus bald in seiner königlichen Macht und Kraft wiederkommen würde, als er darum bat, von ihm in Gnade bedacht zu werden. Und hier müssen wir wieder bedenken, dass die Menschen während des Lebens Christi auf Erden, und zwar vor der Ausgießung des Heiligen Geistes, immer zuerst lernten, an die Person Christi zu glauben, und dann seine Lehre und seine Mission in der Vergebung der Sünden kennen. So war es auch in diesem Fall. Wenn der „reuige Dieb“ gelernt hatte, Christus kennenzulernen und um gnädige Anerkennung in seinem kommenden Reich zu bitten, so vermittelte die antwortende Zusicherung des Herrn nicht nur den Trost, dass sein Gebet erhört worden war, sondern auch die Belehrung über geistliche Dinge, die er noch nicht kannte und die er so sehr zu kennen brauchte. Der „Büßer“ hatte von der Zukunft gesprochen, Christus sprach vom „Heute“; der Büßer hatte um das kommende messianische Reich gebetet, Christus versicherte ihm den Zustand der körperlosen Geister und übermittelte ihm die Verheißung, dass er dort in der Wohnstätte der Seligen – dem „Paradies“ – sein würde, und zwar durch ihn selbst als den Messias: ‚Menschen, ich sage euch: Heute wirst du mit mir im Paradies sein‘. So gab ihm Christus die geistige Erkenntnis, die er noch nicht besaß – die Lehre vom „Heute“, von der Notwendigkeit der gnädigen Aufnahme in das Paradies, und zwar mit und durch ihn selbst – mit anderen Worten: von der Vergebung der Sünden und der Öffnung des Himmelreiches für alle Gläubigen. Dies war als erster und grundlegender Keim der Seele die erste und grundlegende Tatsache in Bezug auf den Messias.

Dies war die zweite Ansprache vom Kreuz. Die erste war von völliger Selbstvergessenheit, die zweite von tiefster, weisester, gnadenvollster geistlicher Belehrung. Und hätte er nichts anderes gesprochen, so wäre er als Sohn Gottes erwiesen worden.

Dem „Büßer“ am Kreuz bräuchte nichts mehr gesagt zu werden. Die folgenden Ereignisse und die Worte, die Jesus noch sprechen würde, würden ihn umfassender belehren, als dies sonst möglich gewesen wäre. Einige Stunden – wahrscheinlich zwei – waren vergangen, seit Jesus ans Kreuz genagelt worden war. Wir fragen uns, wie es dazu kommen konnte, dass Johannes, der uns einige der Geschehnisse mit so großer Genauigkeit und mit der lebendigen Erkenntnis eines zutiefst interessierten Augenzeugen berichtet, über andere schweigt – insbesondere über diese Stunden des Spottes sowie über die Bekehrung des reuigen Schächers. Sein Schweigen scheint uns auf seine Abwesenheit von der Szene zurückzuführen zu sein. Wir trennen uns von ihm nach seiner ausführlichen Schilderung der letzten Szene vor Pilatus. Nach der Verkündigung des letzten Urteils nehmen wir an, dass er in die Stadt eilte und die Jünger, die er dort antraf – vor allem die gläubigen Frauen und die Jungfrau -, mit den schrecklichen Szenen vertraut machte, die sich seit dem Vorabend abgespielt hatten. Von dort kehrte er nach Golgatha zurück, gerade rechtzeitig, um der Kreuzigung beizuwohnen, die er wiederum mit besonderer Ausführlichkeit schildert. b Als der Heiland ans Kreuz genagelt war, scheint Johannes noch einmal in die Stadt zurückgekehrt zu sein – diesmal, um die Frauen mitzunehmen, in deren Gesellschaft er jetzt in der Nähe des Kreuzes steht. Einen zarteren, zärtlicheren, liebevolleren Dienst als diesen hätte man nicht leisten können. Von allen Jüngern ist er der Einzige, der sich nicht scheut, in der Nähe Christi zu sein, im Palast des Hohenpriesters, vor Pilatus und jetzt unter dem Kreuz. Und er allein erweist Christus diesen zärtlichen Dienst, indem er die Frauen und Maria zum Kreuz bringt und ihnen den Schutz seiner Führung und Begleitung gewährt. Er liebte Jesus am meisten; und es war angemessen, dass seiner Männlichkeit und Zuneigung das unaussprechliche Vorrecht des gefährlichen Erbes Christi anvertraut wurde.

Die Erzählunga hinterlässt den Eindruck, dass diese vier Frauen zusammen mit dem geliebten Jünger in der Nähe des Kreuzes standen: die Mutter Jesu, die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Ein Vergleich mit den Überlieferungen bei Matthäusb und Markusc liefert weitere wichtige Einzelheiten. Dort ist nur von drei Frauen die Rede, der Name der Mutter unseres Herrn wird ausgelassen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich dies auf eine spätere Zeit der Kreuzigungsgeschichte bezieht. Es scheint, als ob Johannes das Gebot des Herrn buchstabengetreu erfüllt hätte: „Siehe, deine Mutter“, und sie buchstäblich „von jener Stunde an“ zu sich nach Hause genommen hat. Wenn wir mit dieser Annahme richtig liegen, dann würden sich die anderen drei Frauen in Abwesenheit des Johannes, der die Jungfrau-Mutter von diesem Ort des Schreckens wegführte, in die Ferne zurückziehen, wo wir sie am Ende finden, nicht „beim Kreuz“, wie in Johannes 19,25, sondern „aus der Ferne sehend“, und nun auch mit anderen, die Christus geliebt hatten und ihm gefolgt waren.

Wir stellen ferner fest, dass der Name der Jungfrau-Mutter weggelassen wurde, während die anderen drei dieselben sind, die der heilige Johannes erwähnt; nur wird Maria von Klopas jetzt als „die Mutter von Jakobus und Joses „und die „Schwester der Mutter“ Christi als „Salome“ und „die Mutter der Kinder des Zebedäus“ bezeichnet., die Frau des Zebedäus und Mutter des Johannes, war also die Schwester der Jungfrau Maria, und der geliebte Jünger war der Cousin (mütterlicherseits) Jesu und der Neffe der Jungfrau Maria. Dies erklärt auch, warum ihm die Sorge für die Mutter anvertraut wurde. Auch Maria, die Frau des Klopas, war nicht ohne Beziehung zu Jesus. In dem Bericht, den wir mit gutem Grund als vertrauenswürdig ansehen können, wird Klopas als der Bruder von Josef, dem Ehemann der Jungfrau, beschrieben. Somit wäre nicht nur Salome als Schwester der Jungfrau, sondern auch Maria als Frau des Klopas in gewissem Sinne seine Tante und ihre Söhne seine Vettern gewesen. Und so finden wir unter den zwölf Aposteln fünf Cousins des Herrn: die beiden Söhne von Salome und Zebedäus und die drei Söhne von Alphäus oder Klopas1 und Maria: Jakobus, Judas, genannt Lebbæus und Thaddæus, und Simon, genannt Zelotes oder Cananæan.

Jetzt können wir die Ereignisse in gewissem Maße nachvollziehen. Als Johannes den Erlöser ans Kreuz genagelt gesehen hatte, war er in die Stadt gegangen und hatte die Jungfrau zum letzten trauernden Abschied mitgebracht, begleitet von denen, die ihr am nächsten standen und natürlich bei ihr waren: ihre eigene Schwester Salome, die Schwägerin von Joseph und Frau (oder eher Witwe) von Klopas, und diejenige, die von allen anderen am meisten von seiner gesegneten Macht zu retten erfahren hatte – Maria von Magdala. Einmal mehr erkennen wir ehrfürchtig Seine göttliche Ruhe der völligen Selbstvergessenheit und Seine menschliche Fürsorge für andere. Als sie unter dem Kreuz standen, übergab Er Seine Mutter dem Jünger, den Er liebte, und stellte eine neue menschliche Beziehung zwischen ihm und derjenigen her, die Ihm am nächsten war. Und ruhig, ernsthaft und unverzüglich übernahm dieser Jünger den heiligen Auftrag und brachte sie, deren Seele das Schwert durchbohrt hatte, vom Schauplatz des unsagbaren Leids weg in den Schutz seines Hauses. Und diese zeitweilige Abwesenheit des Johannes vom Kreuz mag erklären, warum seine Erzählung bis zur Schlussszene keine Einzelheiten enthält.

Nun endlich war alles, was den irdischen Aspekt Seiner Mission betraf – soweit es am Kreuz geschehen musste – beendet. Er hatte für diejenigen gebetet, die Ihn in Unkenntnis dessen, was sie taten, ans Kreuz genagelt hatten; Er hatte den Reumütigen, die Seine Herrlichkeit in Seiner Erniedrigung erkannt hatten, den Trost der Gewissheit gegeben; und Er hatte die letzten Vorkehrungen der Liebe in Bezug auf diejenigen getroffen, die Ihm am nächsten standen. Die Beziehungen Seiner Menschlichkeit – alles, was Seine Menschennatur in irgendeiner Richtung berührte – waren sozusagen vollständig erfüllt worden. Er hatte mit dem menschlichen Aspekt Seines Werkes und mit der Erde abgeschlossen. Und dementsprechend schien die Natur nun traurigen Abschied von Ihm zu nehmen und ihren scheidenden Herrn zu betrauern, der sie durch Seine persönliche Verbindung mit ihr noch einmal aus der Erniedrigung des Falls in den Bereich des Göttlichen gehoben und sie zur Wohnstätte, zum Träger der Offenbarung und zum gehorsamen Boten des Göttlichen gemacht hatte.

Drei Stunden lang hatte der Heiland am Kreuz gehangen. Es war Mittagszeit. Und nun war die Sonne von der sechsten bis zur neunten Stunde in Finsternis gehüllt. Es ist zwecklos zu versuchen, den Ursprung dieser Finsternis zu ergründen. Es kann sich nicht um eine Sonnenfinsternis gehandelt haben, da es die Zeit des Vollmonds war; auch können wir uns nicht auf die späteren Berichte der kirchlichen Schriftsteller zu diesem Thema verlassen. Es scheint nur im Einklang mit der evangelischen Erzählung zu stehen, das Auftreten des Ereignisses als übernatürlich zu betrachten, während das Ereignis selbst durch natürliche Ursachen herbeigeführt worden sein könnte; und unter diesen müssen wir die besondere Aufmerksamkeit auf das Erdbeben lenken, mit dem diese Finsternis endete. a Denn es ist ein bekanntes Phänomen, dass solche Finsternisse nicht selten Erdbeben vorausgehen. Andererseits muss man freimütig zugeben, dass die Sprache der Evangelisten anzudeuten scheint, dass sich diese Finsternis nicht nur über das Land Israel, sondern über die ganze bewohnte Erde erstreckte. Der Ausdruck darf natürlich nicht wörtlich genommen werden, sondern muss so erklärt werden, dass er sich weit über Judäa und andere Länder erstreckt. Der Umstand, dass weder das Erdbeben noch die vorangegangene Finsternis von irgendeinem weltlichen Schriftsteller, dessen Werke erhalten sind, erwähnt werden, lässt keinen vernünftigen Einwand zu, da man sicher nicht behaupten würde, dass von jedem Erdbeben, das sich ereignet hat, und von jeder Finsternis, die ihm vorausgegangen sein mag, eine historische Aufzeichnung erhalten sein muss. Am ungerechtesten ist jedoch das Argument, das den unhistorischen Charakter dieser Erzählung durch Berufung auf sogenannte jüdische Sprüche zu begründen versucht, die eine ähnliche Erwartung zum Ausdruck bringen. 1 Es ist ganz richtig, dass in der alttestamentlichen Prophetie – ob im übertragenen oder im wirklichen Sinne – die Verfinsterung nicht nur der Sonne, sondern auch des Mondes und der Sterne manchmal nicht mit der Ankunft des Messias, noch weniger mit seinem Tod, sondern mit dem Endgericht in Verbindung gebracht wird. Aber die jüdische Tradition spricht nie von einem solchen Ereignis im Zusammenhang mit dem Messias oder gar mit den messianischen Gerichten, und die von negativen Kritikern angeführten Zitate aus rabbinischen Schriften müssen nicht nur als unzutreffend, sondern sogar als ungerecht bezeichnet werden.

Aber um von dieser schmerzhaften Abschweifung zurückzukommen. Die dreistündige Finsternis betraf nicht nur die Natur; auch Jesus trat in die Finsternis ein: Körper, Seele und Geist. Es war jetzt, nicht wie vorher, ein Kampf, sondern ein Leiden. In diese für uns unergründliche Tiefe des Geheimnisses Seines Leidens wagen wir nicht einzudringen, und wir können es auch nicht. Es ging um den Leib, aber nicht nur um den Leib, sondern um das physische Leben. Und es betraf die Seele und den Geist, doch nicht nur sie, sondern in ihrer bewussten Beziehung zum Menschen und zu Gott. Und es ging nicht um das Menschliche allein in Christus, sondern in seiner unauflöslichen Verbindung mit dem Göttlichen: um das Menschliche, wo es die äußerste Grenze der Erniedrigung von Körper, Seele und Geist erreichte – und in ihm um das Göttliche, bis zur äußersten Selbstauslöschung. Die zunehmenden, namenlosen Qualen der Kreuzigung1 vertieften sich in die Bitterkeit des Todes. Die ganze Natur schreckt vor dem Tod zurück, und es gibt einen physischen Schrecken vor der Trennung zwischen Körper und Seele, der als rein natürliche Erscheinung in jedem Fall nur durch ein höheres Prinzip überwunden wird. Und wir stellen uns vor, dass das Band, mit dem Gott der Allmächtige ursprünglich Leib und Seele zusammenhielt, umso heftiger zerrissen wird, je reiner das Wesen ist. Bei dem Vollkommenen Menschen muss dies den höchsten Grad erreicht haben. So war auch in jenen dunklen Stunden das Gefühl der Menschenverlassenheit und der eigenen Isolierung von den Menschen; so war auch das intensive Schweigen Gottes, der Rückzug Gottes, das Gefühl seiner Gottverlassenheit und absoluten Einsamkeit. Wir wagen hier nicht, von strafendem Leiden zu sprechen, sondern von Verlassenheit und Einsamkeit. Doch wenn wir uns fragen, wie diese Gottverlassenheit angesichts seines göttlichen Bewusstseins, das zumindest durch seine Selbsterlöschung nicht völlig ausgelöscht werden konnte, als so vollständig angesehen werden kann, spüren wir, dass noch ein weiteres Element berücksichtigt werden muss. Christus hat am Kreuz für die Menschen gelitten; Er hat sich selbst als Opfer dargebracht; Er ist für unsere Sünden gestorben, und da der Tod der Lohn der Sünde war, ist Er stellvertretend für die Menschen gestorben – für die Menschen und an ihrer Stelle; Er hat für die Menschen die „ewige Erlösung“ , indem Er Sein Leben „als Lösegeld „b für viele gegeben hat. Denn die Menschen wurden „erlöst“ mit dem „kostbaren Blut Christi, wie von einem Lamm ohne Fehl und Tadel“; und Christus „gab sich selbst für uns, damit er uns von aller Schuld „erlöste“; d Er „gab sich selbst als Lösegeld für alle“; Christus „starb für alle“; Er, der keine Sünde kannte, wurde von Gott „zur Sünde für uns gemacht“; „Christus erlöste uns von dem Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch wurde“ – und dies mit ausdrücklichem Bezug auf die Kreuzigung. Dieser aufopfernde, stellvertretende, sühnende und erlösende Charakter seines Todes erklärt uns zwar nicht, hilft uns aber, Christi Sinn für Gottverlassenheit im höchsten Augenblick des Kreuzes zu verstehen; wenn man so will, den passiven Charakter seines Handelns durch den aktiven Charakter seines Passivs.

Es war diese Kombination des alttestamentlichen Opfergedankens und des alttestamentlichen Ideals des bereitwilligen Leidens als Diener Jehovas, das sich nun in Christus erfüllte, die ihren vollsten Ausdruck in der Sprache des zweiundzwanzigsten Psalms fand. Es war passend – oder besser gesagt, es war wahr -, dass das bereitwillige Leiden des wahren Opfers nun in den ersten Worten des Psalms zum Ausdruck kommen sollte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – Eli, Eli, lema sabachthanei? Diese Worte, die mit lauter Stimme2 am Ende der extremen Agonie3 ausgerufen wurden, markierten den Höhepunkt und das Ende dieses Leidens Christi, dessen äußerster Rahmen der Rückzug Gottes und die gefühlte Einsamkeit des Leidenden war. Diejenigen aber, die am Kreuz standen, legten den Sinn falsch aus und verwechselten die einleitenden Worte mit dem Namen Elias und glaubten, der Leidende habe nach Elias gerufen. Wir können kaum bezweifeln, dass dies die Soldaten waren, die beim Kreuz standen. Sie waren nicht unbedingt Römer; im Gegenteil, wie wir gesehen haben, rekrutierten sich diese Legionen im Allgemeinen aus Provinzlern. Andererseits würde kein Jude Eli mit dem Namen Elia verwechseln und auch ein Zitat aus Psalm 22,1 nicht als Ruf nach diesem Propheten missverstehen. Und es muss daran erinnert werden, dass die Worte nicht geflüstert, sondern mit lauter Stimme gerufen wurden. Aber alles stimmt mit dem Missverständnis der nichtjüdischen Soldaten überein, die, wie die ganze Geschichte zeigt, von seinen Anklägern und dem wütenden Pöbel Bruchstücke einer verzerrten Geschichte über den Christus erfahren hatten.

Und schon tauchte der Leidende auf der anderen Seite auf. Es kann kaum eine oder zwei Minuten von dem Zeitpunkt an gewesen sein, als der Schrei aus dem zweiundzwanzigsten Psalm den Höhepunkt Seiner Qual markierte, als die Worte „Mich dürstet“ darauf hinzuweisen scheinen, dass durch das Überwiegen des rein menschlichen Aspekts des Leidens der andere und schrecklichere Aspekt des Sündentragens und der Gottverlassenheit vorbei war. Für uns scheint dies daher der Beginn, wenn nicht des Sieges, so doch der Ruhe, des Endes zu sein. Der heilige Johannes berichtet als einziger über diese Äußerung und stellt ihr die bezeichnende Aussage voran, dass Jesus sich so dem menschlichen Gefühl hingab und die leibliche Erleichterung suchte, indem er seinem Durst Ausdruck verlieh: „da er wusste, dass nun alles vollbracht war, damit die Schrift erfüllt würde.Mit anderen Worten: Der Höhepunkt des theanthropischen Leidens in seinem Gefühl der Gottverlassenheit, das zum Ausspruch von Psalm 22,1 geführt hatte, war nun in seinem Bewusstsein das Ende all dessen, was er gemäß der Vorhersage der Schrift zu ertragen hatte. Er konnte sich nun den rein körperlichen Bedürfnissen Seines Leibes hingeben und tat es auch.

Es scheint, als ob Johannes, der vielleicht gerade an den Ort des Geschehens zurückgekehrt war und mit den Frauen „in der Ferne“ stand und diese Dinge sahauf den Schrei aus Psalm 22,hin nach vorne eilte und ihn das Gefühl des Durstes ausdrücken hörte, das unmittelbar darauf folgte. Und so liefert Johannes allein die Verbindung zwischen diesem Schrei und der Bewegung der Soldaten, die Matthäus und Markus sowie Johannes berichten. Denn es wäre unverständlich, warum einer von ihnen auf den Ruf, den die Soldaten als Ruf nach Elia ansahen, eilte, um seinen Durst zu stillen, wenn es nicht die im vierten Evangelium aufgezeichnete Äußerung gäbe. Aber wir können es durchaus verstehen, wenn der Ausspruch „Mich dürstet“ unmittelbar auf den vorhergehenden Ruf folgte.

Einer der Soldaten – man darf wohl nicht glauben, dass es einer war, der entweder schon an jenem Kreuz gelernt hatte oder im Begriff war zu lernen, Ihn als Herrn anzuerkennen -, der von Mitleid bewegt war, eilte nun herbei, um dem Leidenden eine kleine Erfrischung anzubieten, indem er einen Schwamm mit dem rauen Wein der Soldaten füllte und ihn an seine Lippen legte, nachdem er ihn zuvor am Stiel (‚Schilfrohr‘) des Ysop befestigt hatte, von dem gesagt wird, dass er bis zu zwei oder drei Fuß hoch wachsen könne. Aber auch dieser Akt der Menschlichkeit blieb nicht unbeanstandet von den groben Sticheleien der anderen, die ihn aufforderten, die Linderung des Leidenden dem Wirken des Elias zu überlassen, den er ihrer Meinung nach angerufen hatte. Wir sollten uns vielleicht auch nicht über die Schwäche des Soldaten selbst wundern, der sich zwar nicht an seiner guten Tat hindern ließ, aber den Widerstand der anderen abwehrte, indem er sich scheinbar ihrem Spott anschloss.

Indem der Herr die ihm angebotene körperliche Erfrischung annahm, deutete er einmal mehr die Vollendung seines Leidenswerkes an. Denn so wie Er es nicht mit durch narkotisierten Wein betäubten Sinnen und körperlichem Bewusstsein betreten wollte, so wollte Er es auch nicht mit durch den absoluten Ausfall der Lebenskraft betäubten Sinnen und körperlichem Bewusstsein wieder verlassen. Daher nahm Er das, was für den Augenblick das körperliche Gleichgewicht wiederherstellte, das für Gedanken und Worte notwendig war. Und so ging Er sofort weiter, um „den Tod für jeden Menschen zu schmecken“. Denn nun folgten in rascher Folge die beiden letzten „Aussprüche“ des Heilands: erstens der mit lauter Stimme, der zum Ausdruck brachte, dass das ihm aufgetragene Werk, soweit es sein Leiden betraf, „vollendet“ warund zweitens der mit den Worten von Psalm 31,5, mit dem er seinen Geist in die Hände des Vaters empfahl. Versuche eines Kommentars könnten die feierlichen Gedanken, die die Worte wecken, nur abschwächen. Dennoch sollten einige Punkte für unsere Lehre beachtet werden. Sein letzter Schrei „mit lauter Stimme“ war nicht wie der eines Sterbenden. Der heilige Markus schreibt, dass dies einen tiefen Eindruck auf den Hauptmann machte. c In der Sprache des frühchristlichen Hymnus war es nicht der Tod, der sich Christus näherte, sondern Christus der Tod: Er starb ohne den Tod. Christus begegnete dem Tod nicht als Besiegter, sondern als der Überwinder. Und auch das war Teil seines Werkes, und zwar für uns: der Beginn seines Triumphes. Und damit stimmt auch die eigentümliche Sprache des Johannes überein, dass Er „das Haupt beugte und den Geist aufgab“ (τὸ πνεῦμα).

Wir sollten auch die Besonderheiten Seiner letzten Ansprache nicht übersehen. Der „Mein Gott“ des vierten Psalms war wieder in den „Vater“ der bewussten Gemeinschaft übergegangen. Und doch kommt weder im hebräischen Original dieses Psalms noch in seiner griechischen Übersetzung durch die LXX das Wort „Vater“ vor. Auch in der Übersetzung des hebräischen Textes durch die LXX. steht dieses Wort, das die Beauftragung ausdrückt, im Futur; im Munde unseres Herrn steht es im Präsens. Und das Wort bedeutet im neutestamentlichen Sinn nicht nur empfehlen, sondern auch hinterlegen, zur sicheren Aufbewahrung übergeben. 3 Dass er im Sterben – oder besser gesagt, als er dem Tod begegnete und ihn überwand – diese Worte wählte und anwandte, ist Anlass zu tiefster Dankbarkeit für die Kirche. Er hat sie für sein Volk in einem doppelten Sinn gesprochen: für sie, damit sie fähig sind, sie zu sprechen, und „für sie“, damit sie sie fortan nach ihm sprechen können. Wie viele Tausende haben sich auf sie gestützt, wenn sie zur Ruhe gehen wollten! Es waren die letzten Worte eines Polykarp, eines Bernhard, eines Huss, eines Luther und eines Melanchthon. Und auch für uns mögen sie das passendste und sanfteste Wiegenlied sein. Und in „dem Geist“, den er Gott anvertraut hatte, stieg er nun hinab in den Hades „und predigte den Geistern im Gefängnis“.Aber hinter diesem großen Geheimnis haben sich die zweiflügeligen Tore aus Messing verschlossen, die nur die Hand des Eroberers aufsprengen konnte.

Und nun ging ein Schauer durch die Natur, denn ihre Sonne war untergegangen. Wir wagen es nicht, mehr zu tun, als den schnellen Umrissen der evangelischen Erzählung zu folgen. Als erstes Zeichen wird berichtet, wie der Tempelschleier von oben nach unten zerrissen wird; als zweites das Beben der Erde, das Zerreißen der Felsen und das Öffnen der Gräber. Obwohl die meisten Autoren dies als Hinweis auf eine streng chronologische Abfolge angesehen haben, gibt es im Text nichts, was uns zu einer solchen Schlussfolgerung zwingt. So wird zwar das Zerreißen des Schleiers als erstes aufgezeichnet, weil es das bedeutendste Zeichen für Israel ist, aber es kann auch mit dem Erdbeben zusammenhängen, obwohl dies allein kaum das Zerreißen eines so schweren Schleiers von oben nach unten erklären kann. Auch der letzte Umstand hat seine Bedeutung. Dass sich um diese Zeit im Heiligtum eine große Katastrophe ereignete, die auf die bevorstehende Zerstörung des Tempels hindeutete, wird durch nicht weniger als vier voneinander unabhängige Zeugnisse bestätigt: die des Tacitus,des Josephus,2 des Talmuds,und der frühesten christlichen Tradition. 4 Die wichtigsten dieser Zeugnisse sind natürlich der Talmud und Josephus. Letzterer spricht vom mysteriösen Erlöschen des mittleren und wichtigsten Lichtes im goldenen Leuchter vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels; und sowohl er als auch der Talmud beziehen sich auf eine übernatürliche Öffnung der großen Tempeltore, die zuvor verschlossen waren, was als Vorzeichen für die kommende Zerstörung des Tempels angesehen wurde. Wir können kaum daran zweifeln, dass einer so eigentümlichen und weit verbreiteten Überlieferung eine historische Tatsache zugrunde liegen muss, und wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine verzerrte Version des Ereignisses des Zerreißens des Tempelschleiers (oder seines Berichts) bei der Kreuzigung Christi handeln könnte.

Aber selbst wenn das Zerreißen des Tempelschleiers mit dem Erdbeben und, wie das Hebräer-Evangelium berichtet, mit dem Zerbrechen des großen Türsturzes über dem Eingang begonnen hätte, ließe es sich auf diese Weise nicht vollständig erklären. Nach jüdischer Überlieferung gab es in der Tat zwei Schleier vor dem Eingang zum Allerheiligsten. Der Talmud erklärt dies damit, dass nicht bekannt war, ob im früheren Tempel der Schleier innerhalb oder außerhalb des Eingangs hing und ob die Trennwand im Heiligen oder im Allerheiligsten gestanden hatte. b Daher gab es (nach Maimonides)keine Wand zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten, sondern der Raum von einer Elle, der im früheren Tempel dafür vorgesehen war, blieb unbesetzt, und ein Schleier hing an der Seite des Heiligen, der andere an der des Allerheiligsten. Nach einem Bericht aus der Zeit des Tempels gab es insgesamt dreizehn Schleier, die in verschiedenen Teilen des Tempels verwendet wurden – zwei neue wurden jedes Jahr angefertigt. d Die Schleier vor dem Allerheiligsten waren 40 Ellen (60 Fuß) lang und 20 (30 Fuß) breit, handtellergroß und in 72 Quadraten gearbeitet, die miteinander verbunden waren; und diese Schleier waren so schwer, dass es in der übertriebenen Sprache der damaligen Zeit 300 Priester brauchte, um sie zu handhaben. Wenn der Schleier überhaupt so war, wie er im Talmud beschrieben wird, konnte er nicht durch ein bloßes Erdbeben oder das Herabfallen des Türsturzes zerrissen werden, obwohl seine Zusammensetzung aus aneinander befestigten Quadraten erklären könnte, wie der Riss wie im Evangelium beschrieben sein könnte.

In der Tat scheint alles darauf hinzudeuten, dass, obwohl das Erdbeben die physische Grundlage bilden mag, der Riss des Tempelschleiers – mit Ehrfurcht sei es gesagt – tatsächlich durch die Hand Gottes verursacht wurde. Nach unseren Berechnungen könnte es gerade die Zeit gewesen sein, in der die amtierende Priesterschaft beim Abendopfer das Heiligtum betrat, entweder um den Weihrauch zu verbrennen oder um dort einen anderen heiligen Dienst zu verrichten. Vor ihnen zu sehen, nicht wie der greise Zacharias am Anfang dieser Geschichte den Engel Gabriel, sondern den Schleier des Heiligtums, der von oben bis unten zerrissen war – darüber hinaus hätten sie kaum sehen können – und in zwei Teilen von seinen Befestigungen oben und an der Seite herabhing, war in der Tat ein schreckliches Vorzeichen, das bald allgemein bekannt wurde und in der einen oder anderen Form in der Überlieferung erhalten geblieben sein muss. Und alle müssen verstanden haben, dass es bedeutete, dass Gottes eigene Hand den Schleier zerrissen und das Allerheiligste, in dem er so lange im geheimnisvollen Dunkel gewohnt hatte, das nur einmal im Jahr durch den Schein des Räuchergefäßes desjenigen erhellt wurde, der für die Sünden des Volkes Sühne leistete, für immer verlassen und aufgerissen hatte.

An anderen Zeichen mangelte es nicht. Bei dem Erdbeben wurden die Felsen zerrissen und ihre Gräber geöffnet. Dies, als Christus in den Hades hinabstieg. Und als er am dritten Tag aufstieg, war er bei den siegreichen Heiligen, die diese offenen Gräber verlassen hatten. Vielen in der Heiligen Stadt erschienen an jenem denkwürdigen ersten Tag und in der darauf folgenden Woche die Leiber vieler dieser Heiligen, die in der süßen Hoffnung auf das, was nun Wirklichkeit geworden war, eingeschlafen waren.

Aber auf diejenigen, die unter dem Kreuz und in seiner Nähe standen, machte all das, was sie sahen, den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck. Unter ihnen ist besonders der Zenturio zu erwähnen, unter dessen Befehl die Soldaten standen. Er muss in jenen traurigen Zeiten der Kreuzigung viele Szenen des Grauens erlebt haben, aber keine wie diese. Nur eine Schlussfolgerung konnte sich ihm aufdrängen. Es war diejenige, die, wie wir nicht bezweifeln können, seinen Eindruck auf sein Herz und sein Gewissen gemacht hatte. Jesus war nicht das, was die Juden, seine wütenden Feinde, ihn beschrieben hatten. Er war das, was er zu sein behauptete, was sein Leiden am Kreuz und sein Tod ihm bescheinigten: „gerecht“ und daher „der Sohn Gottes“. Von da aus war es nur noch ein Schritt bis zur persönlichen Zugehörigkeit zu ihm, und wie bereits angedeutet, verdanken wir ihm möglicherweise einige der Details, die nur der heilige Lukas bewahrt hat.

Der kurze Frühlingstag ging auf den „Abend des Sabbats“ zu. Im Allgemeinen ordnete das Gesetz an, dass der Leichnam eines Verbrechers nicht über Nacht unbestattet bleiben durfte. Unter normalen Umständen hätten sich die Juden vielleicht nicht so vertrauensvoll an Pilatus gewandt, dass sie ihn tatsächlich gebeten hätten3 , die Leiden der Gekreuzigten zu verkürzen, denn die Strafe der Kreuzigung dauerte oft nicht nur Stunden, sondern Tage, bevor der Tod eintrat. Aber hier gab es einen besonderen Anlass. Der bevorstehende Sabbat war ein „hoher Tag“ – es war sowohl ein Sabbat als auch der zweite Ostertag, der in jeder Hinsicht als ebenso heilig angesehen wurde wie der erste – ja sogar noch heiliger, denn an diesem Tag wurde dem Herrn das so genannte Schaubrot geopfert. Und was die Juden Pilatus nun vorschlugen, war zwar eine Verkürzung, aber keineswegs eine Milderung der Strafe. Manchmal wurde der Strafe der Kreuzigung das Brechen der Knochen (crurifragium, σκελοκοπία) mit einer Keule oder einem Hammer hinzugefügt. Dies brachte zwar nicht den Tod, aber auf das Brechen der Knochen folgte immer ein Gnadenstoß durch Schwert, Lanze oder Hieb (die perforatio oder percussio sub alas), der dem Leben sofort ein Ende setzte. Das „Brechen der Knochen“ war also eine Art Strafverschärfung, als Ausgleich für die Verkürzung der Strafe durch den abschließenden Schlag.

Es wäre ungerecht, anzunehmen, dass die Juden in ihrem Bestreben, den Buchstaben des Gesetzes bezüglich der Bestattung am Vorabend dieses hohen Sabbats zu erfüllen, die Leiden Jesu zu verstärken suchten. Der Text gibt keinen Hinweis darauf; und sie hätten nicht verlangen können, dass der letzte Schlag ohne das „Brechen der Gebeine“, das ihm immer vorausging, ausgeführt wird. Die Ironie dieser peinlich genauen Einhaltung des Gesetzes über das Begräbnis und den hohen Sabbat durch diejenigen, die ihren Messias am ersten Pessachtag verraten und gekreuzigt hatten, ist groß genug und, fügen wir hinzu, schrecklich, ohne dass sie fiktive Elemente einbringen. Der heilige Johannes, der vielleicht unmittelbar nach dem Tod Christi das Kreuz verließ, berichtet allein von diesem Umstand. Vielleicht erfuhr er, als er mit Josef von Arimathäa, mit Nikodemus oder den beiden Marias Maßnahmen für die Bestattung Christi absprach, von der jüdischen Deputation bei Pilatus, folgte ihr zum Prätorium und beobachtete dann, wie sich das Ganze auf Golgatha vollzog. Er berichtet, wie Pilatus der jüdischen Forderung nachkam und Anweisungen für das Crurifragium und die Erlaubnis für die nachträgliche Beseitigung der Leichen gab, die man sonst hätte hängen lassen können, bis die Verwesung oder Raubvögel sie vernichtet hätten. Johannes erzählt uns aber auch etwas, das er offensichtlich für ein so großes Wunder hält, dass er sich dafür besonders verbürgt, indem er seine eigene Wahrhaftigkeit als Augenzeuge versichert und darauf einen Appell an den Glauben der Adressaten seines Evangeliums gründet. Es ist nämlich so, dass bestimmte „Dinge geschahen [nicht wie in unserer A.V., „geschahen“], damit die Schrift erfüllt würde“, oder, anders ausgedrückt, durch die die Schrift erfüllt wurde. Dies waren zwei Dinge, zu denen noch ein drittes, nicht weniger bemerkenswertes Phänomen hinzukommt. Denn erstens, als die Soldaten im Krurifragium den beiden Übeltätern die Knochen gebrochen hatten und dann zum Kreuz Jesu kamen, fanden sie, dass er schon tot war, und so war „ein Knochen von ihm“ „nicht gebrochen“. Wäre es anders gewesen, so wäre sowohl die Schrift über das Osterlamm die über den gerechten, leidenden Knecht Jehovas b gebrochen worden. In Christus allein sind diese beiden Vorstellungen vom Osterlamm und vom gerechten, leidenden Knecht Jehovas zu einer Einheit verbunden und in ihrer höchsten Bedeutung erfüllt. Und als es durch ein merkwürdiges Zusammentreffen von Umständen „geschah“, dass wider Erwarten „ein Bein von ihm“ nicht zerbrochen wurde, diente diese äußere Tatsache als Fingerzeig auf die Vorhersagen, die sich in ihm erfüllten.

Nicht weniger bemerkenswert ist die zweite Tatsache. Wenn am Kreuz Christi diese beiden Grundgedanken der prophetischen Beschreibung des Messiaswerkes dargelegt worden waren: die Erfüllung des Osteropfers, das als Bundesopfer allen Opfern zugrunde lag, und die Erfüllung des Ideals des gerechten Gottesknechtes, der in einer gottesfeindlichen Welt leidet und dennoch sein Reich verkündet und verwirklicht, blieb noch eine dritte Wahrheit zu zeigen. Sie bezog sich nicht auf den Charakter, sondern auf die Wirkungen des Werkes Christi – seine Aufnahme in der Gegenwart und in der Zukunft. Dies war in den Prophezeiungen Sacharjas angedeutet worden,die voraussagten, dass Gott am Tag der endgültigen Befreiung und nationalen Bekehrung Israels den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen würde, und dass, wenn „sie auf den blicken werden, den sie durchbohrt haben“, ihnen der Geist wahrer Reue zuteil werden würde, sowohl national als auch individuell. Die Anwendung auf Christus ist umso auffälliger, als selbst der Talmud die Prophezeiung auf den Messias bezieht. Und da diese beiden Dinge wirklich auf Christus zutrafen, sowohl in seiner Verwerfung als auch in seiner zukünftigen Wiederkunft,so wies das seltsame geschichtliche Ereignis bei seiner Kreuzigung einmal mehr darauf hin, dass es die Erfüllung der biblischen Prophezeiung war. Denn obwohl die Soldaten, als sie Jesus für tot hielten, nicht eines seiner Gebeine zerbrachen, durchbohrte doch einer von ihnen, um sich seines Todes zu vergewissern, mit einer Lanze „seine Seite“ mit einer Wunde, die so tief war, dass Thomas danach seine Hand in seine Seite hätte stoßen können.

Und mit diesen beiden, die die Heilige Schrift erfüllen, war noch ein drittes Phänomen verbunden, das für beide symbolisch ist. Als der Soldat die Seite des toten Christus durchbohrte, „floss alsbald Blut und Wasser heraus“. Einige haben angenommen,dass es dafür eine physische Ursache gab – dass Christus buchstäblich an einem gebrochenen Herzen gestorben war und dass, als die Lanze zuerst die mit Blut gefüllte Lunge und dann den mit seröser Flüssigkeit gefüllten Herzbeutel durchbohrte,2 dieser doppelte Strom aus der Wunde floss. In solchen Fällen würde die Lehre lauten, dass die Vorwürfe buchstäblich sein Herz gebrochen haben. a Wir können aber kaum glauben, dass Johannes dies hätte vermitteln wollen, ohne es klar darzulegen – und damit bei seinen Lesern die Kenntnis eines obskuren und, wie man hinzufügen muss, wissenschaftlich zweifelhaften Phänomens vorausgesetzt hätte. Daher glauben wir eher, dass für Johannes, wie für die meisten von uns, die Bedeutung der Tatsache darin lag, dass aus dem Leib eines Toten Blut und Wasser geflossen waren – dass die Verwesung nicht an ihm haftete. Dann wäre da die symbolische Bedeutung, die das Wasser (aus dem Herzbeutel) und das Blut (aus dem Herzen) vermitteln – eine höchst zutreffende Symbolik, wenn die Verwesung keine Macht und keinen Einfluss auf Ihn hatte – wenn Er im Tod nicht tot war, wenn Er den Tod und die Verwesung besiegte und in dieser Hinsicht auch das prophetische Ideal erfüllte, die Verwesung nicht zu sehen. Auf diese symbolische Bedeutung des Fließens von Wasser und Blut aus seiner durchbohrten Seite, auf die der Evangelist in seinem Brief eingeht,c und auf ihren ewigen Ausdruck in der Symbolik der beiden Sakramente, können wir den nachdenklichen Christen nur hinweisen. Denn die beiden Sakramente bedeuten, dass Christus gekommen ist; dass über Ihn, der für uns gekreuzigt wurde und uns mit seinem zerbrochenen Herzen bis zum Tod geliebt hat, Tod und Verderben keine Macht haben; und dass Er für uns lebt mit der verzeihenden und reinigenden Kraft seines dargebrachten Opfers.

Doch eine weitere Szene bleibt zu erwähnen. Ob vor oder, was wahrscheinlicher ist, nach der jüdischen Deputation an den römischen Statthalter, kam ein anderes, seltsames Gesuch zu Pilatus. Sie stammte von einem anscheinend gut bekannten Mann, der nicht nur reich und angesehen war,sondern dessen vornehme Haltung4 seiner gesellschaftlichen Stellung entsprach und der als gerechter und guter Mann bekannt war. Joseph von Arimathæa war ein Sanhedrist,aber er hatte weder dem Rat noch der Tat seiner Kollegen zugestimmt. Es muss allgemein bekannt gewesen sein, dass er zu denen gehörte, „die auf das Reich Gottes warteten“. Aber er war über das hinausgegangen, was dieser Ausdruck impliziert. Er war ein Jünger Jesu, wenn auch heimlich, aus Furcht vor den Juden:a. In seltsamem Gegensatz zu dieser „Furcht“ berichtet Markus, dass er „es wagte „“zu Pilatus zu gehen und den Leib Jesu zu fordern“. So wurden seine Ängste unter den unwahrscheinlichsten und ungünstigsten Umständen in Kühnheit umgewandelt, und er, den die Furcht vor den Juden davon abgehalten hatte, sich zu Lebzeiten Jesu offen zu seiner Nachfolge zu bekennen, bekannte sich nicht nur zu dem gekreuzigten Christus, sondern unternahm im Zusammenhang damit den kühnsten und entschiedensten Schritt vor Juden und Heiden. So bringt die Prüfung den Glauben hervor, und der Wind, der die schwache Flamme löscht, die außen herumspielt, facht das Feuer an, das tief im Innern brennt, auch wenn es eine Zeit lang nicht gesehen wird. Joseph von Arimathæa, nun nicht mehr ein heimlicher Schüler, sondern kühn im Bekenntnis seiner ehrfürchtigen Liebe, wollte dem toten Körper seines Meisters alle Verehrung erweisen. Und das göttlich geordnete Zusammentreffen der Umstände half nicht nur seinem frommen Vorhaben, sondern verlieh allem eine tiefe symbolische Bedeutung. Es war Freitagnachmittag, und der Sabbat rückte näher. Man durfte also keine Zeit verlieren, wenn man dem heiligen Leib die gebührende Ehre erweisen wollte. Pilatus übergab ihn Josef von Arimathäa. Das lag in seiner Macht, und es war eine Gunst, die nicht selten unter ähnlichen Umständen gewährt wurde. Aber zwei Dinge müssen den römischen Statthalter stark beeindruckt und seine früheren Gedanken über Jesus vertieft haben: erstens, dass der Tod am Kreuz so schnell eingetreten war, ein Umstand, zu dem er den Zenturio persönlich befragte,und dann das kühne Auftreten und die Bitte eines Mannes wie Josef von Arimathäa. Oder drückte der Zenturio dem Statthalter auch ein solches Gefühl aus, wie es unter dem Kreuz in den Worten zum Ausdruck gekommen war: ‚Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn‘?

Die Nähe des heiligen Sabbats und die daraus resultierende Notwendigkeit der Eile mögen den Vorschlag Josephs nahegelegt oder bestimmt haben, den Leichnam Jesu in sein eigenes, in Felsen gehauenes neues zu legen, in das noch niemand gelegt worden war. Die symbolische Bedeutung dieses Vorgangs ist umso deutlicher, als die Symbolik nicht beabsichtigt war. Diese in Felsen gehauenen Gräber und die Art und Weise, wie die Toten in sie gelegt wurden, sind im Zusammenhang mit der Beerdigung des Lazarus sehr ausführlich beschrieben worden. Wir können uns also ganz und gar den heiligen Gedanken hingeben, die uns umgeben. Das Kreuz wurde herabgelassen und auf den Boden gelegt, die grausamen Nägel herausgezogen und die Stricke gelöst. Josef und seine Begleiter „wickelten“ den heiligen Leib „in ein reines Leinentuch“ und trugen ihn rasch zu dem in den Fels gehauenen Grab im nahen Garten. Ein solches Felsengrab oder eine Höhle (Meartha) hatte Nischen (Kuchin), in die die Toten gelegt wurden. Es sei daran erinnert, dass sich am Eingang des „Grabes“ – und innerhalb des „Felsens“ – ein „Hof“ befand, der neun Fuß im Quadrat groß war und in dem normalerweise die Bahre niedergelegt wurde und in dem sich die Träger versammelten, um die letzten Handlungen für die Toten vorzunehmen. Wir nehmen an, dass Joseph den heiligen Leichnam dorthin trug und dass sich dann die letzte Szene abspielte. Denn nun war ein anderer gekommen, der Joseph in Geist, Geschichte und Stellung verwandt war. Dasselbe geistige Gesetz, das Joseph zum offenen Bekenntnis gebracht hatte, zwang auch diesen anderen Sanhedristen, Nikodemus, zu seinem Bekenntnis. Wir erinnern uns, wie er zuerst aus Furcht vor Entdeckung bei Nacht zu Jesus gekommen war, und mit welch angehaltenem Atem er bei seinen Kollegen nicht so sehr für die Sache Christi, sondern in seinem Namen für die des Gesetzes und der Gerechtigkeit plädiert hatte. Jetzt kam er und brachte „ein Bündel“ Myrrhe und Aloe, die wohlriechende Mischung, die den Juden für Salbungs- und Beerdigungszwecke wohlbekannt war.

Die eilige Einbalsamierung – wenn man sie als solche bezeichnen kann – fand im „Vorhof“ des Grabes statt. Keiner der früheren Jünger Christi scheint an der Beerdigung teilgenommen zu haben. Johannes mag sich zurückgezogen haben, um der Jungfrau Maria die Nachricht zu überbringen und sie zu trösten; auch die anderen, die „in der Ferne standen und zusahen“, scheinen gegangen zu sein. Nur einige wenige Gläubigedarunter vor allem Maria Magdalena und die andere Maria, die Mutter des Joses, standen am Grab und sahen von weitem zu, wo und wie der Leib Jesu hingelegt wurde. Es hätte wohl kaum den jüdischen Sitten entsprochen, wenn sich diese Frauen enger unter die beiden Sanhedristen und ihre Begleiter gemischt hätten. Von dort, wo sie standen, konnten sie nur einen schwachen Blick auf das Geschehen im Hof haben, und das mag erklären, wie sie bei ihrer Rückkehr „Spezereien und Salben “ für die umfassendere Ehrung vorbereiteten, die sie dem Toten nach dem Sabbat zu erweisen hofften. Denn es ist von größter Bedeutung, sich daran zu erinnern, dass alles, was getan wurde, in Eile geschah. Es scheint, als ob das „reine Leinentuch“, in das der Leib eingewickelt worden war, nun in „Tücher“ oder Bahnen zerrissen wurde, in die der Leib nun Glied für Glied „gebunden “ wurde, zweifellos zwischen Schichten von Myrrhe und Aloe, wobei das Haupt in eine Serviette gehüllt wurde. Und so legten sie ihn in die Nische des in den Fels gehauenen neuen Grabes. Und als sie hinausgingen, wälzten sie, wie es Brauch war, einen „großen Stein“ – den Golel -, um den Eingang des Grabes zu verschließen,und lehnten wahrscheinlich, wie es Brauch war, einen kleineren Stein, den sogenannten Dopheq, dagegen. Dort, wo der eine Stein gegen den anderen gelegt wurde, brachten die jüdischen Behörden am nächsten Tag, obwohl Sabbat war, das Siegel an, so dass die geringste Störung sichtbar werden konnte.

Wahrscheinlich bereitete sich um diese Zeit eine lärmende Menge darauf vor, den Delegierten des Sanhedrins zur Zeremonie des Abschneidens des Pessach-Gabers zu folgen. Das Gesetz lautete: „Er soll eine Garbe [wörtlich: das Omer] mit den Erstlingsfrüchten eurer Ernte zum Priester bringen, und er soll das Omer vor Jehova schwenken, damit es für euch angenommen wird.“ Dieses Pessach-Grab wurde am Abend vor der Opferung in aller Öffentlichkeit geerntet, und um dieser Zeremonie beizuwohnen, hatte sich die Menge um die Ältesten versammelt. Schon am 14. Nisan hatte man die Stelle markiert, an der die erste Garbe geerntet werden sollte, indem man die Gerste, die nach dem Brauch im geschützten Aschetal jenseits des Kidron geschnitten werden sollte, noch im Stehen zu Bündeln zusammengebunden hatte. Als die Zeit für das Schneiden der Garben gekommen war – das heißt am Abend des 15. Nisan, auch wenn es ein Sabbat war, gerade als die Sonne unterging -, machten sich drei Männer, jeder mit einer Sichel und einem Korb, an die Arbeit. Um die Besonderheit der Zeremonie deutlich zu machen, stellten sie den Umstehenden zunächst jeweils dreimal die folgenden Fragen: „Ist die Sonne schon untergegangen?“ „Mit dieser Sichel?“ „In diesen Korb?“ „An diesem Sabbat? (oder am ersten Passah-Tag)“-und zuletzt: „Soll ich ernten?“ Nachdem sie jedes Mal mit „Ja“ geantwortet hatten, schnitten sie die Gerste bis zu einer Menge von einem Epha ab, das sind etwa drei Picks und drei Pints nach unserem englischen Maß. Es ist hier nicht der Ort, die Zeremonie weiter zu verfolgen, wie das Getreide gedroschen, gemahlen und ein Omer des Mehls mit Öl und Weihrauch vermischt am zweiten Ostertag (oder 16. Nisan) im Tempel vor den Herrn gewunken wurde. Doch als sich diese feierliche Prozession unter lautem Getöse in Bewegung setzte, wandte sich eine kleine Schar von Trauernden davon ab, ihren toten Meister an seine Ruhestätte zu legen. Der Kontrast ist ebenso traurig wie eindrucksvoll. Und doch wurde das erste Omer des neuen Ostermehls nicht im Tempel oder vom Priester, sondern in der Stille dieses Gartengrabes vor dem Herrn geschwungen.‘

Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten

14.Nisan – Gethsemane

(Mt 26,30-56; Mk 14,26-52; Lk 22,31-53; Joh 18,1-11).

WIR wenden uns noch einmal den Schritten Christi zu, die nun zu den letzten gehören, die er auf Erden gegangen ist. Der „Hymnus“, mit dem das Ostermahl endete, war gesungen worden. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den zweiten Teil des Hallelder einige Zeit nach dem dritten Kelch gesungen wurde, oder um den Psalm 136, der im vorliegenden Ritual am Ende des Gottesdienstes steht. Die letzten Reden waren gehalten, das letzte Gebet, das Weihegebet, war gesprochen worden, und Jesus bereitete sich darauf vor, die Stadt zu verlassen und zum Ölberg zu gehen. Die Straßen konnten kaum als menschenleer bezeichnet werden, denn aus vielen Häusern leuchtete die Festtagslampe, und viele Menschen mögen sich noch versammelt haben; und überall herrschte emsiges Treiben bei den Vorbereitungen für den Gang zum Tempel, dessen Tore um Mitternacht geöffnet wurden.

Wir gehen durch das Tor nördlich des Tempels und steigen in einen einsamen Teil des schwarzen Kidrontals hinab, das zu dieser Jahreszeit zu einem winterlichen Wildbach angeschwollen ist. Wir durchqueren es und biegen etwas nach links ab, wo der Weg zum Ölberg führt. Wenige Schritte weiter (jenseits und auf der anderen Seite der heutigen Grabeskirche der Jungfrau Maria) biegen wir von der Straße nach rechts ab und erreichen das, was die Überlieferung seit frühester Zeit – und wahrscheinlich zu Recht – als „Gethsemane“ bezeichnet hat, die „Ölpresse“. Es handelte sich um ein kleines, eingezäuntes Grundstück (χωρίον), einen „Garten“ im östlichen Sinne, wo sich wahrscheinlich inmitten einer Vielzahl von Obstbäumen und blühenden Sträuchern eine bescheidene, ruhige Sommerfrische befand, die mit der „Ölpresse“ verbunden war oder sich in ihrer Nähe befand. Das heutige Gethsemane ist nur etwa siebzig Schritte im Quadrat groß, und obwohl es sich bei den alten knorrigen Olivenbäumen nicht um solche aus der Zeit Jesu handeln kann (falls es solche gab), da alle Bäume in jenem Tal – auch die, die ihren Schatten über Jesus ausstreckten – während der römischen Belagerung gefällt wurden, mögen sie aus den alten Wurzeln oder den alten Kernen hervorgegangen sein. Aber wir denken gerne an diesen „Garten“ als den Ort, an dem Jesus „oft“ – nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern vielleicht auch bei früheren Besuchen in Jerusalem – mit seinen Jüngern zusammenkam. Es war ein Ort der Ruhe, des Rückzugs, des Gebets, vielleicht auch des Schlafs, und ein Treffpunkt, an dem nicht nur die Zwölf, sondern auch andere den Meister zu treffen pflegten. Und als solcher war er Judas bekannt, und er führte die bewaffnete Gruppe dorthin, als sie das Obergemach nicht mehr von Jesus und seinen Jüngern bewohnt fanden. Ob es beabsichtigt war, dass er dort einen Teil der Nacht verbringen sollte, bevor er zum Tempel zurückkehrte, und wer dieser umschlossene Garten war – das andere Eden, in dem der zweite Adam, der Herr vom Himmel, die Strafe des ersten trug und durch seinen Gehorsam das Leben gewann -, wissen wir nicht und sollten es vielleicht auch nicht erfragen. Vielleicht gehörte es dem Vater von Markus. Aber wenn dem nicht so ist, hatte Jesus sogar in Jerusalem liebevolle Jünger, und wir freuen uns, dass er nicht nur ein Haus in Bethanien und ein Obergemach in der Stadt hatte, sondern auch einen stillen Rückzugsort und einen Treffpunkt für die Seinen im Schoß des Ölbergs, im Schatten des Gartens der Ölpresse“.

Das schwache Licht des Mondes fiel voll auf sie, als sie den Kidron überquerten. Wir stellen uns vor, dass der Herr sich hier, nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, zum ersten Mal an die Jünger im Allgemeinen wandte. Wir können es kaum als Vorhersage oder Warnung bezeichnen. Wenn wir an jenes letzte Abendmahl denken, daran, wie Christus zum letzten Mal durch die Straßen der Stadt in jenen Garten ging, und vor allem an das, was jetzt unmittelbar vor ihm lag, erscheint uns das, was er sagte, ganz natürlich, ja sogar notwendig. Für sie – ja, für sie alle – würde er in dieser Nacht sogar ein Stolperstein sein. Und so war es von alters her vorhergesagt worden, dass der Hirte geschlagen und die Schafe zerstreut werden würden. Erfüllte diese Prophezeiung Seines Leidens in ihren großen Umrissen die Gedanken des Erlösers, als Er zu Seinem Leidensweg aufbrach? Jedenfalls waren solche alttestamentlichen Gedanken bei Ihm gegenwärtig, als Er, nicht unbewusst oder aus Notwendigkeit, sondern als Lamm Gottes zur Schlachtbank ging. Eine besondere Bedeutung kommt auch Seiner Vorhersage zu, dass Er nach Seiner Auferstehung vor ihnen nach Galiläa gehen würde. Denn mit ihrer Zerstreuung nach Seinem Tod, so scheint es uns, wurde der apostolische Kreis oder das apostolische Kollegium als solches für eine Zeit lang aufgelöst. Sie kamen zwar weiterhin als einzelne Jünger zusammen, aber das apostolische Band war vorübergehend aufgelöst. Das erklärt vieles: die Abwesenheit des Thomas am ersten und seine besondere Stellung am zweiten Sonntag; die Unsicherheit der Jünger, wie sie sich in den Worten derer auf dem Weg nach Emmaus zeigt; sowie die scheinbar seltsamen Bewegungen der Apostel – alles, was sich völlig ändert, wenn das apostolische Band wiederhergestellt ist. Ebenso bemerken wir, dass nur sieben von ihnen am See von Galiläa beisammen gewesen zu sein scheinen,a und dass erst danach die Elf mit ihm auf dem Berg zusammentrafen, auf den er sie verwiesen hatte. Hier wurde der apostolische Kreis oder das apostolische Kollegium erneut gebildet und der apostolische Auftrag erneuert,c und von dort kehrten sie, erneut von Galiläa ausgesandt, nach Jerusalem zurück, um die endgültigen Ereignisse seiner Himmelfahrt und des Kommens des Heiligen Geistes zu erwarten.

Aber in jener Nacht verstanden sie nichts von alledem. Während alle unter dem Schlag ihrer vorausgesagten Zerstreuung schwankten, scheint sich der Herr einzeln an Petrus gewandt zu haben. Was er sagte und wie er es formulierte, erfordert gleichermaßen unsere Aufmerksamkeit: „Simon, Simon“ seinen alten Namen, um den alten Mann in ihm zu bezeichnen – „der Satan hat dich ergriffen, um dich zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht wanke.‘ Die Worte gewähren uns Einblick in zwei Geheimnisse des Himmels. Diese Nacht scheint „die Macht der Finsternis“ gewesen zu sein, in der Christus, von Gott verlassen, dem ganzen Ansturm der Hölle allein begegnen und in seiner eigenen Kraft als Stellvertreter und Repräsentant des Menschen siegen musste. Es ist ein großes Geheimnis, aber es ist in sich stimmig. Wir sehen hier keine Analogie zu der Erlaubnis, die dem Satan in den ersten Kapiteln des Buches Hiob erteilt wird, und nehmen immer an, dass es sich um eine reale und nicht um eine allegorische Geschichte handelt. Aber in jener Nacht wurde dem heftigen Wind der Hölle gestattet, ungebrochen über den Heiland zu fegen und sogar seine Wut auf diejenigen zu richten, die in seinem Schutzraum zurückblieben. Satan hatte es „erbeten und erlangt“ – jedoch nicht, um zu zerstören oder zu stürzen, sondern „um zu sieben“, so wie Weizen1 in einem Sieb geschüttelt wird, um das, was kein Korn ist, auszusieben. Bis hierher und nicht weiter hatte der Satan sie erlangt. In jener Nacht der Agonie und der Einsamkeit Christi, im äußersten Konflikt zwischen Christus und Satan, scheint dies fast ein notwendiges Element zu sein.

Dies war also das erste Geheimnis, das vergangen war. Und diese Aussonderung würde Petrus mehr betreffen als die anderen. Judas, der Jesus überhaupt nicht liebte, war bereits gefallen; Petrus, der ihn liebte – vielleicht nicht am intensivsten, aber, wenn der Ausdruck erlaubt ist, am umfassendsten – stand neben Judas in Gefahr. In Wahrheit entsprangen die Quellen ihres inneren Lebens in unmittelbarer Nähe, obwohl sie in ihrer Ausrichtung weit auseinander lagen. Es gab bei dem einen wie bei dem anderen dieselbe Bereitschaft, sich zu begeistern, dasselbe Verlangen, die öffentliche Meinung auf seiner Seite zu haben, dieselbe Scheu vor dem Kreuz, dieselbe moralische Unfähigkeit oder Unwilligkeit, allein zu stehen. Petrus hatte reichlich Mut, um aufzubrechen, aber nicht, um aufzufallen. In seinen ursprünglichen Elementen (nicht in seiner Entwicklung) betrachtet, war der Charakter des Petrus unter den Jüngern dem des Judas am ähnlichsten. Wenn dies zeigt, was aus Judas hätte werden können, erklärt es auch, wie Petrus in jener Nacht am meisten in Gefahr war; und in der Tat wurden die Schalen von ihm bei seiner Verleugnung des Christus aus dem Sieb geworfen. Aber was Petrus von Judas unterschied, war sein „Glaube“ des Geistes, der Seele und des Herzens – des Geistes, als er das geistige Element in Christus erkannte; der Seele, als er ihn als den Christus bekannte; und des Herzens, als er ihn bitten konnte, die Tiefen seines inneren Wesens auszuloten, um dort echte, persönliche Liebe zu Jesus zu finden.

Das zweite Geheimnis jener Nacht war das Bittgebet Christi für Petrus. Wir wagen nicht zu sagen, wie der Hohepriester – und wir wissen nicht, wann und wo es vorgetragen wurde. Aber der Ausdruck ist sehr stark, wie bei jemandem, der eine Sache braucht. Und das, wofür er so flehte, war, dass der Glaube des Petrus nicht versagen sollte. Dies, und nicht, dass ihm etwas Neues gegeben oder die Prüfung von Petrus genommen werde. Wir sehen, wie die göttliche Gnade die menschliche Freiheit voraussetzt und nicht aufhebt. Und das erklärt auch, warum Jesus so für Petrus und nicht für Judas gebetet hat. In ersterem Fall war der Glaube vorhanden, der nur gegen das Versagen gestärkt werden musste – eine Möglichkeit, die ohne die Fürsprache Christi möglich war. Diesen seinen Worten fügte Christus den bedeutsamen Auftrag hinzu: „Und du, wenn du dich umgedreht hast, bestätige deine Brüder. „Und wie sehr er dies tat, sowohl im apostolischen Kreis als auch in der Kirche, hat die Geschichte überliefert. So hat Satan, auch wenn es in der normalen sittlichen Ordnung der Dinge dazu kommen mag, nicht einmal die Macht, ohne Gottes Erlaubnis zu „sieben“; und so wacht der Vater in einer solch schrecklichen Sichtung über die, für die Christus gebetet hat. Dies ist die erste Erfüllung des Gebetes Christi, dass der Vater sie „vor dem Bösen bewahre“, nicht durch irgendeinen Vorgang von außen, sondern durch die Bewahrung ihres Glaubens. Und so lernen wir auch zu unserem großen und unaussprechlichen Trost, dass nicht jede Sünde – auch nicht die bewusste und vorsätzliche – das Scheitern unseres Glaubens bedeutet, so sehr sie auch dazu führt, und noch weniger unsere endgültige Verwerfung. Im Gegenteil, so wie der Fall Simons die Folge der natürlichen Elemente in ihm war, so würde er dazu führen, dass sie ans Licht gebracht und beseitigt werden, wodurch er umso besser geeignet wäre, seine Brüder zu bestätigen. Und so würde Licht aus der Finsternis kommen. Von unserem menschlichen Standpunkt aus könnten wir eine solche Belehrung als notwendig bezeichnen; in der göttlichen Ordnung ist sie nur die göttliche Folge des menschlichen Vorgängers.

Wir können die vehemente Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit verstehen, mit der Petrus gegen die Möglichkeit eines Versagens seinerseits protestierte. Meistens halten wir die Sünden für am weitesten entfernt, die uns am nächsten sind; sonst wäre ein Großteil der Kraft ihrer Versuchung weg, und die Versuchung würde sich in einen Konflikt verwandeln. Die Dinge, mit denen wir am wenigsten rechnen, sind unsere Stürze. In aller Ehrlichkeit – und nicht notwendigerweise mit Selbstüberschätzung gegenüber den anderen – sagte er, dass, selbst wenn alle in Christus beleidigt werden sollten, er es niemals sein könne, sondern bereit sei, mit ihm ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Und als Christus, um der Warnung Nachdruck zu verleihen, voraussagte, dass Petrus, bevor das wiederholte Krähen des Hahns1 den Morgen einläutete,dreimal verleugnen würde, dass er ihn kannte, beharrte Petrus nicht nur auf seinen Beteuerungen, sondern wurde von den anderen darin unterstützt. Dennoch – und das scheint der Sinn und Zweck der folgenden Worte Christi zu sein – waren sie sich nicht bewusst, wie schrecklich sich die früheren Verhältnisse verändert hatten und was sie infolgedessen zu erleiden haben würden. a Hatte es ihnen an irgendetwas gefehlt, als er sie früher ohne Vorrat und Schutz ausgesandt hatte? Nein! Aber jetzt würde ihnen keine helfende Hand gereicht werden; nein, was sie anscheinend sogar mehr als alles andere brauchen würden, wäre „ein Schwert“ – Verteidigung gegen Angriffe, denn am Ende seiner Geschichte wurde er mit Übertretern gerechnet. Der Meister ein gekreuzigter Übeltäter – was konnten seine Anhänger erwarten? Aber wieder einmal verstanden sie Ihn nur auf eine grob realistische Weise. Diese Galiläer hatten sich nach dem Brauch ihrer Landsleute b mit Kurzschwertern ausgerüstet, die sie unter ihrem Obergewand verbargen. Es war nur natürlich, dass Männer ihrer Gesinnung, die die Lehre ihres Meisters so unvollkommen verstanden, eine Vorsichtsmaßnahme ergriffen, die ihnen bei ihrer Ankunft in Jerusalem nur als notwendig erschien. Mindestens zwei von ihnen – unter ihnen Petrus – hatten nun Schwerter bei sich. Aber es war nicht die Zeit, um mit ihnen zu diskutieren, und unser Herr schob es einfach beiseite. Die Ereignisse würden sie nur zu bald lehren.

Sie hatten nun den Eingang zu Gethsemane erreicht. Es kann sein, dass er durch das Gebäude mit der „Ölpresse“ führte und dass die acht Apostel, die nicht näher an den „brennenden, aber nicht verzehrten Busch“ herankommen sollten, dort zurückgelassen wurden. Oder sie wurden zum Eingang des Gartens geführt und dort zurückgelassen, während er mit einer Handbewegung nach vorne wies und „dorthin“ ging, um zu beten. Nach Lukas fügte er die abschließende Warnung hinzu, dass sie beten sollten, damit sie nicht in Versuchung gerieten.

Acht hat er dort zurückgelassen. Die anderen drei, Petrus, Jakobus und Johannes – Gefährten vor Seiner Herrlichkeit, sowohl bei der Auferweckung der Tochter des Jairusb als auch auf dem Berg der Verklärungc – nahm Er weiter mit Sich. Wenn seine menschliche Seele in diesem letzten Wettstreit nach der Anwesenheit derer verlangte, die ihm am nächsten standen und ihn am meisten liebten, oder wenn er sie mit seiner Taufe taufen und aus seinem Kelch trinken lassen wollte, dann waren diese drei unter allen anderen die Auserwählten. Und nun brach plötzlich die kalte Flut über ihn herein. In diesen wenigen Augenblicken war er von der Ruhe des sicheren Sieges in die Angst des Kampfes übergegangen. Mit jedem Schritt vorwärts wurde Er immer „betrübter“, „voller Kummer“, „entsetzt“ und „trostlos“.Er erzählte ihnen von dem tiefen Kummer Seiner Seele (ψυχή) bis zum Tod und bat sie, dort zu bleiben und mit Ihm zu wachen. Er selbst ging voran, um mit Gebet in den Kampf einzutreten. Nur die erste Haltung des ringenden Heilandes sahen sie, nur die ersten Worte in jener Stunde des Todeskampfes hörten sie. Denn wie in unserem gegenwärtigen Zustand nicht selten in den tiefsten Erregungen der Seele, und wie es auf dem Berg der Verklärung der Fall gewesen war, schlich sich ein unwiderstehlicher Schlaf über ihre Gestalt. Was aber, so dürfen wir ehrfurchtsvoll fragen, war die Ursache dieses Kummers bis zum Tod des Herrn Jesus Christus? Nicht Furcht, weder vor körperlichen noch vor geistigen Leiden, sondern der Tod. Die Natur des Menschen, der von Gott unsterblich geschaffen wurde, schreckt (nach dem Gesetz seiner Natur) vor der Auflösung des Bandes zurück, das Körper und Seele verbindet. Dennoch ist der Tod für den gefallenen Menschen keineswegs der volle Tod, denn er wird mit dem Geschmack des Todes in seiner Seele geboren. Nicht so Christus. Es war der ungefallene Mensch, der starb; er, der keine Erfahrung damit hatte, kostete den Tod, und zwar nicht für sich selbst, sondern für jeden Menschen, und leerte den Kelch bis zum bitteren Ende. Es war der Christus, der den Tod durch den Menschen und für den Menschen erlitt; der menschgewordene Gott, der Gottmensch, der sich stellvertretend der tiefsten Erniedrigung unterwarf und die äußerste Strafe bezahlte: Den Tod – den ganzen Tod. Niemand wie Er konnte wissen, was der Tod ist (nicht das Sterben, das die Menschen fürchten, aber Christus fürchtete es nicht); niemand konnte seine Bitterkeit so schmecken wie Er. Sein Gang in den Tod war sein letzter Kampf mit Satan für den Menschen und in seinem Namen. Indem Er sich ihm unterwarf, nahm Er dem Tod die Macht; Er entwaffnete den Tod, indem Er seinen Schaft in Seinem eigenen Herzen vergrub. Und darüber hinaus liegt das tiefe, unsagbare Geheimnis, dass Christus die Strafe für unsere Sünde trug, dass er unseren Tod trug, dass er die Strafe für das gebrochene Gesetz trug, die angehäufte Schuld der Menschheit und den heiligen Zorn des gerechten Richters über sie. Und angesichts dieses Geheimnisses scheint sich die Schwere des Schlafes über unser Begreifen zu stürzen.

Allein, wie in seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Bösen in der Versuchung in der Wüste, muss der Heiland in den letzten Kampf eintreten. Mit welchen Seelenqualen Er hier und da die Sünden der Welt auf sich nahm und sie dadurch sühnte, können wir aus dem Bericht darüber erfahren, was geschah, als Er „mit starkem Geschrei und Tränen zu dem, der ihn vom Tode erretten konnte“, „Gebete und Bitten darbrachte“.Und – wir ahnen es schon – mit diesen Ergebnissen: dass er erhört wurde, dass er durch die Dinge, die er erlitt, Gehorsam lernte, dass er vollkommen wurde und dass er für uns der Urheber des ewigen Heils und vor Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks wurde. Allein – und selbst dieses „von ihnen getrennt sein“ (ἀπεσπάσθη),implizierte Leid. c Und nun, „auf den Knien“, auf dem Boden liegend, auf dem Gesicht liegend, begann Seine Agonie. Seine Ansprache selbst zeugt davon. Es ist das einzige Mal, das in den Evangelien überliefert ist, dass er Gott mit dem Personalpronomen „Mein Vater“ anredet.d Das Ziel des Gebetes war, dass, „wenn es möglich wäre, die Stunde von ihm vorüberginge“.e Der Gegenstand des Gebetes (wie es in den drei Evangelien überliefert ist) war, dass der Kelch selbst vorüberginge, jedoch immer mit der Einschränkung, dass nicht sein Wille, sondern der des Vaters geschehen möge. Die Bitte Christi war also nicht nur dem Willen des Vaters unterworfen, sondern auch seinem eigenen Willen, damit der Wille des Vaters geschehe. Wir haben hier das tiefste Geheimnis unseres Glaubens vor Augen: die zwei Naturen in einer Person. Beide Naturen sprachen hier, und das „wenn es möglich ist“ des Matthäus und des Markus ist bei Lukas „wenn du willst“. Auf jeden Fall ist die „Möglichkeit“ nicht physischer Natur – bei Gott sind alle Dinge möglich -, sondern moralischer Natur: die der inneren Eignung. Gab es also irgendeinen Gedanken oder eine Vorstellung von „einer Möglichkeit“, dass das Werk Christi ohne diese Stunde und diesen Kelch vollendet werden könnte? Oder markierte sie nur die äußerste Grenze seiner Ausdauer und Unterwerfung? Wir wagen keine Antwort; wir folgen nur ehrfürchtig dem, was aufgezeichnet ist.

In diesem extremen Seelenschmerz, fast bis zum Tod, erschien der Engel (wie bei der Versuchung in der Wüste), um seinen Körper und seine Seele zu „stärken“ und zu unterstützen. Und so ging der Kampf weiter, mit zunehmendem Ernst des Gebets, die ganze schreckliche Stunde hindurch. Denn die Erscheinung des Engels muss ihm zu verstehen gegeben haben, dass der Kelch nicht vergehen konnte. 2 Und am Ende jener Stunde – wie wir aus der Tatsache schließen, dass die Jünger noch die Spuren des blutigen Schweißes3 auf seiner Stirn gesehen haben müssen – fiel sein Schweiß, mit Blut vermischt,in großen Tropfen auf den Boden. Und als der Heiland mit diesem Zeichen Seiner Qualen auf Seiner Stirn5 zu den dreien zurückkehrte, fand Er sie in tiefem Schlaf. Während Er im Gebet lag, lagen sie im Schlaf; und doch, wo die Seelenqual nicht zu dem einen führt, bewirkt sie oft das andere. Seine Worte, die sich in erster Linie an „Simon“ richteten, weckten sie zwar auf, reichten aber nicht aus, um ihnen den liebevollen Vorwurf, die Ermahnung „Wachet und betet“ im Hinblick auf die kommende Versuchung oder die höchst angebrachte Warnung vor der Schwäche des Fleisches voll zu Herzen gehen zu lassen, selbst wenn der Geist willig, bereit und glühend war (πρόθυμον).

Der Konflikt war praktisch, wenn auch nicht endgültig, entschieden, als der Heiland zu den drei schlafenden Jüngern zurückkehrte. Er kehrte nun zurück, um ihn zu vollenden, obwohl sowohl die Haltung, in der Er betete (nicht mehr auf dem Boden liegend), als auch der Wortlaut Seines Gebetes – nur leicht verändert – darauf hinweisen, wie nahe es dem vollkommenen Sieg war. Und noch einmal, als Er zu ihnen zurückkehrte, fand Er, dass der Schlaf ihre Augen beschwert hatte und sie kaum wussten, was sie Ihm antworten sollten. Ein drittes Mal verließ er sie, um wie zuvor zu beten. Und nun kehrte er siegreich zurück. Nach drei Angriffen hatte der Versucher ihn in der Wüste verlassen; nach dem dreifachen Kampf im Garten war er besiegt. Christus kehrte triumphierend zurück. Er befahl seinen Jüngern nicht länger zu wachen. Sie konnten, ja sie sollten schlafen und sich ausruhen, bevor die schrecklichen Ereignisse seines Verrats bevorstanden – denn die Stunde war gekommen, in der der Menschensohn in die Hände von Sündern verraten werden sollte.

Diese kurze Zeit der bald durch den Ruf Jesu unterbrochen, sich zu erheben und dorthin zu gehen, wo die anderen acht zurückgelassen worden waren, an den Eingang des Gartens, um der Gruppe entgegenzugehen, die unter der Führung des Verräters gekommen war. Und während er sprach, zeigten die schweren Schritte vieler Männer und der Schein von Laternen und Fackeln die Annäherung von Judas und seiner Gruppe an. In den vergangenen Stunden war alles vorbereitet worden. Als er vereinbarungsgemäß im Palast des Hohenpriesters erschien, oder wahrscheinlicher im Palast des Hannas, der die Geschäfte zu leiten schien, verständigten sich die jüdischen Führer zunächst mit der römischen Garnison. Nach ihrem eigenen Eingeständnis besaßen sie (seit vierzig Jahren vor der Zerstörung Jerusalems) nicht mehr die Befugnis, Todesurteile auszusprechen. a Es ist schwer zu verstehen, wie man sich angesichts dieser Tatsache (die im Neuen Testament so vollständig bestätigt wird) vorstellen konnte, dass der Sanhedrin in einer regulären Sitzung förmlich versucht hatte, über Jesus auszusprechen, wozu er zugegebenermaßen nicht befugt war. Auch beriefen sie sich bei der Anrufung des Pilatus nicht darauf, dass sie ein Todesurteil ausgesprochen hätten, sondern nur darauf, dass sie ein Gesetz hätten, nach dem Jesus sterben sollte. Anders war es bei zivilen Angelegenheiten oder sogar bei geringfügigen Vergehen. Da der Sanhedrin nicht über die Macht des Schwertes verfügte, hatte er natürlich weder Soldaten noch eine regelmäßig bewaffnete Schar zur Verfügung. Die „Tempelwache“ unter ihren Offizieren diente lediglich zu polizeilichen Zwecken und war in der Tat weder regelmäßig bewaffnet noch ausgebildet. c Die Römer hätten auch keine regelmäßig bewaffneten jüdischen Streitkräfte in Jerusalem geduldet.

Jetzt können wir den Verlauf der Ereignisse verstehen. In der Festung Antonia, die sich in der Nähe des Tempels befand und mit diesem durch zwei Treppen verbunden war, befand sich die römische Garnison. Aber während des Festes wurde der Tempel selbst von einer bewaffneten Kohorte bewacht, die aus 400 bis 600 Männern bestand,um jeden Aufruhr unter den zahlreichen Pilgern zu verhindern oder zu unterdrücken. a An den Hauptmann dieser „Kohorte“ wandten sich die Hohenpriester und die Führer der Pharisäer zunächst mit der Bitte um eine bewaffnete Wache, um die Verhaftung Jesu zu veranlassen, mit der Begründung, dass dies zu einem Aufruhr im Volk führen könnte. Dies, ohne notwendigerweise die Anklage zu nennen, die gegen ihn erhoben werden sollte, was zu weiteren Komplikationen hätte führen können. Obwohl Johannes von „der Schar“ mit einem Wort (σπεῖρα) spricht, das immer eine „Kohorte“ bezeichnet – in diesem Fall „die Kohorte“, wobei der bestimmte Artikel sie als die des Tempels kennzeichnet -, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass die gesamte Kohorte geschickt wurde. Dennoch hätte ihr Befehlshaber wohl kaum eine starke Truppe aus dem Tempel hinausgeschickt, was zu einem Aufruhr führen könnte, ohne sich vorher an den Prokurator Pontius Pilatus zu wenden. Und wenn es noch eines weiteren Beweises bedürfte, dann wäre es die Tatsache, dass die Gruppe nicht von einem Zenturio, sondern von einem Chiliarchen angeführt wurde,der, da es in der römischen Armee keine Zwischenstufen gab, einen der sechs Tribunen darstellen musste, die jeder Legion zugeordnet waren. Dies erklärt nicht nur die offensichtliche Bereitschaft von Pilatus, am nächsten Morgen vor Gericht zu sitzen, sondern auch, wie Pilatus‘ Frau zu den Träumen über Jesus gekommen sein könnte, die sie so sehr beunruhigten.

Dieses römische Kommando, das mit Schwertern und Stöcken bewaffnet war – mit letzteren wies Pilatus bei anderen Gelegenheiten seine Soldaten an, diejenigen anzugreifen, die einen Tumult verursachten -, wurde von Dienern aus dem Palast des Hohenpriesters und anderen jüdischen Beamten begleitet, um die Verhaftung Jesu zu leiten. Sie trugen Fackeln und Lampen, die auf der Spitze von Stangen angebracht waren, um jede Möglichkeit der Verschleierung zu verhindern.

Ob es sich dabei um die von Matthäus und Markus erwähnte „große Schar“ handelte oder ob die Gruppe durch Freiwillige oder Schaulustige vergrößert wurde, ist nicht von Bedeutung. Nachdem Judas diese Schar empfangen hatte, setzte er seinen Auftrag fort. Wir glauben, dass ihr erster Weg zu dem Haus führte, in dem das Abendmahl gefeiert worden war. Nachdem er erfahren hatte, dass Jesus es mit seinen Jüngern vielleicht zwei oder drei Stunden zuvor verlassen hatte, führte Judas die Gruppe zu dem Ort, den er so gut kannte: nach Gethsemane. Ein Signal, an dem man Jesus erkennen konnte, schien bei einer so großen Schar fast notwendig zu sein, und wo man Flucht oder Widerstand befürchten konnte. Es war – schrecklich zu sagen – kein anderes als ein Kuss. Sobald er ihn so gekennzeichnet hatte, sollten die Wachen ihn ergreifen und sicher wegführen.

Wenn wir die Berichte in den vier Evangelien zusammenfassen, können wir uns die Abfolge der Ereignisse vorstellen. Als die Gruppe den Garten erreichte, ging Judas etwas voraus und erreichte Jesus gerade, als dieser die drei aufweckte und sich anschickte, seinen Entführern entgegenzugehen. Er grüßte Ihn mit „Ave, Rabbi“, so dass die anderen es hörten, und küsste Ihn nicht nur, sondern bedeckte Ihn mit Küssen, küsste Ihn wiederholt, laut und überschwänglich (κατεφίλησεν). Der Heiland ließ sich die Demütigung gefallen, hielt nicht inne, sondern sagte nur im Vorbeigehen: „Freund, das, wofür du hier bist „und dann, vielleicht als Antwort auf seine fragende Geste: „Judas, mit einem Kuss befreist du den Menschensohn?c Wenn Judas, indem er der Schar vorausging und den Meister mit einem Kuss grüßte, auch jetzt noch den Heuchler spielen und Jesus und die Jünger täuschen wollte, als wäre er nicht mit den Bewaffneten gekommen, vielleicht nur, um ihn vor ihrer Annäherung zu warnen, dann muss das, was der Herr sagte, sein Innerstes erreicht haben. Es war in der Tat der erste tödliche Stich in der Seele des Judas. Das einzige Mal, dass wir ihn wieder sehen, bis er das tut, was in seiner Selbstzerstörung endet, ist, wie er gleichsam schützend bei den Bewaffneten steht.

An diesem Punkt, so vermuten wir, kommen die Hinweise aus St. John’s Gospele ins Spiel. Jesus verließ den Verräter und ignorierte das Signal, das er ihnen gegeben hatte, ging auf die Gruppe zu und fragte sie: ‚Wen sucht ihr?‘ Auf das kurze, vielleicht etwas verächtliche „Jesus, den Nazarener“, antwortete er mit unendlicher Ruhe und Majestät: „Ich bin es. Die unmittelbare Wirkung dieser Worte war, um nicht zu sagen magisch, sondern göttlich. Sie hatten sich zweifellos auf etwas anderes eingestellt: entweder auf einen Kompromiss, auf Angst oder auf Widerstand. Aber die Erscheinung und Majestät dieses ruhigen Christus – der Himmel in seinem Blick und der Friede auf seinen Lippen – hatte eine zu überwältigende Wirkung auf diese ungelehrte heidnische Soldatenschar, die vielleicht in ihren Herzen geheime Zweifel an dem Werk hegte, das sie vor sich hatten. Die vordersten von ihnen wichen zurück, und sie fielen zu Boden. Aber die Stunde Christi war gekommen. Und noch einmal stellte er ihnen dieselbe Frage wie zuvor, und als er ihre frühere Antwort wiederholte, sagte er: „Ich habe euch gesagt, dass ich es bin; wenn ihr mich nun sucht, so lasst diese ihren Weg gehen“ – der Evangelist sieht in dieser wachsamen Sorge für die Seinen die erste Erfüllung der Worte, die der Herr zuvor über ihre sichere Bewahrung gesprochen hatte, nicht nur im Sinne ihrer äußeren Bewahrung, sondern in dem, dass sie vor solchen Versuchungen bewahrt werden, die sie in ihrem damaligen Zustand nicht hätten ertragen können.

Die Worte Christi über diejenigen, die bei ihm waren, scheinen die Anführer der Wache wieder zu vollem Bewusstsein gebracht zu haben – vielleicht weckten sie in ihnen die Furcht vor einem möglichen Aufstand durch die Aufwiegelung seiner Anhänger. Dementsprechend fügen wir hier den Hinweis des heiligen und des heiligen Markusb ein, dass sie Jesus die Hände auflegten und ihn ergriffen. Da zog Petrus,der sah, was kommen würde, das Schwert, das er bei sich trug, stellte Jesus die Frage, ohne seine Antwort abzuwarten, und schlug Malchus,1 dem Diener2 des Hohenpriesters – vielleicht dem jüdischen Anführer der Gruppe – das Ohr ab. Aber Jesus hielt sofort alle solche Gewalttätigkeit zurück und tadelte alle Selbstverteidigung durch äußere Gewalt (das Ergreifen des Schwertes, das nicht empfangen worden war) – ja, damit allen bloß äußerlichen Eifer, indem er darauf hinwies, wie leicht er gegen diese „Kohorte“ Engelslegionen hätte befehlen können. 3 Er hatte im Ringkampf von seinem Vater den Kelch empfangen, um zu trinken,4 und die Schrift muss auf diese Weise erfüllt werden. Und als er das sagte, berührte er das Ohr des Malchus und heilte ihn.

Aber dieser schwache Anschein von Widerstand genügte den Wächtern. Ihre Anführer fesselten nun Jesus. Auf diese letzte, höchst unverdiente und unaufgeforderte Demütigung antwortete Jesus, indem er sie fragte, warum sie gegen ihn wie gegen einen Räuber vorgegangen seien – einen dieser wilden, mörderischen Sicarii. War er nicht die ganze Woche über täglich im Tempel gewesen und hatte gelehrt? Warum haben sie ihn dann nicht ergriffen? Aber diese ihre „Stunde“, die gekommen war, und „die Macht der Finsternis“ – auch das war in der Schrift vorausgesagt worden!

Und da sich die Reihen der Bewaffneten nun um den gefesselten Christus schlossen, wagte es keiner, bei ihm zu bleiben, um nicht auch gefesselt zu werden, weil er sich der Autorität widersetzte. So ließen sie alle von ihm ab und flohen. Aber es gab einen, der sich der Flucht nicht anschloss, sondern als interessierter Beobachter blieb. Als die Soldaten gekommen waren, um Jesus im Obergemach seines Hauses zu suchen, hatte Markus, der aus dem Schlaf erwacht war, eilig das lose Leinenkleid oder -tuch1 um sich geworfen, das neben seinem Bett lag, und war der bewaffneten Gruppe gefolgt, um zu sehen, was daraus werden würde. Er hielt sich nun in der Nachhut auf und folgte ihnen, als sie Jesus abführten, ohne sich vorzustellen, dass sie versuchen würden, ihn zu ergreifen, da er weder bei den Jüngern noch im Garten gewesen war. Aber sie,vielleicht die jüdischen Diener des Hohenpriesters, hatten ihn bemerkt. Sie versuchten, ihn zu ergreifen, und als er sich aus ihrem Griff löste, ließ er sein Obergewand in ihren Händen zurück und floh.

So endete die erste Szene des schrecklichen Dramas jener Nacht.

Aldred Edersheim, – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
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(Johannes 18:12-14; Matthäus 26:57, 58; Markus 14:53, 54; Lukas 22:54, 55; Johannes 18:24, 15-18; Johannes 18:19-23; Matthäus 26:69, 70; Markus 14:66-68; Lukas 22:56, 57; Johannes 18:17, 18; Matthäus 26:71, 72; Markus 14:69, 70; Lukas 22:58; Johannes 18:25; Matthäus 26:59-68 26:71, 72; Markus 14:69, 70; Lukas 22:58; Johannes 18:25; Matthäus 26:59-68; Markus 14:55-65; Lukas 22:67-71, 63-65; Matthäus 26:73-75; Markus 14:70-72; Lukas 22:59-62; Johannes 18:26, 27).

ES war kein langer Weg, den sie den gefesselten Christus führten. Wahrscheinlich durch dasselbe Tor, durch das er mit seinen Jüngern nach dem Ostermahl gegangen war, bis zu der Stelle, an der am Hang zwischen der Oberstadt und dem Tyropoi der bekannte Palast des Hannas stand. In den Straßen Jerusalems gab es zu dieser späten Stunde keine untätigen Spaziergänger, und das Getrampel der römischen Wache muss zu oft gehört worden sein, um die Schläfer aufzuschrecken oder zu der Frage zu führen, warum dieser Schein von Lampen und Fackeln, und wer der Gefangene war, der in dieser heiligen Nacht sowohl von römischen Soldaten als auch von Dienern des Hohenpriesters bewacht wurde.

Wäre nicht jeder Vorfall in jener Nacht von so großem Interesse, könnten wir die Frage, warum sie Jesus in das Haus des Hannas brachten, als fast müßig abtun, da er zu dieser Zeit nicht der eigentliche Hohepriester war. Dieses Amt fiel nun Kaiphas, seinem Schwiegersohn, zu, der, wie der Evangelist uns bezeichnenderweise erinnert,als erster in klaren Worten ausgesprochen hatte, was ihm als politische Notwendigkeit für den gerichtlichen Mord an Christus erschien. b Er hatte keine religiösen Motive oder Eifer für Gott vorgetäuscht; er hatte es zynisch so ausgedrückt, um die Skrupel jener alten Sanhedristen zu überwinden und ihre Ängste zu schüren. Was nützt es, über Formen des Gesetzes oder über diesen Menschen zu diskutieren? Es muss auf jeden Fall geschehen; selbst die Freunde Jesu im Konzil, wie auch die peniblen Beobachter des Gesetzes, müssen seinen Tod als das kleinere von zwei Übeln betrachten. Er sprach als der kühne, skrupellose, entschlossene Mann, der er war; Sadduzäer eher im Herzen als aus Überzeugung; ein würdiger Schwiegersohn des Hannas.

Keine Figur ist in der zeitgenössischen jüdischen Geschichte besser bekannt als die des Hannas; keine Person galt als glücklicher oder erfolgreicher, aber auch als allgemeiner verachtet als der verstorbene Hohepriester. Er hatte das Pontifikat nur sechs oder sieben Jahre inne, aber es wurde von nicht weniger als fünf seiner Söhne, von seinem Schwiegersohn Kaiphas und von einem Enkel ausgefüllt. Und in jenen Tagen war es, zumindest für einen, der so veranlagt war wie Hannas, viel besser, Hoherpriester gewesen zu sein, als Hoherpriester zu sein. Er genoss die ganze Würde des Amtes und auch seinen ganzen Einfluss, denn er konnte diejenigen, die ihm am nächsten standen, in dieses Amt befördern. Und während diese in der Öffentlichkeit agierten, leitete er in Wirklichkeit die Angelegenheiten, ohne die Verantwortung oder die Beschränkungen, die das Amt mit sich brachte. Seinen Einfluss bei den Römern verdankte er den religiösen Ansichten, zu denen er sich bekannte, seiner offenen Parteinahme für die Ausländer und seinem enormen Reichtum. Der Sadduzäer Annas war ein äußerst sicherer Kirchenmann, weder von besonderen Überzeugungen noch von jüdischem Fanatismus geplagt, ein angenehmer und nützlicher Mann, der seine Freunde im Prätorium mit großen Geldsummen versorgen konnte. Wir haben gesehen, welch immense Einkünfte die Familie des Hannas aus den Tempelständen gezogen haben muss und wie ruchlos und unbeliebt dieser Handel war. Die Namen dieser dreisten, zügellosen, skrupellosen, entarteten Söhne Aarons wurden mit geflüsterten Flüchen ausgesprochen. Ohne auf die Einmischung Christi in diesen Tempelhandel einzugehen, die, wenn seine Autorität sich durchgesetzt hätte, natürlich fatal gewesen wäre, können wir verstehen, wie entgegengesetzt ein Messias, und zwar ein Messias wie Jesus, in jeder Hinsicht zu Hannas gewesen sein muss. Er war ebenso entschlossen wie sein Schwiegersohn auf seinen Tod aus, wenn auch mit der für ihn charakteristischen Gerissenheit und Kühle und nicht in der voreiligen, blasierten Art des Kaiphas. Wahrscheinlich war es der Wunsch, dass Hannas die Leitung der Angelegenheit übernehmen sollte, oder die aktive, führende Rolle, die Hannas in der Angelegenheit einnahm; vielleicht auch aus noch prosaischeren und praktischeren Gründen, wie etwa, dass der Palast des Hannas näher am Ort der Gefangennahme Jesu lag und dass es wünschenswert war, die römischen Soldaten so schnell wie möglich zu entlassen – dass Christus zuerst zu Hannas gebracht wurde und nicht zum eigentlichen Hohenpriester.

Auf jeden Fall war die Anordnung höchst kongruent, sowohl was den Charakter des Hannas als auch die offizielle Position des Kaiphas betrifft. Die römischen Soldaten hatten offensichtlich den Befehl, Jesus zu dem verstorbenen Hohenpriester zu bringen. Das geht daraus hervor, dass sie sich direkt zu ihm begaben, und daraus, dass sie offenbar sofort nach der Übergabe ihres Gefangenen in ihr Quartier zurückkehrten. Und wir können dies nicht auf irgendeine offizielle Position des Hannas im Sanhedrin zurückführen, erstens, weil der Text andeutet, dass es nicht auf diese Ursache zurückzuführen war, und zweitens, weil, wie sich später zeigen wird, das Verfahren gegen Christus nicht das der gewöhnlichen und regelmäßigen Sitzungen des Sanhedrins war.

Es wird nicht berichtet, was vor Hannas geschah. Selbst die Tatsache, dass Christus zuerst zu ihm gebracht wurde, wird nur im vierten Evangelium erwähnt. Da die Jünger ihn alle verlassen hatten und geflohen waren, können wir verstehen, dass sie nicht wussten, was wirklich geschah, bis sie sich wieder versammelt hatten, zumindest so weit, dass Petrus und „ein anderer Jünger“, offensichtlich Johannes, „ihm in den Palast des Hohenpriesters“ folgten, d. h. in den Palast des Kaiphas, nicht des Hannas. Denn da nach den drei synoptischen Evangelien der Palast des Hohenpriesters Kaiphas der Schauplatz der Verleugnung des Petrus war, muss sich der Bericht darüber im vierten Evangelium auf denselben Ort und nicht auf den Palast des Hannas beziehen; während die Vermutung, dass Hannas und Kaiphas dieselbe Wohnung bewohnten, nicht nur an sich sehr unwahrscheinlich ist, sondern auch mit der offensichtlichen Bedeutung des Hinweises b „Hannas aber sandte ihn gebunden zu Kaiphas, dem Hohenpriester“ unvereinbar scheint. Wenn aber die Verleugnung des Petrus, wie sie von Johannes berichtet wird, dieselbe ist, die von den Synoptikern beschrieben wird, und im Haus des Kaiphas stattfand, dann muss sich auch der Bericht über die Vernehmung durch den Hohenpriester,der auf die Mitteilung über Petrus folgt, auf die Vernehmung durch Kaiphas und nicht durch Hannas beziehen. 3 Wir wissen also absolut nichts darüber, was im Haus des Hannas geschah – wenn überhaupt etwas geschah -, außer dass Hannas Jesus gefesselt zu Kaiphas schickte.

Über die Geschehnisse im Palast des Kaiphas gibt es zwei Berichte. Der Bericht des heiligen Johannes scheint sich auf ein eher privates Gespräch zwischen dem Hohenpriester und Christus zu beziehen, bei dem offenbar nur einige persönliche Begleiter des Kaiphas anwesend waren, von denen der Apostel seine Informationen erhalten haben könnte. Der zweite Bericht ist der der Synoptiker und bezieht sich auf die Vernehmung Jesu bei Tagesanbruch durch die führenden Sanhedristen, die zu diesem Zweck eilig einberufen worden waren.

Es klingt fast wie eine Anmaßung, wenn man sagt, dass Jesus in seiner ersten Unterredung mit Kaiphas mit der Majestät des Gottessohnes auftrat, der alles kannte, was vor ihm lag, und es wie auf dem Weg zur Erfüllung seiner Mission durchschritt. Die Fragen des Kaiphas bezogen sich auf zwei Punkte: die Jünger Jesu und seine Lehre – ersteres, um die Anhänger Christi zu belasten, letzteres, um den Meister zu belasten. Auf die erste Anfrage war es nur natürlich, dass er sich nicht herabließ, eine Antwort zu geben. Die Antwort auf die zweite zeichnete sich durch jene „Offenheit“ aus, die er für alles, was er gesagt hatte, in Anspruch nahm. 2 Wenn es nicht nur eine unvoreingenommene, sondern sogar eine gerechte Untersuchung geben sollte, durfte Kaiphas nicht versuchen, Geständnisse zu erpressen, auf die er kein gesetzliches Recht hatte, und ihn auch nicht umgarnen, wenn die Absicht offensichtlich mörderisch war. Wenn er wirklich Informationen wollte, konnte es keine Schwierigkeiten geben, Zeugen zu finden, die seine Lehre bestätigten: Das ganze Judentum kannte sie. Seine Lehre war keine Geheimlehre („im Verborgenen habe ich nichts geredet“). Er sprach immer „in der Synagoge und im Tempel, wo sich alle Juden versammelten“.Wäre die Untersuchung gerecht, so sollte der Richter gerichtlich vorgehen und nicht ihn, sondern diejenigen befragen, die ihn gehört hatten.

Es muss zugegeben werden, dass die Antwort nicht wie die eines Angeklagten klingt, der sich entweder entschuldigen will oder sich sogar sehr darum bemüht, sich zu verteidigen. Und sie enthielt jenen Ton der Überlegenheit, den selbst die verletzte menschliche Unschuld vor einem ruchlosen Richter anzunehmen berechtigt wäre, der ein Opfer zu umgarnen und nicht die Wahrheit herauszufinden suchte. Das war es, was einen dieser unterwürfigen Diener dazu ermutigte, dem Herrn mit der Brutalität eines Ostens unter solchen Umständen diesen schrecklichen Schlag zu versetzen. Hoffen wir, dass es ein Heide und nicht ein Jude war, der seine Hand so erhob. Wir sind fast dankbar, dass der Text es im Zweifel lässt, ob es mit der Handfläche oder mit der geringeren Demütigung – mit einem Stab – geschah. Die Menschheit selbst scheint unter diesem Schlag zu taumeln und zu wanken. Gemäß seiner menschlichen Unterwerfung antwortete der göttliche Leidende, ohne zu murren oder zu klagen oder seine göttliche Macht zu behaupten, nur in einem solchen Ton geduldiger Zurechtweisung, dass der Mann von seinem Unrecht überzeugt oder zumindest sprachlos geworden sein muss. Könnte es sein, dass diese Worte und der Blick Christi ihm zu Herzen gegangen waren, und dass der nun seltsam verstummte Übeltäter zum bekennenden Erzähler dieser Szene für den Apostel Johannes wurde?

Dieser Apostel war jedenfalls kein Fremder im Palast des Kaiphas. Wir haben bereits gesehen, dass sich zumindest zwei von ihnen, Petrus und Johannes, nach der ersten Panik über die plötzliche Gefangennahme Christi und ihre eigene Flucht schnell wieder erholt zu haben scheinen. Kombiniert man die Notizen der Synoptikera mit den diesbezüglich ausführlicheren Angaben des Vierten so gewinnt man den Eindruck, dass Petrus, soweit er seinem Wort treu geblieben ist, als erster seine Flucht beendet hat und „von weitem“ gefolgt ist. Wenn er den Palast des Hannas rechtzeitig erreicht hat, ist er sicher nicht hineingegangen, sondern hat wahrscheinlich während des kurzen Zeitraums, der der Übergabe Jesu an Kaiphas vorausging, draußen gewartet. Inzwischen war Johannes zu ihm gestoßen, und die beiden folgten der melancholischen Prozession, die Jesus zum Hohenpriester begleitete. Johannes scheint zusammen mit der Wache „den Hof“ betreten zu haben,c während Petrus draußen blieb, bis sein Mitapostel, der im Haus des Hohenpriesters offenbar gut bekannt war, mit der Magd gesprochen hatte, die die Tür hütete – die männlichen Bediensteten waren wahrscheinlich alle im Hof versammelt1 – und ihm so Einlass gewährte.

Wenn man bedenkt, dass der Palast des Hohenpriesters am Hang des Hügels gebaut war und dass es einen Außenhof gab, von dem aus eine Tür in den Innenhof führte, kann man sich die Szene in gewisser Weise vorstellen. Wie bereits erwähnt, war Petrus bis zu dieser inneren Tür gefolgt, während Johannes mit der Wache hineingegangen war. Als er seinen Mitjünger vermisste, der vor dieser inneren Tür zurückblieb, „ging Johannes hinaus“ und verschaffte ihm Einlass, nachdem er der wartenden Magd wahrscheinlich gesagt hatte, dass es sich um einen Freund von ihm handelte. Während Johannes nun nach oben eilte, um im Palast und so nah wie möglich bei Christus zu sein, ging Petrus in die Mitte des Hofes, wo in der kühlen Frühlingsnacht ein Kohlenfeuer entzündet worden war. Der Schein der Kohle, um die gelegentlich eine blaue Flamme züngelte, warf einen eigentümlichen Glanz auf die bärtigen Gesichter der Männer, die sich darum drängten und von den Ereignissen jener Nacht erzählten, indem sie denen, die nicht dabei gewesen waren, mit östlicher Redseligkeit schilderten, was sich im Garten zugetragen hatte, und, wie es bei solchen Dienern und Beamten üblich ist, Meinungen und übertriebene Anschuldigungen über denjenigen austauschten, der mit so unerwarteter Leichtigkeit gefangen genommen worden war und nun der sichere Gefangene ihres Herrn war. Während das rote Licht glühte und flackerte, warf es die langen Schatten dieser Männer über den Innenhof, die Wände hinauf zur umlaufenden Galerie, dorthin, wo die Lampen und Lichter im Innern oder auf dem Weg durch die Gemächer und Gänge andere Gesichter zeigten: dorthin, wo der Gefangene in einem inneren Audienzsaal seinem Feind, Ankläger und Richter gegenüberstand.

Welch ein Kontrast zwischen der Tempelreinigung nur wenige Tage zuvor, als derselbe Jesus die Tische des Hohenpriesters umgeworfen hatte, und dem, was er nun als gefesselter Gefangener vor sich hatte, der jedem Knecht ausgeliefert war, der sich durch mutwillige Beleidigungen seine Gunst erkaufen wollte! Es war eine kühle Nacht, als Petrus „unten“ zu den erleuchteten Fenstern hinaufblickte. Dort, unter den Dienern im Hof, war er in jeder Hinsicht „draußen“. Er würde hören, was sie zu sagen hatten; außerdem war es nicht sicher, abseits zu stehen; man könnte ihn als einen derjenigen erkennen, die nur durch überstürzte Flucht der Gefangennahme im Garten entgangen waren. Und dann war ihm kalt – und nicht nur dem Körper, sondern auch seiner Seele war es kalt geworden. War es richtig, dass er überhaupt dorthin gekommen war? Die Kommentatoren haben dies als Vernachlässigung der Warnung Christi diskutiert. Als ob die Liebe eines Menschen, der so war und so fühlte wie Petrus, die Möglichkeit dessen, wovor er gewarnt worden war, für möglich gehalten hätte; und wenn er sie für möglich gehalten hätte, hätte er sich in den ersten Augenblicken der Rückkehr nach der panischen Flucht an die Warnung erinnert oder mit kühler Berechnung nach ihrem vollen Maß gehandelt! Sich in sein Haus zu flüchten und die Tür hinter sich zu schließen, um nicht leugnen zu können, dass er Christus kannte, wäre weder Petrus noch ein wahrer Jünger gewesen. Nein, es wäre selbst eine schlimmere und feigere Verleugnung gewesen als die, deren er sich tatsächlich schuldig gemacht hatte. Petrus folgte in der Ferne und dachte an nichts anderes als an seinen gefangenen Meister und daran, dass er das Ende sehen würde, was immer es auch sein mochte. Aber jetzt war es kühl, sehr kühl, an Leib und Seele, und Petrus erinnerte sich an alles; zwar nicht an die Warnung, aber an das, wovor er gewarnt worden war. Was konnte sein Geständnis Gutes bewirken? vielleicht viel mögliches Leid; und warum war er dort?

Petrus war sehr unruhig, und doch musste er sehr ruhig wirken. Er „setzte“ sich zu den Dienern,dann stand er mitten unter ihnen auf. Es war diese Unruhe der versuchten Gleichgültigkeit, die die Aufmerksamkeit der Magd erregte, die ihn zuerst eingelassen hatte. Als sie in dem unsicheren Licht die Züge des geheimnisvollen Fremden musterte, beschuldigte sie ihn kühn, wenn auch noch in fragendem Ton, einer der Jünger des Mannes zu sein, der dort oben vor dem Hohenpriester angeklagt war. Und im Fieberwahn seiner Seele, in den die Erkältung geraten war, leugnete Petrus vehement jede Kenntnis desjenigen, auf den sich die Frau bezog, ja sogar die Bedeutung dessen, was sie sagte. Er hatte zu viel gesagt, um nicht bald eine weitere Anklage auf sich zu ziehen. Wir brauchen nicht nachzufragen, welcher der leicht variierenden Berichte in den Evangelien die tatsächlichen Worte der Frau oder die tatsächliche Antwort des Petrus wiedergibt. Vielleicht weder das eine noch das andere; vielleicht hat sie all dies gesagt, und er hat sicherlich all das geantwortet, obwohl keiner von beiden seine Worte auf die kurzen Sätze beschränken würde, die von jedem der Evangelisten berichtet werden.

Was hatte er dort zu tun? Und warum sollte er sich selbst oder vielleicht Christus durch ein unnötiges Geständnis vor denen belasten, die weder das moralische noch das rechtliche Recht hatten, es zu verlangen? Das war alles, woran er sich jetzt erinnerte und dachte; nichts von einer Verleugnung Christi. Und während sie noch miteinander plauderten und vielleicht ein paar Worte wechselten, zog sich Petrus zurück. Wir können nicht beurteilen, wie viel Zeit verstrichen war, aber wir nehmen an, dass die Worte der Frau entweder keinen Eindruck auf die Umstehenden gemacht hatten oder dass die kühne Verleugnung des Petrus sie zufriedengestellt hatte. Bald darauf sehen wir Petrus, wie er den „Vorhof“ hinuntergeht, rundherum in den „äußeren Vorhof“ öffnet. Er dachte an nichts anderes mehr als daran, wie kühl es war und wie recht er gehabt hatte, sich nicht von der Frau einfangen zu lassen. Und so achtete er nicht darauf, während seine Schritte über die marmorgepflasterte Veranda klangen, dass genau in diesem Moment „ein Hahn krähte“. Aber es gab keinen Schlaf in dieser Nacht im Palast des Hohepriesters. Als er die Veranda hinunter in Richtung des äußeren Hofes ging, begegnete ihm zuerst eine Magd; dann, als er vom äußeren Hof zurückkehrte, begegnete er erneut seiner alten Anklägerin, der Türhüterin; und als er den inneren Hof durchquerte, um sich wieder unter die Gruppe um das Feuer zu mischen, wo er früher Sicherheit gefunden hatte, wurde er zuerst von einem Mann angesprochen, und dann wandten sich alle um das Feuer auf ihn – und jeder und alle hatten dasselbe zu sagen, dieselbe Anklage, dass er auch einer der Jünger Jesu von Nazareth sei. Aber Petrus war entschlossen; er war sich ganz sicher, dass es richtig war; und jedem einzelnen und allen zusammen gab er dieselbe Verleugnung, jetzt kürzer, denn er war gesammelt und entschlossen, aber nachdrücklicher – sogar mit einem Schwur. a Und wieder brachte er den Verdacht für eine Zeitlang zum Schweigen. Oder vielleicht war die Aufmerksamkeit jetzt anders gelenkt.

Denn schon hörte man eilige Schritte in den Vorhallen und Gängen, und die Magd, die in dieser Nacht das Tor des Hohepriesterpalastes öffnete, war auf ihrem Posten beschäftigt. Es waren die führenden Priester, Ältesten und die in aller Eile in den Palast des Hohenpriesters gerufen worden waren und gerade hinaufeilten, als sich die ersten schwachen Streifen grauen Lichts am Himmel zeigten. Das private Verhör durch Kaiphas platzieren wir (wie im Johannesevangelium) zwischen der ersten und zweiten Verleugnung des Petrus; die erste Ankunft der Sanhedristen unmittelbar nach seiner zweiten Verleugnung. Die private Untersuchung des Kaiphas hatte nichts ergeben, und sie war in der Tat nur vorläufig. Die führenden Sanhedristen müssen gewarnt worden sein, dass in dieser Nacht ein Versuch zur Ergreifung Jesu unternommen werden würde, und dass sie sich bereithalten sollten, wenn sie zum Hohenpriester gerufen würden. Das steht nicht nur in völliger Übereinstimmung mit allen vorhergehenden und nachfolgenden Umständen in der Erzählung, sondern nichts weniger als ein Vorgang von so höchster Bedeutung hätte die Anwesenheit dieser religiösen Führer zu einem solchen Zweck in dieser heiligen Passahnacht gerechtfertigt.

Aber wie auch immer man es sehen mag, so viel ist zumindest sicher, dass es keine formelle, regelmäßige Sitzung des Sanhedrins war. Wir lassen als apriorische Argumentation solche Überlegungen beiseite, dass protestierende Stimmen erhoben worden wären, nicht nur von den Freunden Jesu, sondern auch von anderen, die wir (bei all ihrem jüdischen Hass auf Christus) nur als unfähig zu einer solch groben Verletzung von Recht und Gesetz ansehen können. Aber die gesamte jüdische Ordnung und das Gesetz wären in fast jeder Hinsicht grob verletzt worden, wenn dies eine formelle Sitzung des Sanhedrins gewesen wäre. Wir wissen, welche Formen sie hatten, obwohl viele von ihnen (wie so vieles in den rabbinischen Berichten) eher das Ideal als die Wirklichkeit darstellen – was die Rabbiner sich vorstellten, wie es sein sollte, statt wie es war; oder was aus späteren Zeiten stammen mag. Nach rabbinischem Zeugnis gab es drei Gerichtshöfe. In Städten mit weniger als 120 (oder, nach einer Autorität, 2301) männlichen Einwohnern gab es nur das niedrigste Gericht, das aus drei Richtern bestand. 2 Ihre Zuständigkeit war begrenzt und erstreckte sich insbesondere nicht auf Kapitalfälle. Die Befugnisse des nächsthöheren Gerichts, das aus dreiundzwanzig Richtern4 bestand, waren ebenfalls begrenzt, auch wenn es für Kapitalstrafsachen zuständig war. Das höchste Gericht war das der einundsiebzig oder der Große Sanhedrin, der zunächst in einer der Tempelkammern, der so genannten Lishkath haGazith – oder Kammer der behauenen Steine – tagte und von dem wir schreiben, dass es in „den Ständen der Söhne des Hannas“ tagte.Die Richter all dieser Gerichte wurden gleichermaßen durch Ordination (Semicha), ursprünglich durch Handauflegung, eingesetzt. Die Ordination wurde von drei Personen vorgenommen, von denen mindestens einer selbst ordiniert gewesen sein muss und seine Ordination über Josua bis zu Mose zurückverfolgen kann. Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass es eine regelmäßige Abfolge von ordinierten Lehrern gab, nicht nur bis Esra, sondern darüber hinaus bis Josua und Mose. Die Mitglieder der dreiundzwanzig Gerichtshöfe wurden vom Großen Sanhedrin ernannt. b Die Mitglieder der drei Gerichtshöfe wurden ebenfalls vom Großen Sanhedrin ernannt, der besonders anerkannte und würdige Männer mit der Aufgabe betraute, die Städte Palästinas zu bereisen und in ihnen die für das Amt am besten geeigneten Männer zu ernennen und zu ordinieren. Die für das Amt genannten Qualifikationen erinnern an diejenigen, die der heilige Paulus als Voraussetzung für das christliche Ältestenamt nennt.

Einige Schlussfolgerungen scheinen hier von Bedeutung zu sein, da sie Licht auf die frühen apostolischen Vorkehrungen werfen – wenn man, wie wir, davon ausgeht, dass die äußere Form der Kirche in großem Maße von der Synagoge abgeleitet war. Erstens stellen wir fest, dass es eine regelmäßige Ordination gab, und zwar, zumindest anfangs, durch Handauflegung. Diese Ordination war in der Synagoge nicht erforderlich, um Ansprachen zu halten oder die Liturgie zu leiten, sondern für die autoritative Lehre und vor allem für gerichtliche Funktionen, denen in der christlichen Kirche die Schlüsselgewalt entsprach – die Verwaltung der Disziplin und der Sakramente als Aufnahme in die und Verbleib in der Gemeinschaft der Kirche. Außerdem konnte die Ordination nur von denjenigen erteilt werden, die selbst rechtmäßig ordiniert worden waren und die daher ihre Ordination durch die zuvor Ordinierten nach oben verfolgen konnten. Außerdem hatte jedes dieser „Presbyterkollegien“ einen Leiter oder Präsidenten. Schließlich wurden Männer mit höchster (apostolischer) Autorität in die verschiedenen Städte gesandt, „um in jeder Stadt Älteste zu ernennen „

Die Ernennung zum obersten Gericht, dem Großen Sanhedrin, erfolgte durch das Gericht selbst, entweder durch die Beförderung eines Mitglieds der untergeordneten Gerichte oder eines Mitglieds aus der vordersten der drei Reihen, in denen „die Schüler“ oder Studenten den Richtern gegenüber saßen. Letztere saßen in einem Halbkreis unter dem Vorsitz des Nasi („Fürst“) und dem stellvertretenden Vorsitz des Ab-beth-din („Vater des Gerichtshofs“). Mindestens dreiundzwanzig Mitglieder waren erforderlich, um beschlussfähig zu sein. Wir haben so genaue Einzelheiten über die gesamten Vorkehrungen und Abläufe dieses Gerichts, die unseren Eindruck vom hauptsächlich idealen Charakter einiger der rabbinischen Notizen sehr bestätigen. Dem Halbkreis der Richter gegenüber befanden sich zwei Stenographen, die die Reden für und gegen den Angeklagten aufschrieben. Jeder der Studenten wusste Bescheid und saß an seinem eigenen Platz. In Kapitalprozessen wurden die Argumente, die für den Angeklagten sprachen, und danach die, die ihn belasteten, festgehalten. Wenn jemand für den Angeklagten gesprochen hatte, durfte er nicht noch einmal gegen das Gremium sprechen. Studenten durften für und nicht gegen ihn sprechen. Der Angeklagte konnte noch am Tag der Verhandlung für „nicht schuldig“ erklärt werden; ein Schuldspruch konnte jedoch erst am Tag nach der Verhandlung verkündet werden. Es scheint jedoch zumindest zweifelhaft, ob im Falle der Schändung des göttlichen Namens (Chillul haShem) das Urteil nicht sofort vollstreckt wurde. Schließlich begann die Abstimmung mit dem Jüngsten, damit die Jüngeren nicht von den Älteren beeinflusst werden konnten; und eine bloße Mehrheit reichte für eine Verurteilung nicht aus.

Dies sind nur einige der in den rabbinischen Schriften niedergelegten Vorschriften. Es ist von größerer Bedeutung zu fragen, inwieweit sie unter der eisernen Herrschaft des Herodes und der römischen Prokuratoren umgesetzt wurden. Hier sind wir in hohem Maße auf Vermutungen angewiesen. Wir können uns gut vorstellen, dass weder Herodes noch die Prokuratoren den Sanhedrin abschaffen wollten, sondern ihnen die Rechtsprechung überließen, vor allem in allen Fragen, die in irgendeiner Weise mit rein religiösen Fragen zusammenhängen könnten. Ebenso ist zu verstehen, dass beide ihnen die Macht des Schwertes und die Entscheidung über alle Angelegenheiten von politischer oder höchster Bedeutung entziehen wollten. Herodes würde sich die endgültige Entscheidung in allen Fällen vorbehalten, wenn er es für angebracht hielt, sich einzumischen, ebenso wie die Prokuratoren, die insbesondere keinen Versuch der Gerichtsbarkeit über einen römischen Bürger toleriert hätten. Kurzum, dem Sanhedrin wurde die volle Gerichtsbarkeit in untergeordneten und religiösen Angelegenheiten zugestanden, mit dem größten Schein, aber mit dem geringsten Maß an wirklicher Herrschaft oder oberster Autorität. Da sowohl Herodes als auch die Prokuratoren den Hohepriester, der ihr eigenes Geschöpf war, als das eigentliche Oberhaupt und den Repräsentanten der Juden betrachteten, und da es ihre Politik war, die Macht der unabhängigen und fanatischen Rabbiner zu beschneiden, können wir verstehen, dass in großen Strafsachen oder bei wichtigen Untersuchungen immer der Hohepriester den Vorsitz führte – der Vorsitz des Nasi war rechtlichen und rituellen Fragen und Diskussionen vorbehalten. Und damit stimmen die Notizen sowohl im Neuen Testament als auch bei Josephus überein.

Selbst diese kurze Zusammenfassung über den Sanhedrin wäre überflüssig, wenn es darum ginge, die Verfahrensregeln des Sanhedrins auf die Anklageerhebung gegen Jesus anzuwenden. Denn sowohl jüdische als auch christliche Beweise belegen die Tatsache, dass Jesus nicht formell vom Sanhedrin angeklagt und verurteilt wurde. Es wird allseits zugegeben, dass der Sanhedrin vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels aufhörte, Todesurteile auszusprechen. Das allein würde schon ausreichen. Aber außerdem hätte die Verhandlung und Verurteilung Jesu im Palast des Kaiphas (wie bereits erwähnt) gegen jeden Grundsatz des jüdischen Strafrechts und Verfahrens verstoßen. Solche Fälle konnten nur am regulären Versammlungsort des Sanhedrins verhandelt und das Todesurteil ausgesprochen werden, nicht, wie hier, im Palast des Hohenpriesters; kein Prozess, schon gar nicht ein solcher, konnte in der Nacht begonnen werden, nicht einmal am Nachmittag, obwohl, wenn die Diskussion den ganzen Tag gedauert hatte, das Urteil in der Nacht ausgesprochen werden konnte. Auch durfte kein Prozess an Sabbaten oder Festtagen stattfinden, auch nicht an deren Vorabenden, obwohl dies das Verfahren nicht zunichte gemacht hätte, und man auf der anderen Seite argumentieren könnte, dass ein Prozess gegen einen, der das Volk verführt hatte, vorzugsweise an öffentlichen Festtagen durchgeführt und das Urteil vollstreckt werden sollte,zur Warnung für alle. Schließlich gab es bei Kapitalprozessen ein sehr ausgeklügeltes System der Warnung und Ermahnung von Zeugen, während man mit Sicherheit behaupten kann, dass die jüdischen Richter bei einem regulären Prozess, wie voreingenommen sie auch sein mögen, nicht so gehandelt hätten, wie es die Sanhedristen und Kaiphas in diesem Fall taten.

Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass in den Evangelien nicht von einer förmlichen Verhandlung und Verurteilung durch den Sanhedrin die Rede ist. Verweise auf „den Sanhedrin“ oder „den gesamten Sanhedrin“ müssen in einem weiteren Sinne verstanden werden, der im Folgenden erläutert wird. Andererseits weisen die vier Evangelien gleichermaßen darauf hin, dass die gesamte Verhandlung in dieser Nacht im Palast des Kaiphas stattfand und dass in dieser Nacht kein förmliches Todesurteil ausgesprochen wurde. Der heilige Johannes berichtet nämlich überhaupt nicht über das Verfahren; der heilige Matthäus berichtet nur über die Frage des Kaiphas und die Antwort der Sanhedristen; und auch die Sprache des heiligen Markus vermittelt nicht die Vorstellung eines förmlichen Urteils. Und als sie Jesus am Morgen nach einer erneuten Beratung, ebenfalls im Palast des Kaiphas, zum Prätorium führten, taten sie das nicht als einen zum Tode Verurteilten, dessen Hinrichtung sie verlangten,h sondern als einen, gegen den sie bestimmte Anschuldigungen erhoben, die des Todes würdig waren,während sie, als Pilatus sie aufforderte, Jesus nach dem jüdischen Gesetz zu richten, antworteten, nicht etwa, dass sie das bereits getan hätten, sondern dass sie nicht befugt seien, über Kapitalfragen zu urteilen.

Aber obwohl Christus nicht in einer förmlichen Sitzung des Sanhedrins angeklagt und verurteilt wurde, kann es leider keinen Zweifel daran geben, dass seine Verurteilung und sein Tod das Werk, wenn nicht des Sanhedrins, so doch der Sanhedristen waren – der Gesamtheit von ihnen („dem ganzen Rat“), in dem Sinne, dass es das Urteil und die Absicht des gesamten Obersten Rates und der Führer Israels, mit nur sehr wenigen Ausnahmen, ausdrückte. Wir bedenken, dass der Beschluss, Christus zu opfern, schon seit einiger Zeit gefasst worden war. So schrecklich die Vorgänge in jener Nacht auch waren, so scheinen sie doch eine Art Zugeständnis zu sein – als ob die Sanhedristen gerne eine rechtliche und moralische Rechtfertigung für das gefunden hätten, was sie zu tun beschlossen hatten. Zunächst suchten sie „Zeugen“, oder wie Matthäus es richtig nennt, „falsche Zeugen“ gegen Christus. Da es sich um eine private Untersuchung handelte, konnten sie dieses Zeugnis nur bei ihren eigenen Mitmenschen suchen. Hass, Fanatismus und skrupellose östliche Übertreibung würden leicht bestimmte Aussagen Christi verdrehen und entstellen oder ihm fälschlicherweise andere zuschreiben. Aber es war eine viel zu eilige und aufgeregte Versammlung, und die Zeugen widersprachen sich selbst so grob, oder ihre Aussagen waren so notorisch fehlerhaft, dass man aus lauter Scham auf solche erfundenen Anklagen verzichten musste. Und zu diesem Ergebnis muss die majestätische Ruhe des Schweigens Christi sehr beigetragen haben. Bei direkt falschen und widersprüchlichen Zeugenaussagen ist es wohl am besten, überhaupt kein Kreuzverhör zu machen, sich nicht einzumischen, sondern den falschen Zeugen sich selbst zerstören zu lassen.

Die Priester verzichteten auf dieses Zeugnis und brachten als Nächstes wahrscheinlich einige ihrer eigenen Leute vor, die bei der ersten Tempelreinigung zugegen gewesen waren, als Jesus ihnen auf die Aufforderung hin, „ein Zeichen“ zum Beweis seiner Autorität zu geben, jenes geheimnisvolle „Zeichen“ der Zerstörung und Aufrichtung des Tempels seines Leibes gegeben hatte. 2 Sie hatten es damals völlig missverstanden, und dass es jetzt als Grund für eine Anklage gegen Jesus wiedergegeben wurde, muss direkt auf Kaiphas und Hannas zurückzuführen sein. Wir erinnern uns, dass Jesus hier zum ersten Mal nicht nur mit den Tempelbehörden, sondern auch mit dem Geiz der „Familie des Hannas“ in Konflikt geriet. Wir können uns vorstellen, wie der erzürnte Hohepriester das Verhalten der Tempelbeamten angezweifelt hätte, und wie man ihm als Antwort gesagt hätte, was sie versucht hatten und wie Jesus ihnen begegnet war. Vielleicht war dies die einzige wirkliche Untersuchung, die ein Mann wie Kaiphas über das, was Jesus sagte, anstellen wollte. Und hier wurde sie in ihrer grob entstellten Form und mit mehr als östlicher Übertreibung der Parteilichkeit tatsächlich als kriminelle Anklage vorgebracht!

Geschickt manipuliert, könnte das Zeugnis dieser Zeugen zu zwei Anklagen führen. Es würde zeigen, dass Christus ein gefährlicher Verführer des Volkes war, dessen Behauptungen diejenigen, die ihnen Glauben schenkten, dazu verleitet haben könnten, gewaltsam Hand an den Tempel zu legen, während die angebliche Behauptung, dass er den Tempel innerhalb von drei Tagen wieder aufbauen würde oder konnte, als göttliche oder magische Anmaßung ausgelegt werden könnte. Eine bestimmte Gruppe von Schriftstellern hat diesen Teil des Komplotts der Sanhedristen gegen Jesus ins Lächerliche gezogen. Es ist in der Tat wahr, dass es, als jüdische Anklage betrachtet, schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre, aus solchen Anschuldigungen ein Kapitalverbrechen zu konstruieren, obwohl dadurch, gelinde gesagt, ein starkes Vorurteil im Volk gegen Jesus geweckt werden konnte – und das war zweifellos eines der Ziele, die Kaiphas im Auge hatte. Aber man hat merkwürdigerweise vergessen, dass es dem Hohenpriester nicht darum ging, eine Anklage nach jüdischem Recht zu formulieren, denn die versammelten Sanhedristen hatten nicht die Absicht, Jesus auf diese Weise zu verklagen, sondern eine Anklage zu formulieren, die vor dem römischen Prokurator Bestand haben würde. Und hier konnte keine andere so wirksam sein wie die, ein fanatischer Verführer der unwissenden Bevölkerung zu sein, der sie zu wilden Tumulten verleiten konnte. Zwei ähnliche Fälle, in denen die Römer den jüdischen Fanatismus mit dem Blut der Heuchler und ihrer verblendeten Anhänger erstickten, fallen einem leicht wieder ein. Auf jeden Fall würde Kaiphas natürlich versuchen, seine Anklage gegen Jesus vor Pilatus auf irgendetwas anderes zu gründen als auf seinen Anspruch auf Messiasschaft und das Erbe Davids. Es wäre eine grausame Ironie, wenn ein jüdischer Hohepriester die erhabenste und heiligste Hoffnung Israels dem Spott eines Pilatus aussetzen müsste; und es könnte sich als ein gefährliches Vorgehen erweisen, sei es im Hinblick auf den römischen Statthalter oder die Gefühle des jüdischen Volkes.

Aber auch diese Anklage, ein Verführer des Volkes zu sein, scheiterte an der Uneinigkeit der beiden Zeugen, die das mosaische Gesetz verlangte,und die nach rabbinischer Vorschrift getrennt befragt werden mussten. Aber die Divergenz ihres Zeugnisses zeigt sich nicht gerade in den Unterschieden der Berichte des Matthäus und des Markus. Wenn man es für notwendig hält, diese beiden Erzählungen zu harmonisieren, wäre es besser, beide als Berichte dieser beiden Zeugen zu betrachten. Auf das, was Markus berichtet, kann das folgen, was Matthäus berichtet, oder umgekehrt, wobei das eine sozusagen die Grundlage für das andere ist. Aber die ganze Zeit über bewahrte Jesus dasselbe majestätische Schweigen wie zuvor, und auch die Ungeduld des Kaiphas, der von seinem Sitz aufsprang, um seinen Gefangenen zu konfrontieren und, wenn möglich, zu schreien, konnte ihm keine Antwort entlocken.

Jetzt blieb nur noch eines übrig. Jesus wusste es genau, und Kaiphas wusste es auch. Es ging darum, die Frage zu stellen, deren Beantwortung Jesus nicht verweigern konnte und die, einmal beantwortet, entweder zu seinem Bekenntnis oder zu seiner Verurteilung führen musste. In der kurzen geschichtlichen Zusammenfassung, die Lukas liefert, ist die Reihenfolge der Ereignisse vertauscht, so dass es scheinen könnte, als ob das, was er berichtet, bei der Versammlung der Sanhedristen1 am nächsten Morgen stattgefunden hätte. Aber eine sorgfältige Betrachtung der dortigen Ereignisse zwingt uns, den Bericht des Lukas als einen Bericht über die von Matthäus und Markus beschriebene nächtliche Versammlung zu betrachten. Das Motiv für die Umkehrung der Reihenfolge der Ereignisse durch Lukas mag darin bestanden haben,dass er die dreimalige Verleugnung des Petrus in einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfassen wollte, wobei die dritte Verleugnung nach der Nachtsitzung des Sanhedrins stattfand, bei der die abschließende Beschwörung des Kaiphas die Antwort hervorrief, die Lukas ebenso wie die beiden anderen Evangelisten aufzeichnet. Wie dem auch sei, wir verdanken dem heiligen Lukas einen weiteren Aspekt des Dramas jener Nacht. Wie wir vermuten, wurde zunächst die einfache Frage an Jesus gerichtet, ob er der Messias sei, worauf er mit dem Hinweis auf die Unnötigkeit einer solchen Anfrage antwortete, da man seine Behauptungen von vornherein nicht geglaubt, ja sogar erst einige Tage zuvor im Tempel abgelehnt hatte, darüber zu diskutieren. Daraufhin beschwor der Hohepriester den Wahrhaftigen in feierlichster Weise durch den lebendigen Gott, dessen Sohn er war, es zu sagen, ob er der Messias und der Göttliche sei – beides wurde so zusammengefügt, nicht nach jüdischem Glauben, sondern um die Ansprüche Jesu auszudrücken. Hier konnte es keinen Zweifel und kein Zögern geben. So feierlich, nachdrücklich, ruhig und majestätisch, wie zuvor sein Schweigen gewesen war, war nun seine Rede. Und seine Behauptung dessen, was er war, war verbunden mit dem, was Gott ihm in seiner Auferstehung und seinem Sitzen zur Rechten des Vaters zeigen würde, und was auch sie sehen würden, wenn er in den Wolken des Himmels käme, die im letzten Sturm des Gerichts über ihre Stadt und ihr Gemeinwesen hereinbrechen würden.

Sie hörten es alle – und wie es das Gesetz bei Gotteslästerung vorschrieb, zerriss der Hohepriester sein äußeres und inneres Gewand mit einem Riss, der nie mehr repariert werden konnte. Aber das Ziel war erreicht. Christus wollte seine Behauptungen weder erklären noch abändern oder zurücknehmen. Sie hatten es alle gehört; was nützten da Zeugen, er hatte Giddupha , „Lästerung“, gesprochen. Dann wandte er sich an die Versammelten und stellte ihnen die übliche Frage, die der förmlichen Verurteilung zum Tode vorausging. Im rabbinischen Original lautet sie:“Was meint ihr, meine Herren? Und sie antworteten, wenn für das Leben: „Für das Leben!“ und wenn für den Tod: „Für den Tod.“ Aber das förmliche Todesurteil, das, wenn es eine ordentliche Sitzung des Sanhedrins gewesen wäre, jetzt vom Vorsitzenden hätte gesprochen werden müssen,wurde nicht verkündet.

Es gibt eine merkwürdige jüdische Vorstellung, dass am Versöhnungstag das goldene Band an der Mitra des Hohenpriesters mit den eingravierten Worten „Heiligkeit Jehovas“ für diejenigen sühnt, die Gotteslästerung begangen haben. Es steht in schrecklichem Kontrast zur Gestalt des Kaiphas in jener schrecklichen Nacht. Oder hat die unsichtbare Mitra auf der Stirn des wahren und ewigen Hohenpriesters, die die Weihe seiner Erniedrigung an Jehova kennzeichnete, für diejenigen plädiert, die in jener Nacht dort versammelt waren, die blinden Führer der Blinden? Doch unter so vielen feierlichen Gedanken drängen sich einige in den Vordergrund. In jener Schreckensnacht, als alle Feindschaft der Menschen und die Macht der Hölle entfesselt waren, konnte selbst die Falschheit der Böswilligkeit ihm kein Verbrechen zur Last legen, und doch konnte man ihm nichts anderes vorwerfen als die Entstellung seiner symbolischen Worte. Welch ein Zeugnis für Ihn, dieser einsame, falsche und unpassende Zeuge! Nochmals: „Sie verurteilten ihn alle als des Todes würdig“. Das Judentum selbst würde dieses Urteil der Sanhedristen jetzt nicht wiederholen. Und ist es nicht doch wahr, dass Er entweder der Christus, der Sohn Gottes, oder ein Gotteslästerer war? Dieser Mann, der allein so ruhig und majestätisch war unter diesen leidenschaftlichen falschen Richtern und falschen Zeugen; majestätisch in seinem Schweigen, majestätisch in seiner Rede; unbeeindruckt von Drohungen, zu sprechen, unerschrocken von Drohungen, wenn er sprach; der alles sah – das Ende von Anfang an; der Richter unter seinen Richtern, der Zeuge vor seinen Zeugen: welcher war Er – der Christus oder ein lästernder Betrüger? Lasst die Geschichte entscheiden; lasst das Herz und das Gewissen der Menschheit die Antwort geben. Wäre Er das gewesen, was Israel sagte, hätte Er den Tod am Kreuz verdient; ist Er das, was die Weihnachtsglocken der Kirche und die Glocken des Auferstehungsmorgens verkünden, dann verehren wir Ihn mit Recht als den Sohn des lebendigen Gottes, den Christus, den Retter der Menschen.

Nachdem sich diese Versammlung der Sanhedristen aufgelöst hatte, wurden, wie wir aus dem Lukasevangelium erfahren, die abscheulichen Beleidigungen und Verletzungen von den Wachen und Dienern des Kaiphas an ihm verübt. Alle erhoben sich nun in gemeinsamer Rebellion gegen den vollkommenen Menschen: die elende Unterwürfigkeit des Ostens, die sich an den Beleidigungen dessen erfreute, den sie niemals hätte besiegen können und nicht einmal anzugreifen gewagt hatte; jene angeborene Vulgarität, die es liebt, auf gefallener Größe herumzutrampeln und auf ihre Weise einen Triumph zu schmücken, wo kein Sieg errungen wurde; die Brutalität des Schlimmeren als das Tier im Menschen (da sie bei ihm nicht unter der Führung des göttlichen Instinkts steht), die, wenn sie entfesselt wird, an Grobheit und Wildheit noch zuzunehmen scheint; und die Profanität und Teufelei, die es gewohnt sind, die erbärmlichen Witzeleien dessen, was als gesunder Menschenverstand bezeichnet wird, und die Schläge tyrannischer Machtanmaßung auf alles Höhere und Bessere anzuwenden, auf das, was diese Menschen nicht begreifen können und nicht aufzuschauen wagen, und vor dessen Schatten, wenn er vom Aberglauben geworfen wird, sie in erbärmlicher Angst kauern und zittern! Und doch haben diese Beleidigungen, Verspottungen und Schläge, die auf den einsamen Leidenden fielen, der nicht wehrlos war, sondern sich nicht wehrte, der nicht besiegt war, sondern sich nicht wehrte, der nicht hilflos war, sondern majestätisch in der freiwilligen Selbsthingabe für den höchsten Zweck der Liebe – nicht nur den Fluch der Menschheit gezeigt, sondern ihn auch beseitigt, indem er ihn auf Ihn, den Vollkommenen, den Christus, den Sohn Gottes, herabkommen ließ. Und seitdem kann jeder edelherzige Leidende an dem seltsam bewölkten Tag nach oben blicken und dem schwarzen, nebligen Schatten folgen, der, wenn er die Erde berührt, in das goldene Licht übergeht, das von hinten erleuchtet wird – ein Mantel der Finsternis, der uns einhüllt und dort oben im Licht aufgeht, wo seine Falten von der Hand des Himmels zusammengehalten zu werden scheinen.

Dies ist unser Leidtragender – Christus oder ein Lästerer; und wer von uns würde bei dieser Alternative nicht eher die Rolle des Angeklagten als die seiner Richter wählen? Soweit überliefert ist, entkam Seinen Lippen kein einziges Wort, keine Klage, kein Murmeln, kein entrüsteter Tadel, kein scharfer Schrei aus tiefster Empfindsamkeit und Schmerz. Er trank langsam, mit dem Bewusstsein williger Selbsthingabe, den Kelch, den ihm sein Vater gegeben hatte. Und doch war er sein Vater – und dies auch besonders in seiner messianischen Beziehung zu den Menschen.

Wir haben gesehen, dass Jesus, als Kaiphas und die Sanhedristen den Audienzsaal verließen, der ungehemmten Willkür der Dienerschaft überlassen wurde. Sogar das jüdische Gesetz besagte, dass kein „längerer Tod“ (Mithah Arikhta) zugefügt werden durfte und dass der zum Tode Verurteilte nicht vorher gegeißelt werden durfte. Endlich waren sie der Beschimpfungen und Schläge überdrüssig, und der Leidende wurde allein gelassen, vielleicht auf der überdachten Empore oder an einem der Fenster, die den Hof unten überblickten. Etwa eine Stunde war vergangenb, seit die zweite Verleugnung des Petrus durch die Ankunft der Sanhedristen sozusagen unterbrochen worden war. Seitdem hatte die Aufregung des Scheinprozesses mit dem Kommen und Gehen der Zeugen, die zweifelsohne auf östliche Art und Weise den im Gerichtssaal um das Feuer Versammelten wiederholten, was geschehen war, dann die Abreise der Sanhedristen und erneut die Beleidigungen und Schläge, die dem Leidtragenden zugefügt wurden, die Aufmerksamkeit von Petrus abgelenkt. Nun richtete sich die Aufmerksamkeit erneut auf ihn, und unter den gegebenen Umständen natürlich noch intensiver als zuvor. Das Geplapper des Petrus, den das Gewissen und das Bewusstsein nervös gemacht hatten, verriet ihn. Auch dieser war mit Jesus, dem Nazarener, zusammen; wahrlich, er war einer von ihnen, denn er war auch ein Galiläer! So sprachen die Umstehenden; während nach Johannes ein Mitknecht und Verwandter jenes Malthus, dem Petrus in seinem Eifer in Gethsemane das Ohr abgeschnitten hatte, behauptete, er habe ihn tatsächlich erkannt. Auf alle diese Erklärungen erwiderte Petrus nur eine noch heftigere Verleugnung, die er diesmal mit Schwüren an Gott und Verwünschungen an sich selbst verband.

Kaum war das Echo seiner Worte verklungen – kaum hatte ihre Diastole sie mit gurgelndem Lärm auf sein Gewissen zurückgesandt -, ertönte laut und schrill der zweite Hahnenschrei. Der raue, beharrliche Ton weckte auch sein Gedächtnis. Er erinnerte sich nun an die Worte der warnenden Vorhersage, die der Herr gesprochen hatte. Er blickte auf; und als er aufblickte, sah er, wie sich der Herr dort oben, genau in diesem Moment, umdrehte1 und ihn ansah – ja, in dieser ganzen Versammlung, auf Petrus! Seine Augen sprachen seine Worte, ja, viel mehr noch, sie durchdrangen die innersten Tiefen des Petrusherzens und brachen es auf. Sie hatten alle Selbsttäuschung, falsche Scham und Angst durchdrungen: Sie hatten den Mann, den Jünger, den Liebhaber Jesu erreicht. Da brachen sie hervor, die Wasser der Überzeugung, der wahren Scham, des Herzensschmerzes, der Qualen der Selbstverurteilung; und bitterlich weinend eilte er unter jenen Sonnen hervor, die das Eis des Todes geschmolzen und sich in sein Herz gebrannt hatten – heraus aus diesem verfluchten Ort des Verrats durch Israel, durch seinen Hohepriester – und sogar durch den stellvertretenden Jünger.

Er eilte hinaus in die Nacht. Doch es war eine Nacht, die von den Sternen der Verheißung erhellt war – allen voran von dem, dass der Christus dort oben, der siegreiche Leidende, für ihn gebetet hatte. Gott schenke uns in der Nacht unserer bewussten Selbstverurteilung dasselbe Sternenlicht seiner Verheißungen, dieselbe Gewissheit der Fürsprache Christi, damit, wie Luther es ausdrückt, die Besonderheit des Berichts über die Verleugnung des Petrus im Vergleich zur Kürze des Berichts über das Leiden Christi uns diese Lektion ins Herz lege: „Die Frucht und der Nutzen der Leiden Christi ist, dass wir durch sie die Vergebung unserer Sünden haben.

Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten

        14.Nisan

        (Matthäus 26:17-19; Markus 14:12-16; Lukas 22:7-13; Johannes 13:1; Matthäus 26:20; Markus 14:17; Lukas 22:14-16; Lukas 22:24-30; Lukas 22:17, 18; Johannes 13:2-20; Matthäus 26:21-24; Markus 14:18-21; Lukas 22:21-23; Johannes 13:21-26; Matthäus 26:25; Johannes 13:26-38; Johannes 13:26-38; Matthäus 26:21-24; Markus 14:18-21; Lukas 22:21-23; Johannes 13:21-26; Matthäus 26:25; Johannes 13:26-38). Matthäus 26,21-24; Markus 14,18-21; Lukas 22,21-23; Johannes 13,21-26; Matthäus 26,25; Johannes 13,26-38; Matthäus 26,26-29; Markus 14,22-25; Lukas 22,19.20).

        DER als „zwischen den beiden Abenden bezeichnete Zeitraum, in dem das Osterlamm geschlachtet werden sollte, war vorbei. Es steht außer Frage, dass damit zur Zeit Christi der Zeitraum zwischen dem Beginn des Sonnenuntergangs und der Stunde seines endgültigen Verschwindens (etwa 18 UHR) gemeint war. Die ersten drei Sterne waren sichtbar geworden, und der dreifache Stoß der silbernen Trompeten vom Tempelberg verkündete Jerusalem und der ganzen Welt, dass das Pascha wieder einmal begonnen hatte. In der festlich erleuchteten „Oberen Kammer“ des Markushauses waren nun der Meister und die Zwölf versammelt. War dies der Ort, an dem Christus zum letzten Mal und die Kirche zum ersten Mal zusammenkamen; der Ort, an dem das Heilige Abendmahl mit den Aposteln eingeführt wurde, und der Ort, an dem die Kirche es zum ersten Mal einnahm; der Ort, an dem er vor seinem Tod zum letzten Mal bei ihnen verweilte, und der Ort, an dem er ihnen nach seiner Auferstehung zum ersten Mal erschien; der Ort, an dem der Heilige Geist ausgegossen wurde, und der Ort, an dem sich die Kirche zum ersten Mal zum gemeinsamen Gebet zu versammeln pflegte, wenn das letzte Abendmahl im Haus des Markus stattfand? Wir wissen es nicht und können es nur vermuten, so sehr solche Gedanken und Assoziationen auch die Seele berühren.

        Soweit es den Anschein hat oder wir Grund zu der Annahme haben, war dieses Passahfest das einzige Opfer, das jemals von Jesus selbst dargebracht wurde. Wir erinnern uns zwar an das erste Opfer der Jungfrau-Mutter bei ihrer Reinigung. Aber das war ihr eigenes. Wenn Christus zu irgendeinem Passahfest in Jerusalem war, bevor sein öffentliches Amt begann, wäre er natürlich ein Gast an irgendeinem Tisch gewesen, nicht das Haupt einer Gesellschaft (die aus mindestens zehn Personen bestehen muss). Folglich wäre er nicht der Opferer des Osterlammes gewesen. Und von den drei Passahfesten, die seit Beginn seines öffentlichen Wirkens stattfanden, waren beim ersten seine zwölf Apostel nicht versammelt,so dass er nicht als Haupt einer Gemeinschaft hätte erscheinen können; beim zweiten war er nicht in Jerusalem, sondern im äußersten Galiläa, im Grenzgebiet von Tyrus und Sidon, wo natürlich kein Opfer dargebracht werden konnte. b So war das erste, das letzte, das einzige Opfer, das Jesus darbrachte, dasjenige, in dem er sich selbst symbolisch darbrachte. Auch das einzige Opfer, das er brachte, ist das, das mit der Einsetzung seines heiligen Abendmahls verbunden ist; so wie die einzige Reinigung, der er sich unterzog, die war, als er in seiner Taufe „das Wasser zur mystischen Abwaschung der Sünde heiligte“. Welchen zusätzlichen Sinn haben nun aber die Worte, die er zu den Zwölfen sprach, als er sich mit ihnen zum Abendmahl setzte: „Mit Sehnsucht habe ich gewünscht, dieses Pascha mit euch zu essen, bevor ich leide.

        Und in der Tat, wenn wir darüber nachdenken, können wir nicht nur verstehen, warum der Herr kein anderes Opfer hätte darbringen können, sondern dass es sehr passend war, dass Er dieses eine Pascha darbrachte, an seinem Gedenkmahl teilnahm und seine eigene neue Einsetzung mit dem verband, worauf dieses Mahl hinwies. Diese Verbindung des Alten mit dem Neuen, des einen symbolischen Opfers, das Er darbrachte, mit dem einen wirklichen Opfer, des Opfermahls mit dem anderen Festmahl über das eine Opfer, scheint ein Licht auf die Worte zu werfen, mit denen Er dem Ausdruck Seines Verlangens folgte, dieses eine Pascha mit ihnen zu essen: Ich sage euch: Ich werde nicht mehr1 davon essen,bis es im Reich Gottes vollendet ist. Und ist es nicht so, dass dieses sein letztes Pascha mit jenem anderen Fest verbunden ist, in dem er immer bei seiner Kirche gegenwärtig ist, nicht nur als ihre Speise, sondern auch als ihr Gastgeber, als das Pascha und als der, der es spendet? Mit einem Sakrament hat Jesus seinen Dienst begonnen: es war das der Trennung und Weihe in der Taufe. Mit einem zweiten Sakrament beendete er sein Wirken: es war das der Sammlung und der Gemeinschaft im Abendmahl. Beide gingen in seinen Tod, aber nicht als etwas, das Macht über ihn hatte, sondern als einen Tod, dem die Auferstehung folgte. Denn wenn wir in der Taufe mit Ihm begraben werden, so stehen wir auch mit Ihm auf; und wenn wir im Heiligen Abendmahl Seines Todes gedenken, so ist es als der des Auferstandenen – und wenn wir diesen Tod zeigen, so ist es, bis Er wiederkommt. Und so weist auch dieses Abendmahl auf das Große Abendmahl bei der endgültigen Vollendung seines Reiches hin.

        Nur ein einziges Opfer hat der Herr dargebracht. Wir denken jetzt nicht an die bedeutende jüdische Legende, die fast jedes große Ereignis und jede Befreiung in Israel mit der Paschanacht in Verbindung bringt. Aber das Pascha war in der Tat ein Opfer, aber eines, das sich von allen anderen unterschied. Es gehörte nicht zum Gesetz, denn es wurde eingesetzt, bevor das Gesetz gegeben oder der Bund durch Blut ratifiziert worden war; ja, es war in gewissem Sinne der Grund und die Grundlage aller levitischen Opfer und des Bundes selbst. Und es konnte weder dem einen noch dem anderen der verschiedenen Opferarten zugeordnet werden, sondern verband sie alle und unterschied sich doch von ihnen. So wie das Priestertum Christi wirklich war, aber nicht nach der Ordnung Aarons, so war auch das Opfer Christi wirklich, aber nicht nach der Ordnung der levitischen Opfer, sondern nach der des Passahs. Und wie beim Ostermahl ganz Israel um das Osterlamm versammelt war, um der Vergangenheit zu gedenken, die Gegenwart zu feiern, die Zukunft zu erwarten und in dem Lamm Gemeinschaft zu haben, so ist die Kirche seither um ihre bessere Erfüllung im Reich Gottes versammelt.

        Es ist schwer zu entscheiden, inwieweit nicht nur das heutige Zeremoniell, sondern sogar die Rubriken für das Ostermahl, wie sie in den ältesten jüdischen Dokumenten enthalten sind, zur Zeit Christi verbindlich gewesen sein könnten. Das Zeremoniell entwickelt sich schnell, allzu oft im Verhältnis zum Fehlen des geistlichen Lebens. Wahrscheinlich waren in früheren Zeiten die Zeremonien einfacher, so dass man bei ihrer Einhaltung mehr Spielraum hatte, vorausgesetzt, man behielt die wichtigsten Punkte des Rituals im Auge. Wir können davon ausgehen, dass, wie vorgeschrieben, alle zum Ostermahl in festlicher Kleidung erschienen. Wir wissen auch, dass sie sich, wie es das jüdische Gesetz vorschreibt, auf Kissen um einen niedrigen Tisch legten, wobei sich jeder auf seine linke Hand stützte, so dass die rechte frei blieb. Aber der alte jüdische Brauch wirft ein seltsames Licht auf die schmerzliche Szene, mit der das Abendmahl eröffnet wurde. So demütigend es sich liest und so unglaublich es scheint, begann das Abendmahl mit einem „Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten sollte“. Wir können keinen Zweifel daran haben, dass der Anlass dafür die Reihenfolge war, in der sie ihre Plätze am Tisch einnehmen sollten. Wir wissen, dass dies unter den Pharisäern umstritten war und dass sie beanspruchten, entsprechend ihrem Rang zu sitzen. Ein ähnliches Gefühl zeigte sich nun leider auch im Kreis der Jünger und beim letzten Abendmahl des Herrn. Selbst wenn wir keine weiteren Hinweise darauf hätten, würden wir einen solchen Streit instinktiv mit der Anwesenheit von Judas in Verbindung bringen. Johannes scheint sich zumindest indirekt darauf zu beziehen, wenn er seine Erzählung mit der folgenden Bemerkung einleitet: „Und während des Abendmahls hatte der Teufel es ihm schon ins Herz gegeben, dass Judas Iskariot, der Sohn Simons, ihn verraten würde“.Denn obwohl die Worte eine allgemeine Einleitung zu dem, was folgt, bilden und sich auf das Eindringen des Satans in das Herz des Judas am vorangegangenen Nachmittag beziehen, als er seinen Meister an die Sanhedristen verkaufte, sind sie nicht ohne besondere Bedeutung, wenn man sie in Zusammenhang mit dem Abendmahl stellt. Aber wir sind nicht auf allgemeine Mutmaßungen über den Einfluss von Judas in diesem Streit angewiesen. Wir glauben, dass es genügend Beweise dafür gibt, dass er den Hauptplatz am Tisch neben dem Herrn nicht nur beanspruchte, sondern tatsächlich erhielt. Dieser befand sich, wie bereits erläutert, nicht, wie allgemein angenommen, zur Rechten, sondern zur Linken Christi, nicht unter, sondern über ihm, auf den Liegen oder Kissen, auf denen sie lagen.

        Aus den Erzählungen der Evangelien schließen wir, dass Johannes neben Jesus gelegen haben muss, zu seiner Rechten, denn sonst hätte er sich nicht an seine Brust lehnen können. Dies wäre, wie wir gleich zeigen werden, an einem Ende – dem Kopfende des Tisches – oder, genauer gesagt, an einem Ende der Sofas. Denn unter Vernachlässigung aller konventionellen Vorstellungen müssen wir uns den Tisch als einen niedrigen orientalischen Tisch vorstellen. Im wird der Tisch der Jünger der Weisen so beschrieben, dass er aus zwei Teilen besteht, die mit einem Tuch bedeckt sind, während das andere Drittel frei bleibt, damit die Speisen darauf stehen können. Es gibt Hinweise darauf, dass sich dieser Teil des Tisches außerhalb des Kreises derer befand, die sich um ihn herum aufstellten. Gelegentlich wurde ein Ring daran befestigt, mit dem der Tisch über dem Boden aufgehängt wurde, um ihn vor einer möglichen levitischen Verunreinigung zu schützen. Während des Ostermahls war es Brauch, den Tisch während eines Teils des Gottesdienstes abzunehmen; oder, wenn dies als spätere Anordnung betrachtet wurde, wurden zumindest die Teller abgenommen und wieder aufgesetzt. Dies würde es erforderlich machen, dass das Ende des Tisches über die Reihe der Gäste, die sich um ihn herum niederließen, hinausragt. Denn wie bereits mehrfach erwähnt, war es üblich, sich bei Tisch auf die linke Seite zu legen und auf die linke Hand zu stützen, wobei die Füße nach hinten zum Boden gestreckt wurden und jeder Gast einen eigenen Diwan oder ein eigenes Kissen benutzte. Es wäre daher unmöglich gewesen, von hinten etwas auf den Tisch zu legen oder vom Tisch zu nehmen. Daher ragte das freie Ende des Tisches, das nicht mit einem Tuch bedeckt war, zwangsläufig über die Reihe derer hinaus, die sich um ihn herum niederließen. Wir können uns nun ein Bild von dieser Anordnung machen. Um einen niedrigen, ovalen oder eher länglichen orientalischen Tisch, der in zwei Teilen mit einem Tuch bedeckt ist und steht oder hängt, sind die einzelnen Diwane oder Kissen in Form eines länglichen Hufeisens angeordnet, wobei ein Ende des Tisches frei bleibt, etwa wie im nebenstehenden Holzschnitt. Hier stellt A den Tisch dar, B jeweils die Enden der beiden Reihen einzelner Diwane, auf denen jeder Gast auf seiner linken Seite liegt, wobei sein Kopf (C) dem Tisch am nächsten ist und seine Füße (D) sich nach hinten zum Boden strecken.

        So weit zur Anordnung des Tisches. Jüdische Dokumente sind ebenso eindeutig, was die Anordnung der Gäste betrifft. Es scheint eine feststehende Regel gewesen zu sein, dass in einer Gesellschaft von mehr als zwei, sagen wir drei, die Hauptperson oder das Haupt – in diesem Fall natürlich Christus – auf dem mittleren Diwan saß. Aus der Erzählung des Evangeliums wissen wir, dass Johannes den Platz zu seiner Rechten einnahm, an dem Ende des Diwans – wie wir es nennen können – am Kopfende des Tisches. Aber der Hauptplatz neben dem Meister wäre der Platz zu seiner Linken oder über ihm. Im Streit der Jünger, wer als der Größte gelten sollte, hatte Judas diesen Platz für sich beansprucht, und wir glauben, dass er ihn auch tatsächlich innehatte. Das erklärt, dass, als Christus dem Johannes zuflüsterte, an welchem Zeichen er den Verräter erkennen solle,keiner der anderen Jünger es hörte. Es erklärt auch, wie Christus zuerst Judas den Bissen reichte, der Teil des Osterrituals war, und mit ihm als dem Hauptgast am Tisch begann, ohne dadurch besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Und schließlich erklärt es den Umstand, dass, als Judas, der sich vergewissern wollte, ob sein Verrat bekannt war, zu fragen wagte, ob er es sei, und die Antwort bejahte,c niemand bei Tisch wusste, was geschehen war. Das konnte aber nicht der Fall sein, es sei denn, Judas hätte den Platz neben Christus eingenommen; in diesem Fall notwendigerweise den zu seiner Linken oder den Posten der höchsten Ehre. Was Petrus betrifft, so können wir durchaus verstehen, wie er, als der Herr mit so liebevollen Worten ihre Selbstsucht tadelte und sie die Größe der christlichen Demut lehrte, in seinem ungestümen Schamgefühl den untersten Platz am anderen Ende des Tisches einnehmen wollte. Schließlich können wir jetzt verstehen, wie Petrus Johannes, der am gegenüberliegenden Ende des Tisches saß, zuwinken und ihn über den Tisch hinweg fragen konnte, wer der Verräter sei. a Die übrigen Jünger nahmen die Plätze ein, die ihnen am günstigsten waren oder die ihrer Gemeinschaft untereinander entsprachen.

        Die Worte, die der Meister sprach, um ihren ungebührlichen Streit zu beschwichtigen, müssen sie in der Tat zutiefst berührt haben. Erstens zeigte Er ihnen, nicht so sehr in der Sprache der sanftesten Zurechtweisung, sondern in der der Lehre, den Unterschied zwischen weltlicher Ehre und Auszeichnung in der Kirche Christi. In der Welt bestand das Königtum in der Vorherrschaft und der Herrschaft, und der Titel „Wohltäter“ ging mit der Herrschaft der Macht einher. In der Kirche aber würde der „Größere“ nicht die Herrschaft ausüben, sondern wie der Geringere und Jüngere werden [letzteres bezieht sich auf den Umstand, dass das Alter neben der Gelehrsamkeit bei den Juden als Anspruch auf Auszeichnung und die höchsten Sitze galt]; statt dass derjenige, der die Autorität hatte, Wohltäter genannt würde, wäre das Verhältnis umgekehrt, und derjenige, der diente, wäre der Oberste. Selbstvergessene Demut anstelle von weltlichem Ruhm, Dienen anstelle von Herrschaft: Das sollte der Anspruch auf Größe und Autorität in der Kirche sein. Nachdem er ihnen so den Charakter und den Anspruch auf jene Größe im Reich Gottes gezeigt hatte, die ihnen bevorstand, wies er sie auch in dieser Hinsicht auf sich selbst als ihr Vorbild hin. Der Hinweis bezieht sich hier natürlich nicht auf die symbolische Fußwaschung, die der heilige Lukas nicht erwähnt – obwohl sie, da sie unmittelbar auf die Worte Christi folgt, diese veranschaulichen würde -, sondern auf den Tenor Seines ganzen Lebens und den Zweck Seiner Mission, als von einem, der diente, nicht bedient wurde. Schließlich weckte er sie zu dem höheren Bewusstsein ihrer eigenen Berufung. Sicherlich würden sie ihren Lohn nicht verlieren, aber nicht hier und auch nicht jetzt. Sie hatten seine „Prüfungen „2 geteilt und würden sie auch in Zukunft teilen und verfolgt wurde; aber sie würden auch seine Herrlichkeit teilen. Wie der Vater mit ihm einen „Bund“ geschlossen hatte, so hatte er auch mit ihnen einen „Bund“ geschlossen und ihnen ein Reich vermacht, „damit“ oder „damit“ sie in diesem Reich die festliche Gemeinschaft der Ruhe und der Freude mit ihm haben sollten. Was für sie und in dieser Hinsicht auch für Christus „Anfechtungen“ gewesen sein müssen, hatten sie ertragen: Statt messianischer Herrlichkeit, an die sie anfangs vielleicht gedacht hatten, hatten sie nur Widerspruch, Verleugnung und Schande erlebt – und sie waren mit ihm „geblieben“. Aber auch das Reich Gottes war im Kommen. Wenn seine Herrlichkeit offenbar wurde, würden auch sie es anerkennen. Hier hatte Israel den König und seine Boten abgelehnt, aber dann würde dasselbe Israel nach seinem Wort gerichtet werden. Dies war zwar eine königliche Würde, aber eine des Dienstes; eine volle königliche Anerkennung, aber eine des Werkes. In diesem Sinne waren Israels messianische Hoffnungen von ihnen zu verstehen. Ob etwas darüber hinausgeht und ob an jenem Tag, an dem er die Ausgestoßenen Israels wieder sammelt, seinen treuen Aposteln eine besondere Regel und ein besonderes Urteil gegeben werden kann, wagen wir nicht zu bestimmen. Für uns genügen die Worte Christi in ihrer ursprünglichen Bedeutung.

        Mit diesen Worten begann der Herr das Abendmahl, das an sich schon Symbol und Unterpfand dessen war, was er gerade gesagt und versprochen hatte. Das Ostermahl begann wie immer damit, dass das Oberhaupt der Gesellschaft den ersten Kelch nahm und über ihn „das Dankgebet“ sprach. Die heute gebräuchliche Form besteht eigentlich aus zwei Segenssprüchen – der erste über den Wein, der zweite für die Wiederkehr dieses Festtages mit allem, was er mit sich bringt, und dafür, dass wir noch einmal bewahrt werden, um ihn zu erleben. In den Evangelien scheinen die Worte, die auf den Segensspruch Christi folgen, darauf hinzudeuten, dass Jesus jedenfalls so weit von der gewöhnlichen Danksagung Gebrauch gemacht hat, dass er diese beiden Segenssprüche sprach. Wir wissen nämlich, dass sie schon vor seiner Zeit gebräuchlich waren, da zwischen den Schulen von Hillel und Schammai ein Streit darüber herrschte, ob der Segen über den Wein oder der über den Tag Vorrang haben sollte. Das über den Wein war ganz einfach: Gesegnet seist Du, Jehova, unser Gott, der Du die Frucht des Weinstocks geschaffen hast!‘ Die Formel wurde so oft bei der Segnung des Kelches verwendet und ist so einfach, dass wir nicht daran zweifeln müssen, dass dies die Worte waren, die unser Herr gesprochen hat. Anders verhält es sich mit dem Segensspruch „über den Tag“, der nicht nur zusammengesetzter ist, sondern auch Worte enthält, die Israels Nationalstolz und Selbstgerechtigkeit zum Ausdruck bringen und von denen wir nicht annehmen können, dass sie von unserem Herrn ausgesprochen worden wären. Mit dieser Ausnahme waren sie jedoch zweifellos inhaltlich mit der vorliegenden Formel identisch. Das schließen wir aus dem, was der Herr hinzufügte, als er den Kelch im Kreis der Jünger herumreichte. 3 Nie mehr, so sagte er ihnen, würde er den Segen über die Frucht des Weinstocks sprechen – nicht mehr den Dank „über den Tag“ aussprechen, dass sie „am Leben erhalten, erhalten und zu dieser Zeit gebracht“ worden waren. Ein anderer Wein und ein anderes Fest erwarteten ihn jetzt – in der Zukunft, wenn das Königreich kommen würde. Es sollte das letzte der alten Paschas sein, das erste oder vielmehr das Symbol und die Verheißung des neuen. Und so sprach Er zum ersten und letzten Mal den zweifachen Segen zu Beginn des Abendmahls.

        Der Becher, in dem nach ausdrücklichem rabbinischem Zeugnis der Wein mit Wasser vermischt wurde, bevor er „gesegnet“ wurde, war herumgereicht worden. Der nächste Teil des Zeremoniells bestand darin, dass sich das Oberhaupt der Gesellschaft erhob und „die Hände wusch“. Es ist dieser Teil des Rituals, von dem der heilige Johannesb berichtet, dass er von Christus angepasst und verändert wurde. Die Fußwaschung der Jünger ist offensichtlich mit dem Ritual der „Handwaschung“ verbunden. Dies geschah nun zweimal während des Ostermahls:das erste Mal durch das Oberhaupt der Gesellschaft allein, unmittelbar nach dem ersten Kelch; das zweite Mal durch alle Anwesenden, zu einem viel späteren Zeitpunkt des Gottesdienstes, unmittelbar vor dem eigentlichen Mahl (am Lamm usw.). Hätte die Fußwaschung bei der letztgenannten Gelegenheit stattgefunden, so ist es naheliegend, anzunehmen, dass, als der Herr sich erhob, alle Jünger seinem Beispiel gefolgt wären, so dass die Fußwaschung unmöglich gewesen wäre. Außerdem stand die Fußwaschung, die sowohl als Lehre als auch als Beispiel für Demut und Dienst gedacht war, offensichtlich im Zusammenhang mit dem Streit, „wer von ihnen als der Größte gelten sollte“. Wenn dem so ist, muss die symbolische Handlung unseres Herrn in engem Zusammenhang mit dem Streit der Jünger und mit der Lehre unseres Herrn darüber stehen, was in der Kirche Herrschaft und Größe ausmacht. Daher muss die Handlung mit der ersten Handwaschung – derjenigen durch das Haupt der Gesellschaft – unmittelbar nach dem ersten Kelch verbunden gewesen sein und nicht mit derjenigen zu einem späteren Zeitpunkt, als vieles andere dazwischen lag.

        Alles andere stimmt damit überein. Der Klarheit halber sei hier der Bericht des heiligen Johannes rekapituliert. Die einleitenden Worte über die Liebe Christi zu den Seinen bis zum Ende bilden die allgemeine Einleitung. Dann folgt der Bericht über das, was „während des Abendmahls“ geschah – das Abendmahl selbst wird nicht beschrieben -, und er beginnt zur Erläuterung dessen, was über Judas zu berichten ist, mit den folgenden Worten: Der Teufel hat ihm schon ins Herz gegeben, dass Judas Iskariot, der Sohn Simons, ihn verraten wird. So allgemein dieser Hinweis auch ist, so enthält er doch vieles, was besondere Aufmerksamkeit erfordert. Dankbar stellen wir fest, dass das Herz des Menschen nicht in der Lage war, den Verrat an Christus zu verursachen; die Menschheit war zwar gefallen, aber nicht so tief. Es war der Teufel, der ihn in Judas‘ Herz „geworfen“ hatte – mit Gewalt und überwältigender Macht. Als Nächstes folgt die vollständige Beschreibung des Namens und der Abstammung des Verräters. Sie liest sich wie der Wortlaut einer formellen Anklageschrift. Und obwohl es nur eine einleitende Erklärung zu sein scheint, weist sie auch auf den Gegensatz zur Liebe Christi hin, die bis zum Ende ausharrte, selbst als die Hölle selbst ihren Rachen öffnete, um ihn zu verschlingen; den Gegensatz auch zwischen dem, was Jesus und dem, was Judas zu tun im Begriff war, und zwischen dem wilden Sturm des Bösen, der im Herzen des Verräters tobte, und der ruhigen Majestät der Liebe und des Friedens, die in dem des Erlösers herrschte.

        Wenn das, was Satan in das Herz des Judas geworfen hatte, sein Verhalten erklärt, so erklärt das Wissen, das Jesus besaß, das, was er im Begriff war zu tun. 2 So vielfältig die Gedanken sind, die die Worte „da er wusste, dass der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott ging“ nahelegen, so müssen sie doch aufgrund ihres offensichtlichen Zusammenhangs in erster Linie auf die Fußwaschung angewendet werden, deren logische Vorstufe sie sozusagen sind. Es war sein größter Akt der Erniedrigung und des Dienstes, und doch verlor er dabei nicht einen Augenblick lang etwas von der Majestät oder dem Bewusstsein seiner göttlichen Würde; denn er tat es mit dem vollen Wissen und der Gewissheit, dass alles in seiner Hand lag und dass er von Gott kam und zu ihm ging – und er konnte es tun, weil er dies wusste. Hier sind die Erniedrigung und die Erhöhung des Gottmenschen nicht nebeneinander, sondern in Kombination. Und so „während des Abendmahls“, das mit dem ersten Kelch begonnen hatte, „steht er vom Abendmahl auf“. Die Jünger würden sich kaum darüber wundern, wenn er sich nicht an den Brauch des Händewaschens halten würde, der, wie er oft erklärt hatte, als zeremonielles Ritual für diejenigen, die innerlich nicht rein waren, nutzlos und sinnlos war, deren Herz und Leben gereinigt war. Aber sie müssen sich gewundert haben, als sie sahen, wie Er sein Obergewand ablegte, sich mit einem Handtuch umgürtete und Wasser in ein Becken goss, wie ein Sklave, der im Begriff war, den einfachsten Dienst zu verrichten.

        Da Petrus, wie wir gezeigt haben, am Ende des Tisches saß, war es nur natürlich, dass der Herr mit ihm die Fußwaschung begann. Hätte er sich zuerst den anderen zugewandt, hätte Petrus entweder vorher protestieren müssen, oder sein späteres Zurechtweisen wäre verspätet gewesen und entweder ein Akt der Selbstgerechtigkeit oder der unnötigen freiwilligen Demut. Wie dem auch sei, die Überraschung, mit der er und die anderen die Vorbereitung des Herrn miterlebt hatten, brach in charakteristische Worte aus, als Jesus sich ihm näherte, um ihm die Füße zu waschen. Herr – du hast mir die Füße gewaschen! Es war die Äußerung tiefster Ehrfurcht vor dem Meister und doch ein völliges Missverständnis der Bedeutung Seiner Handlung, vielleicht sogar Seines Werkes. Jesus tat nun, was er zuvor gesprochen hatte. Den Akt der Äußerlichkeit und Selbstgerechtigkeit, den die Handwaschung darstellte und durch den das Haupt der Gesellschaft von allen anderen unterschieden und geweiht werden sollte, wandelte Er in eine Fußwaschung um, in der der Herr und Meister zwar von den anderen unterschieden werden sollte, aber durch den demütigsten Dienst der Liebe, und in der Er durch sein Beispiel zeigte, was Größe im Königreich auszeichnet und dass Dienst ein Beweis für Herrschaft ist. Und wie in jedem Symbol steckt auch in dieser Tat des Herrn das Reale. Denn indem sie an diesem Akt der Liebe und des Dienstes des Herrn teilhatten, empfingen sie, die gebadet worden waren – die zuvor im Herzen und im Geist rein geworden waren -, nun auch jene Reinigung der „Füße“, des aktiven und täglichen Wandels, die aus wahrer Herzensdemut kommt, im Gegensatz zum Stolz, und in dem Dienst besteht, den die Liebe bis zum Äußersten zu leisten bereit ist.

        Aber Petrus hatte nichts von alledem verstanden. Er fühlte nur die Unvereinbarkeit ihrer relativen Positionen. Und so sagte ihm der Herr, teils um seinen Ungestüm zur absoluten Unterwerfung des Glaubens zu führen, teils um ihm die tiefere Wahrheit zu zeigen, die er in der Zukunft lernen sollte, nur, dass er es zwar jetzt nicht wisse, aber später verstehen werde, was der Herr tue. Ja, später – wenn er nach jener Nacht des schrecklichen Sturzes am See Genezareth lernen würde, was es wirklich bedeutet, die Lämmer zu weiden und die Schafe Christi zu hüten; ja, später – wenn er sich nicht mehr, wie in seiner Jugend, gürten und gehen würde, wohin er wollte. Aber dennoch konnte Petrus sich nicht mit der Voraussage begnügen, dass er in der Zukunft verstehen und in das eintreten würde, was Christus tat, als er ihnen die Füße wusch. Niemals, erklärte er, könne er das zulassen. Dieselben Gefühle, die ihn zu dem Versuch veranlasst hatten, den Herrn vom Weg der Erniedrigung und des Leidens abzubringen, machten sich nun wieder geltend. Es war zwar persönliche Zuneigung, aber es war auch der Unwille, sich der Demütigung des Kreuzes zu unterwerfen. Und so sagte ihm der Herr, wenn er ihn nicht wasche, habe er keinen Anteil an ihm. Nicht, dass der bloße Akt der Waschung ihm Anteil an Christus gegeben hätte, sondern dass die Weigerung, sich ihm zu unterwerfen, ihn dessen beraubt hätte; und dass die Teilhabe an dieser Waschung gleichsam der Weg war, um an Christi Liebesdienst teilzuhaben, in ihn einzutreten und ihn zu teilen.

        Doch Petrus verstand nicht. Aber wie es an jenem Morgen am See Genezareth den Anschein hatte, dass er, als er alles andere verloren hatte, die Liebe bewahrt hatte, so gab ihm die Liebe zu Christus jetzt den Sieg – und wieder hätte er mit dem ihm eigenen Ungestüm nicht nur seine Füße, sondern auch seine Hände und sein Haupt zur Waschung angeboten. Doch auch hier lag ein Missverständnis vor. Es gab eine tiefe symbolische Bedeutung, nicht nur darin, dass Christus es tat, sondern auch in dem, was er tat. Die Unterwerfung unter sein Tun bedeutete symbolisch Anteil und Teilhabe an seinem Werk. Was er tat, bedeutete sein Werk und seinen Dienst der Liebe; die ständige Reinigung des eigenen Wandels und Lebens in der Liebe Christi und im Dienst an dieser Liebe. Es war keine bedeutungslose Zeremonie der Erniedrigung seitens Christi, noch eine, bei der Unterwerfung bis zum Äußersten verlangt wurde; aber die Handlung war symbolisch und bedeutete, dass der Jünger, der bereits gebadet und in Herz und Geist gereinigt war, nur noch dies brauchte – seine Füße in geistiger Weihe für den Dienst der Liebe zu waschen, den Christus hier in einer symbolischen Handlung vorgeführt hatte. Und so bezogen sich Seine Worte nicht, wie so oft angenommen wird, auf die Vergebung unserer täglichen Sünden – deren Einführung völlig abrupt und ohne Zusammenhang mit dem Kontext gewesen wäre -, sondern, im Gegensatz zu aller Selbstsucht, auf die tägliche Weihe unseres Lebens zum Dienst der Liebe nach dem Beispiel Christi.

        Und doch kommen all diese Worte in vielfältiger und immer wieder neuer Anwendung zu uns. Im Missverständnis unserer Liebe zu Ihm stellen wir uns allzu oft vor, dass Christus nicht das wollen oder tun kann, was uns von Seiner Seite aus unvereinbar erscheint, oder besser gesagt, unvereinbar mit dem, was wir über Ihn denken. Wir wissen es jetzt nicht, aber wir werden es in Zukunft verstehen. Und dennoch beharren wir auf unserem Widerstand, bis wir merken, dass wir damit sogar unseren Anteil an und mit Ihm verlieren würden. Doch nicht viel, nicht sehr viel, verlangt Er, der so viel gibt. Er, der uns ganz und gar gewaschen hat, möchte nur, dass wir unsere Füße für den Dienst der Liebe reinigen, so wie Er uns das Beispiel gegeben hat.

        Sie waren rein, diese Jünger, aber nicht alle. Denn er wusste, dass unter ihnen der war, „der ihn verriet „aber nicht mit dem Wissen um ein unausweichlich bevorstehendes Schicksal, noch viel weniger mit dem Wissen um ein absolutes Urteil, sondern mit jenem Wissen, das immer wieder die Warnung aussprechen würde, wenn er auf irgendeine Weise gerettet werden könnte. Was gekommen wäre, wenn Judas Buße getan hätte, ist eine ebenso müßige Frage wie diese: Was wäre gekommen, wenn Israel als Nation Buße getan und Christus angenommen hätte? Denn von unserem menschlichen Standpunkt aus können wir nur die menschliche Seite der Dinge betrachten – die irdische; und hier ist jede Handlung nicht isoliert, sondern immer das Ergebnis einer vorangegangenen Entwicklung und Geschichte, so dass ein Mensch immer aus freien Stücken handelt, aber immer in Folge einer inneren Notwendigkeit.

        Der feierliche Gottesdienst Christi ging nun in der Stille ehrfürchtiger Ehrfurcht weiter. Niemand wagte es, ihn zu fragen oder ihm zu widersprechen. Es war zu Ende, und Er hatte sein Obergewand wieder angenommen und seinen Platz am Tisch eingenommen. Nun war es an Ihm, der symbolischen Handlung anschauliche Worte folgen zu lassen und die praktische Anwendung dessen zu erklären, was soeben getan worden war. Das sollte nicht missverstanden werden. Sie pflegten ihn mit den beiden höchsten Namen „Lehrer“ und „Herr“ zu nennen, und diese Bezeichnungen waren mit Recht seine. Zum ersten Mal akzeptierte und besaß Er die höchste Ehrerbietung. Wie viel mehr muss dann Sein Liebesdienst, der ihr Lehrer und Herr war, als Beispiel2 für das dienen, was ein jeder seinem Mitschüler und Mitdiener schuldig war3! Er, der wirklich Herr und Meister war, hatte ihnen diesen niedrigsten Dienst erwiesen, als Beispiel dafür, dass sie so handeln sollten, wie er es getan hatte. Kein Grundsatz war besser bekannt, fast sprichwörtlich in Israel, als dass ein Knecht nicht mehr Ehre beanspruchen sollte als sein Herr, noch der Gesandte als der, der ihn gesandt hatte. Sie kannten dies und nun auch die Bedeutung der symbolischen Handlung der Fußwaschung; und wenn sie sie ausführten, dann würde ihnen die verheißene „Seligkeit“ zuteil werden4.

        Dieser Hinweis auf die bei den Juden gebräuchlichen Ausdrücke, der im Johannesevangelium besonders bemerkenswert ist, veranlasst uns, einige illustrative Anmerkungen aus derselben Quelle zu ergänzen. Das griechische Wort für „das Handtuch“, mit dem sich unser Herr umgürtete, kommt auch in den rabbinischen Schriften vor, um das Handtuch zu bezeichnen, das beim Waschen und bei Bädern verwendet wurde (Luntith und Aluntith). Ein solches Umgürten war das übliche Kennzeichen eines Sklaven, der den Dienst der Fußwaschung üblicherweise verrichtete. Und in einer sehr interessanten Passage kontrastiert die Midrascha das, was in dieser Hinsicht der Weg des Menschen ist, mit dem, was Gott für Israel getan hatte. Denn er wurde vom Propheten so beschrieben, dass er für sie den Dienst der Fußwaschung und andere Dienste, die gewöhnlich von Sklaven verrichtet wurden, verrichtete. c Auch die Kombination dieser beiden Bezeichnungen, „Rabbi und Herr“ oder „Rabbi, Vater und Herr“, gehörte zu den am meisten verbreiteten Bezeichnungen der Jünger. Nicht selten wird der Gedanke geäußert, dass es besser wäre, nicht erschaffen worden zu sein, wenn der Mensch das Gesetz kennt und es nicht tut. Am interessantesten ist jedoch der Hinweis auf das Verhältnis zwischen dem Absender und dem Gesandten sowie zwischen einem Diener und seinem Herrn. Von ersterem wird sprichwörtlich gesagt, dass der Gesandte zwar auf derselben Stufe steht wie der, der ihn gesandt hat,er aber weniger Ehre zu erwarten hat. f Und was die Aussage Christi betrifft, dass „der Knecht nicht größer ist als sein Herr“, so lesen wir dies an einer Stelle im Zusammenhang mit den Leiden des Messias: ‚Es genügt dem Knecht, dass er seinem Herrn gleich ist‘

        Doch zurück zum Thema. Die Fußwaschung Christi, an der Judas teilgenommen hatte, und die erklärenden Worte, die darauf folgten, erforderten in ihrer Wahrhaftigkeit fast diese Einschränkung: „Ich spreche nicht von euch allen“. Denn es würde eine Nacht der schrecklichen moralischen Durchleuchtung für sie alle werden. Eine feierliche Warnung war für alle Jünger notwendig. Außerdem hätte der Verrat eines aus ihren Reihen sie daran zweifeln lassen können, ob Christus wirklich göttliches Wissen besaß. Andererseits würde diese klare Vorhersage nicht nur ihren Glauben an ihn bestätigen, sondern auch zeigen, dass die Anwesenheit eines Judas unter ihnen einen tieferen Sinn hatte. Wir stoßen hier auf diese Worte von tiefster Rätselhaftigkeit: „Ich kenne die, die ich erwählt habe; damit aber die Schrift erfüllt werde: Wer mein Brot isst, der hebt seine Ferse gegen mich auf.i Es wäre fast unmöglich zu glauben, auch wenn es der Kontext nicht verbietet, dass dieses Wissen, von dem Christus sprach, sich auf ein ewiges Vorherwissen bezog; mehr noch, dass es bedeutete, dass Judas mit einem solchen Vorherwissen auserwählt worden war, damit diese schreckliche Schrift an ihm erfüllt würde. Ein solches Vorauswissen und eine solche Vorausbestimmung wäre Sünde, und sie würde Gedanken beinhalten, zu denen nur die Härte unserer menschlichen Logik in ihrer fatalen Systembildung jemanden verleiten könnte. Vielmehr müssen wir es so verstehen, dass Jesus von Anfang an die innersten Gedanken derer kannte, die er zu seinen Aposteln erwählt hatte; dass aber durch diesen Verrat eines von ihnen die schreckliche Vorhersage der schlimmsten Feindschaft, der Undankbarkeit, die in allen Zeitaltern der Kirche galt, ihre vollständige Erfüllung finden würde. Das Wort „dass“ – „dass die Schrift erfüllt werde“ – bedeutet nicht „damit“ oder „zu dem Zweck“; es bedeutet niemals dies in diesem Zusammenhang; und es wäre völlig unvernünftig, anzunehmen, dass ein Ereignis eintrat, damit eine besondere Vorhersage erfüllt werden konnte. Es bezeichnet vielmehr den höheren inneren Zusammenhang in der Abfolge der Ereignisse, wenn ein Geschehen in der freien Entscheidung der Handelnden stattgefunden hat, wodurch, ohne dass sie es wussten und ohne dass andere daran dachten, unerwartet das eingetreten ist, was göttlich vorausgesagt worden war. Hierin zeigt sich der göttliche Charakter der Prophetie, die immer zugleich Ankündigung und Vorankündigung ist, d. h. neben der Vorhersage auch ein moralisches Element enthält: dass, während der Mensch frei handeln kann, jede Entwicklung auf das göttlich vorhergesehene und vorherbestimmte Ziel zusteuert. Das Wort „dass“ kennzeichnet also nicht die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung, sondern zwischen dem göttlichen Vorläufer und dem menschlichen Nachfolger.

        Dahinter verbirgt sich in der Tat eine viel tiefere Frage, auf die schon einmal kurz hingewiesen worden ist. Hat Christus von Anfang an gewusst, dass Judas ihn verraten würde, und hat er ihn dennoch in diesem Wissen zu einem der Zwölf erwählt? Hier können wir nur antworten, indem wir dies als einen Kanon beim Studium des Erdenlebens des Gottmenschen angeben, dass es Teil Seiner Selbsterneuerung war – dass Er sich entäußerte und die Gestalt einer Servanta annahm -, freiwillig auf Sein göttliches Wissen bei der Wahl Seiner menschlichen Handlungen zu verzichten. Nur so konnte Er als vollkommener Mensch dem göttlichen Gesetz vollkommen gehorchen. Denn wenn das Göttliche Ihn bei der Wahl Seiner Handlungen bestimmt hätte, wäre Seinem Gehorsam kein Verdienst beizumessen gewesen, und man könnte auch nicht sagen, dass Er als vollkommener Mensch an unsere Stelle getreten wäre und das Gesetz an unserer Stelle und als unser Stellvertreter befolgt hätte, noch dass Er unser Vorbild wäre. Wenn aber Seine göttliche Erkenntnis Ihn bei der Wahl Seiner Handlungen nicht leitete, so können wir Gründe sehen und haben sie bereits angedeutet, warum die Nachfolge und der Dienst des Judas angenommen werden sollten, wenn es sich nur um die eines Judäers gehandelt hätte, eines Mannes, der in vielerlei Hinsicht für ein solches Amt geeignet war und der Vertreter einer der verschiedenen Richtungen war, die auf den Empfang des Messias hinarbeiteten.

        Wir sind nicht in der Lage zu beurteilen, ob Christus all diese Dinge ununterbrochen sprach, nachdem er sich hingesetzt und den Jüngern die Füße gewaschen hatte oder nicht. Wahrscheinlicher ist, dass es an verschiedenen Stellen des Mahls geschah. Das würde auch die scheinbare Abruptheit dieses Schlusssatzes erklären: „Wer den aufnimmt, den ich sende, der nimmt mich auf. Und doch scheint der innere Zusammenhang des Gedankens klar zu sein. Die Abtrünnigkeit und der Verlust eines der Apostel war Christus bekannt. Würde er das Band, das das Apostelkollegium zusammenhielt, endgültig auflösen und damit ihre göttliche Sendung (das Apostolat) und ihre Autorität außer Kraft setzen? Die Worte Christi enthielten die tröstliche Zusicherung, dass ein solcher Bruch nicht von Dauer, sondern nur vorübergehend sein würde, und dass auch in dieser Hinsicht „der Grund Gottes steht“.

        In der Zwischenzeit war das Ostermahl im Gange. Wir erkennen diese wichtige Zeitangabe an den Worten des Matthäus: „während sie aßen „oder, wie Markus es ausdrückt, „während sie sich niederließen und aßen „c. Nach der Rubrik sollten die Speisen nach dem „Waschen“ sofort auf den Tisch gebracht werden. Dann tauchte das Oberhaupt der Gesellschaft einige der bitteren Kräuter in das Salzwasser oder den Essig, sprach einen Segensspruch, aß davon und reichte sie dann jedem in der Gesellschaft. Als Nächstes bricht er einen der ungesäuerten Kuchen (nach dem heutigen Ritual den mittleren der drei), von dem die Hälfte für die Zeit nach dem Abendmahl beiseite gelegt wird. Dies wird Aphiqomon oder Nachspeise genannt, und da wir glauben, dass das Brot“ der Heiligen Eucharistie das Aphiqomon war, sind hier einige Einzelheiten von Interesse. Die Schale, in der der zerbrochene Kuchen liegt (nicht der Aphiqomon), wird hochgehoben, und es werden folgende Worte gesprochen: „Das ist das Brot des Elends, das unsere Väter im Land Ägypten gegessen haben. Alle, die hungrig sind, kommen und essen; alle, die bedürftig sind, kommen und feiern das Pascha“. Im moderneren Ritual werden die Worte hinzugefügt: ‚Dieses Jahr hier, nächstes Jahr im Land Israel; dieses Jahr Leibeigene, nächstes Jahr frei! Daraufhin wird der zweite Becher gefüllt, und der Jüngste in der Runde wird angewiesen, sich förmlich nach dem Sinn aller Bräuche in dieser Nacht zu erkundigen, woraufhin die Liturgie eine ausführliche Antwort auf das Fest, seinen Anlass und sein Ritual gibt. Der Talmud fügt hinzu, dass der Tisch vorher abgenommen werden soll, um die Neugierde zu wecken. Wir nehmen nicht an, dass selbst das frühere Ritual die genauen Bräuche zur Zeit Christi wiedergibt, oder dass sie, selbst wenn dies der Fall wäre, am Ostertisch des Herrn genau eingehalten wurden. Aber in den jüdischen Schriften wird so viel Nachdruck auf die Pflicht gelegt, beim Ostermahl die Umstände des ersten Passahs und die damit verbundene Befreiung vollständig zu wiederholen, dass wir kaum daran zweifeln können, dass das, was die Mischna als so wesentlich erklärt, Teil des Gottesdienstes jener Nacht war. Und wenn wir an den Kommentar unseres Herrn zum Passahfest und zur Befreiung Israels denken, kommen uns die Worte, die beim Brechen des ungesäuerten Kuchens gesprochen wurden, wieder in den Sinn, und zwar mit einer tieferen Bedeutung, die ihnen zukommt.

        Danach wird der Kelch erhoben, und der Gottesdienst zieht sich etwas in die Länge, wobei der Kelch ein zweites Mal erhoben wird und bestimmte Gebete gesprochen werden. Dieser Teil des Gottesdienstes endet mit den ersten beiden Psalmen der Reihe „Hallel“, wenn der Kelch ein drittes Mal erhoben, ein Gebet gesprochen und der Kelch getrunken wird. Damit endet der erste Teil des Gottesdienstes. Und nun beginnt das Ostermahl, indem sich alle die Hände waschen – ein Teil des Rituals, von dem wir kaum glauben, dass Christus ihn beachtet hat. Wir glauben, dass die Seele des Gottmenschen während dieser ausgedehnten Darlegung und des Gottesdienstes von der „Bedrängnis im Geiste“ heimgesucht wurde, von der der heilige Johannes spricht. So vermessen es auch scheint, nach der unmittelbaren Ursache zu fragen, so können wir doch kaum bezweifeln, dass sie nicht so sehr ihn selbst als vielmehr die anderen betraf. Seine Seele konnte in der Tat nicht anders als beunruhigt sein, als er im vollen Bewusstsein all dessen, was es für ihn bedeuten würde – weit mehr als nur menschliches Leiden -, in den Abgrund hinabblickte, der sich zu seinen Füßen auftun sollte. Aber Er sah noch mehr als das. Er sah, wie Judas im Begriff war, den letzten verhängnisvollen Schritt zu tun, und Seine Seele sehnte sich nach ihm in Mitleid. Der Bissen, den er ihm so bald reichen würde, war zwar ein Zeichen der Anerkennung für Johannes, aber ein letzter Appell an alles Menschliche in Judas. Darüber hinaus sah Jesus auch, wie der schreckliche Sturm einer heftigen Versuchung in dieser Nacht über sie hinwegfegen würde; wie er einen von ihnen niederdrücken und fast entwurzeln und alle zerstreuen würde. Es war der Beginn der Stunde der äußersten Einsamkeit Christi, deren Höhepunkt in Gethsemane erreicht wurde. Und in der Not seines Geistes „bezeugte“ er ihnen feierlich den nahen Verrat. Wir wundern uns nicht, dass sie alle sehr betrübt wurden und jeder fragte: „Herr, bin ich es? Diese Frage der elf Jünger, die sich keiner Verratsabsicht bewusst waren und auch eine tiefe Liebe zu ihrem Meister empfanden, bietet einen der klarsten Einblicke in die innere Geschichte jener Schreckensnacht, in der Israel sozusagen zu Ägypten wurde. Wir können jetzt ihren schweren Schlaf in Gethsemane besser verstehen, ihr Verlassen und ihre Flucht, sogar die Verleugnung des Petrus. Es muss diesen Männern so vorgekommen sein, als würde alles weichen, als würde alles von äußerer Finsternis umhüllt sein, als jeder fragen konnte, ob er der Verräter sein würde.

        Die Antwort Christi ließ die besondere Person unbestimmt, wiederholte aber die schreckliche Vorhersage – um nicht hinzuzufügen, die feierlichste Warnung -, dass es einer von denen war, die am Abendmahl teilnahmen. An dieser Stelle nimmt Johannes den Faden der Erzählung wieder auf. Wie er es beschreibt, schauten die Jünger einander an und zweifelten, von wem er sprach. In dieser quälenden Spannung winkte Petrus Johannes von der anderen Seite des Tisches her zu, dessen Kopf, anstatt sich auf seine Hand zu stützen, in der absoluten Hingabe der aus dem Schmerz geborenen Liebe und Vertrautheit auf dem Schoß des Meisters ruhte. 1 Petrus wollte, dass Johannes fragte, von wem Jesus sprach. Und auf die geflüsterte Frage des Johannes, der sich an die Brust Jesu lehnte, gab der Herr das Zeichen, dass er es sei, dem er „den Brei“ geben würde, wenn er ihn eingetaucht hätte. Selbst das war Johannes vielleicht nicht klar, denn jeder erhielt der Reihe nach „den Bissen“.

        Heute beginnt das Abendmahl damit, dass zuerst ein Stück des ungesäuerten Kuchens gegessen wird, dann die in Charoseth getauchten bitteren Kräuter und zuletzt zwei kleine Stücke des ungesäuerten Kuchens, zwischen die ein Stück bitterer Rettich gelegt wurde. Aber wir haben ein direktes Zeugnis dafür, dass um die Zeit „der Brei „4 , der herumgereicht wurde, aus diesen Dingen bestand: Fleisch des Osterlammes, ein Stück ungesäuertes Brot und bittere Kräuter. Dies, so glauben wir, war „der Brei“, den Jesus, nachdem er ihn für ihn in die Schüssel getaucht hatte, zuerst Judas reichte, der den ersten und wichtigsten Platz bei Tisch einnahm. Doch bevor er dies tat, wahrscheinlich während er es in die Schale tauchte, flüsterte Judas, der nur befürchten konnte, dass seine Absicht bekannt werden könnte, zur linken Hand Christi liegend, dem Meister ins Ohr: „Bin ich es, Rabbi? Es muss geflüstert worden sein, denn niemand am Tisch konnte weder die Frage des Judas noch die bejahende Antwort Christi hören. c Es war der letzte Ausbruch der mitleidigen Liebe Christi gegenüber dem Verräter. Nach der schrecklichen Warnung und dem Wehklagen über den Verräter,muss sie als letzte Warnung und auch als letzter Rettungsversuch des Erlösers angesehen werden. In voller Kenntnis von allem, auch davon, dass sein Verrat bekannt war, auch wenn er die Information nicht der göttlichen Einsicht, sondern einer geheimen menschlichen Mitteilung zugeschrieben haben mag, machte sich Judas auf den Weg ins Verderben. Wir neigen zu sehr dazu, Verbrechen dem Wahnsinn zuzuschreiben; aber sicherlich gibt es sowohl moralischen als auch geistigen Wahnsinn; und es muss in einem solchen Paroxysmus gewesen sein, als alle Gefühle zu Stein geworden waren und sich geistige Selbsttäuschung mit moralischer Perversion verband, dass Judas der Hand Jesu „den Bissen entnahm „1. Er sollte lebendig in das Grab hinabsteigen – und mit einem schweren Geräusch fiel der Grabstein und schloss sich über der Öffnung der Grube. In diesem Augenblick drang Satan wieder in sein Herz ein. Aber die Tat war so gut wie vollbracht; und Jesus, der sich nach der stillen Gemeinschaft der Seinen mit allem, was noch folgen sollte, sehnte, befahl ihm, schnell zu tun, was er tat.

        Aber auch so gibt es Fragen, die mit den menschlichen Motiven, die Judas bewegten, zusammenhängen, auf die wir jedoch nur mit einigen Andeutungen eine Antwort geben können. Hat Judas die Ankündigung des „Wehe“ Christi über den Verräter nicht als Vorhersage betrachtet, sondern als Abschreckung – vielleicht in einer orientalisch überspitzten Sprache – oder hat er, wenn er sie als Vorhersage betrachtete, nicht daran geglaubt? Und als Judas nach der deutlichen Andeutung Christi und seinen Worten, schnell zu tun, was er vorhatte, immer noch zum Verrat schritt, könnte er da eine Idee gehabt haben – oder vielmehr versucht haben, sich selbst zu täuschen -, dass Jesus spürte, dass er seinen Feinden nicht entkommen konnte, und dass er lieber wünschte, dass alles vorbei wäre? Oder hatten sich all seine früheren Gefühle gegenüber Jesus, wenn auch nur vorübergehend, in tatsächlichen Hass verwandelt, den jedes Wort und jede Warnung Christi nur noch verstärkte? Aber vor allem und in allem müssen wir an den eigentümlich jüdischen Charakter seiner ersten Anhänglichkeit an Christus denken; an die allmähliche und schließlich endgültige und verhängnisvolle Enttäuschung seiner Hoffnungen; an sein völliges moralisches, auf sein geistiges Versagen folgendes Scheitern; an die Verwandlung all dessen, was die Möglichkeit des Guten in sich trug, in die Wirklichkeit des Bösen; und andererseits an das unmittelbare Wirken des Satans im Herzen des Judas, das seinen moralischen und geistigen Schiffbruch möglich machte.

        Kaum begonnen, stürzte Judas vom Mahl in die dunkle Nacht. Auch das hat seine symbolische Bedeutung. Keiner der Anwesenden wusste, warum diese seltsame Eile, es sei denn aus Gehorsam gegenüber etwas, das der Meister ihm befohlen hatte. Selbst Johannes konnte das Zeichen, das Christus dem Verräter gegeben hatte, kaum verstehen. Einige von ihnen meinten, er sei durch die Worte Christi angewiesen worden, das Nötigste für das Fest zu kaufen; andere, er sei aufgefordert worden, zu gehen und den Armen etwas zu geben. Es wurde der unberechtigte Einwand erhoben, als ob dies darauf hindeute, dass dieses Mahl nach dem vierten Evangelium nicht in der Osternacht stattgefunden habe, da es nach dem Beginn des Festes (am 15. Nisan) nicht mehr erlaubt sei, Einkäufe zu tätigen. Aber das war sicher nicht der Fall. Es genügt hier festzustellen, dass am 15. Nisan die Beschaffung und Zubereitung der notwendigen Speisen, ja von allem, was für das Fest notwendig war, erlaubt war. 1 Und dies muss besonders notwendig gewesen sein, wenn, wie in diesem Fall, auf den ersten Festtag, den 15. Nisan, ein Sabbat folgte, an dem solche Arbeiten nicht erlaubt waren. Andererseits scheint die Erwähnung dieser beiden Vorschläge durch die Jünger fast zwangsläufig zu bedeuten, dass der Verfasser des vierten Evangeliums dieses Mahl in die Osternacht gelegt hat. Wäre es am Vorabend gewesen, hätte sich niemand vorstellen können, dass Judas in der Nacht ausgegangen wäre, um Vorräte zu kaufen, wo doch der ganze nächste Tag dafür zur Verfügung stand, und es wäre auch nicht wahrscheinlich gewesen, dass ein Mann an einem gewöhnlichen Tag zu einer solchen Stunde die Armen aufsuchen würde. Aber in der Osternacht, als die großen Tempeltore um Mitternacht geöffnet wurden, um früh mit den Vorbereitungen für die Darbringung des Chagigah, des Festopfers, zu beginnen, das nicht freiwillig, sondern fällig war, und dessen Rest anschließend bei einem Festmahl verzehrt wurde, wären solche Vorbereitungen ganz natürlich gewesen. Und ebenso, dass die Armen, die sich um den Tempel versammelten, dann die Hilfe der Wohltätigen in Anspruch nehmen konnten.

        Der Weggang des Verräters schien die Atmosphäre zu klären. Er war gegangen, um sein Werk zu tun; aber man sollte nicht denken, dass die Notwendigkeit dieses Verrats die Ursache für das Seelenleiden Christi war. Er opferte sich freiwillig – und obwohl es durch den Verrat des Judas geschah, war es doch Jesus selbst, der sich aus freien Stücken als Opfer darbrachte, in Erfüllung des Werkes, das der Vater ihm aufgetragen hatte. Und umso mehr hat er dies beim Weggang von Judas erkannt und zum Ausdruck gebracht. Solange er da war, versuchte die mitleidige Liebe ihn noch von dem verhängnisvollen Schritt abzuhalten. Aber als der Verräter endlich weg war, trat die andere Seite seines eigenen Wirkens deutlich in den Blick Christi. Und dieser Aspekt des freiwilligen Opfers wird noch deutlicher durch seine Wahl der Begriffe „Menschensohn“ und „Gott“ anstelle von „Sohn“ und „Vater“. Und Gott wird ihn in sich selbst verherrlichen, und alsbald wird er ihn verherrlichen. Wenn der erste dieser Sätze die Bedeutung des bevorstehenden Geschehens zum Ausdruck brachte, indem er die höchste Herrlichkeit des Menschensohnes im Triumph des Gehorsams seines freiwilligen Opfers zeigte, so wies der zweite Satz auf seine Anerkennung durch Gott hin: die Erhöhung, die auf die Erniedrigung folgte, der Lohn2 als notwendige Folge des Werkes, die Krone nach dem Kreuz.

        So weit zu dem einen Aspekt dessen, was sich ereignen sollte. Was den anderen betrifft, der die Jünger betraf: Er würde nur noch eine kleine Weile bei ihnen sein. Dann würde die Zeit trauriger und schmerzlicher Verwirrung kommen – wenn sie ihn suchen würden, aber nicht dorthin kommen konnten, wohin er gegangen war – während der schrecklichen Stunden zwischen seiner Kreuzigung und seiner sichtbaren Auferstehung. In Bezug auf diese Zeit im Besonderen, aber im Allgemeinen auf die gesamte Zeit Seiner Trennung von der Kirche auf Erden, war das große Gebot, das Band, das sie allein zusammenhalten würde, das der Liebe zueinander, und zwar einer solchen Liebe, wie Er sie ihnen gegenüber gezeigt hatte. Und dies – Schande über uns, wie wir es schreiben – sollte für alle Menschen das Kennzeichen ihrer Jüngerschaft sein. Nach den Aufzeichnungen des Johannes folgte auf die Worte des Herrn eine Frage des Petrus, die auf seine Verwirrung über die ursprüngliche und unmittelbare Bedeutung des Weggangs Christi hinwies. Darauf folgte die Antwort Christi über die Unmöglichkeit, dass Petrus jetzt den Leidensweg seines Herrn teilen könne, und als Antwort auf die ungestüme Versicherung des Jüngers, er sei bereit, dem Meister nicht nur in die Gefahr zu folgen, sondern sein Leben für ihn hinzugeben, der Hinweis des Herrn auf die gegenwärtige Unvorbereitetheit des Petrus und die Vorhersage seiner bevorstehenden Verleugnung. Es mag sein, dass all dies im Abendmahlssaal und zu der von Johannes angegebenen Zeit geschah. Aber es wird auch von den Synoptikern als auf dem Weg nach Gethsemane aufgezeichnet, und zwar in einem, wie wir es nennen können, natürlicheren Zusammenhang. Die Betrachtung dieses Ereignisses wird daher am besten bis zu diesem Abschnitt der Geschichte zurückgestellt.

        Wir nähern uns nun dem feierlichsten Teil dieses Abends: Die Einsetzung des Abendmahls. Es würde offensichtlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die vielen Fragen und Kontroversen zu erörtern, die sich leider um die Worte der Einsetzung ranken. Andererseits wäre es nicht wahrheitsgetreu, sie ganz zu übergehen. In bestimmten Punkten brauchen wir in der Tat nicht zu zögern. Die Einsetzung des Abendmahls wird von den Synoptikern aufgezeichnet, wenn auch ohne Bezug auf die Teile des Ostermahls und seiner Dienste, mit denen die eine oder andere Handlung verbunden sein muss. Obwohl der historische Zusammenhang mit dem Ostermahl offensichtlich ist, scheint es fast so, als ob die Evangelisten durch ihr bedächtiges Schweigen über das jüdische Fest andeuten wollten, dass mit dieser Feier und der neuen Institution das jüdische Passah für immer aufgehört hat. Andererseits berichtet das vierte Evangelium nicht über die neue Institution – vielleicht, weil sie von den anderen so ausführlich berichtet wurde; oder aus Gründen, die mit der Struktur dieses Evangeliums zusammenhängen; oder es kann aus anderen Gründen erklärt werden. Aber wie auch immer man es erklären mag, das Schweigen des vierten Evangeliums muss für diejenigen, die es als ein ephesisches Produkt mit symbolisch-sakramentarischer Tendenz aus dem zweiten Jahrhundert betrachten, eine große Schwierigkeit darstellen.

        Das Fehlen eines Berichts des Johannes wird durch die Erzählung des Paulus in 1. Korinther 11,23-26 kompensiert, zu der ergänzend der Hinweis in 1. Korinther 10,16 hinzugefügt werden muss, wonach „der Kelch der Segnung, den wir segnen“ „Gemeinschaft des Blutes Christi“ und „das Brot, das wir brechen“ „Gemeinschaft des Leibes Christi“ bedeutet. Wir haben also vier Berichte, die in zwei Gruppen unterteilt werden können: Matthäus und Markus sowie Lukas und Paulus. Keiner von ihnen gibt uns die Worte Christi selbst wieder, denn sie wurden auf Aramäisch gesprochen. In den uns vorliegenden Übertragungen kann man die eine Reihe als die schroffere und wörtlichere, die andere als die freiere und paraphrasierende bezeichnen. Die Unterschiede zwischen ihnen sind natürlich äußerst gering, aber sie sind vorhanden. Was den Text betrifft, der der Wiedergabe in unserer A.V. zugrunde liegt, so sind die vorgeschlagenen Unterschiede nicht von praktischer , mit Ausnahme von zwei Punkten. Erstens wurde die Kopula „ist“ [„Das ist mein Leib“, „Das ist mein Blut“] vom Herrn im Aramäischen sicher nicht gesprochen, so wie sie auch in der jüdischen Formel beim Brotbrechen zu Beginn des Ostermahls nicht vorkommt. Zweitens, die Worte: Leib, der gegeben wird“, oder, in 1 Kor 11,24, „gebrochen“, und „Blut, das vergossen wird“, richtiger wiedergegeben werden: „wird gegeben“, „gebrochen“, „vergossen“.

        Wenn wir uns nun fragen, in welchem Teil des Ostermahls die neue Einsetzung stattfand, können wir nicht daran zweifeln, dass dies geschah, bevor das Abendmahl vollständig beendet war. Wir haben gesehen, dass Judas den Tisch zu Beginn des Abendmahls verlassen hatte. Das Mahl wurde bis zu seinem Ende fortgesetzt, und zwar inmitten der bereits erwähnten Gespräche. Nach dem jüdischen Ritual wurde der dritte Kelch am Ende des Abendmahls gefüllt. Dieser wurde, wie von St. Paulus,“der Kelch des Segens“ genannt, zum Teil, weil ein besonderer „Segen“ über ihn ausgesprochen wurde. Er wird als einer der zehn wesentlichen Riten des österlichen Abendmahls beschrieben. Als Nächstes wurde das „Tischgebet nach dem Essen“ gesprochen. Doch darauf brauchen wir nicht näher einzugehen, ebenso wenig wie auf die anschließende „Händewaschung“. Letztere wurde von Jesus nicht als religiöse Zeremonie befolgt, während der zusammengesetzte Charakter dieses Teils der Osterliturgie ein interner Beweis dafür ist, dass er zur Zeit Christi nicht in Gebrauch gewesen sein kann. Wenn wir gefragt werden, welcher Teil des Ostergottesdienstes dem „Brotbrechen“ entspricht, so antworten wir, dass dies wirklich das letzte Pascha und sein Ende war und dass unser Herr den späteren Ritus vorwegnahm, der eingeführt wurde, als mit der Zerstörung des Tempels das Osterlamm und alle anderen Opfer aufhörten. Solange das Osterlamm noch geopfert wurde, war es Gesetz, dass nach dem Verzehr seines Fleisches nichts anderes gegessen werden durfte. Da aber das Osterlamm nicht mehr geopfert wird, ist es Brauch, nach dem Mahl die Hälfte des ungesäuerten Kuchens, die bekanntlich zu Beginn des Abendmahls gebrochen und beiseite gelegt worden war, zu brechen und als Aphikomon, als Nachspeise, zu essen. Da das Osteropfer nun wirklich beendet war, und zwar im Bewusstsein aller Jünger Christi, nahm er dies vorweg und verband mit dem Brechen des ungesäuerten Kuchens am Ende des Mahls die Einsetzung des Brotbrechens in der Heiligen Eucharistie.

        Was hat die Institution wirklich bedeutet, und was bedeutet sie für uns? Wir können nicht glauben, dass sie nur als Zeichen des Gedenkens an seinen Tod gedacht war. Ein solches Gedenken ist oft in gewöhnlichen Glaubens- oder Gebetshandlungen ebenso lebendig; und es scheint schwierig, die Einsetzung eines besonderen Sakramentes zu erklären, und zwar mit einer solchen Feierlichkeit und als zweiter großer Ritus der Kirche, nämlich zu ihrer Ernährung, wenn nicht mehr als dies beabsichtigt war. Und wenn es nur ein Zeichen des Gedenkens wäre, warum dann der Kelch und das Brot? Wir können auch nicht glauben, dass die Kopula „ist“ – die in der Tat in den von Christus selbst gesprochenen Worten nicht vorkam – gleichbedeutend mit „bedeutet“ sein kann. Ebenso wenig kann sie sich auf eine Veränderung der Substanz beziehen, sei es in dem, was man Transsubstantiation oder Konsubstantiation nennt. Wenn wir eine Erklärung wagen dürfen, dann die, dass „dies“, das in der heiligen Eucharistie empfangen wird, der Seele in Bezug auf den Leib und das Blut des Herrn dieselbe Wirkung vermittelt wie das Brot und der Wein dem Leib – der Empfang von Brot und Kelch in der heiligen Kommunion ist in Wirklichkeit, wenn auch geistig, für die Seele das, was die äußeren Elemente für den Leib sind: dass sie sowohl das Symbol als auch das Vehikel für die wahre, innere, geistliche Speisung mit dem Leib und dem Blut Christi selbst sind. So ist dieser Kelch, den wir segnen, Gemeinschaft mit Seinem Blut, und das Brot, das wir brechen, mit Seinem Leib – Gemeinschaft mit Ihm, der für uns gestorben ist, und in Seinem Sterben; Gemeinschaft auch in Ihm miteinander, die wir darin verbunden sind, dass für uns dieser Leib gegeben und dieses kostbare Blut zur Vergebung unserer Sünden vergossen worden ist.

        Diese Worte sind höchst geheimnisvoll, und doch ist es ein gesegnetes Geheimnis, sich geistig und im Glauben von Christus zu nähren. Und seither liegt diese gesegnete Institution wie das goldene Morgenlicht selbst in der dunkelsten Nacht der Kirche – nicht nur das Siegel Seiner Gegenwart und ihr Unterpfand, sondern auch die Verheißung des hellen Tages bei Seiner Wiederkunft – weit entfernt. Denn sooft wir dieses Brot essen und diesen Kelch trinken, verkünden wir den Tod des Herrn – für das Leben der Welt, das gewiss noch offenbart werden wird – „bis er kommt“. Auch du, Herr Jesus, komm schnell!

        Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
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        (St. Johannes 14; 15; 16; 17.)

        MIT DER neuen Einsetzung des Abendmahls ist das Geschehen am Ostertisch nicht endgültig abgeschlossen. Nach dem jüdischen Ritual wird der Kelch ein viertes Mal gefüllt und der restliche Teil der Hallela wiederholt. Dann folgen neben Ps. 136 eine Reihe von Gebeten und Hymnen, deren vergleichsweise späte Herkunft nicht zweifelhaft ist. Die gleiche Bemerkung gilt in noch stärkerem Maße für das, was nach dem vierten Kelch folgt. Aber soweit wir beurteilen können, folgte auf die Einsetzung des Heiligen Abendmahls die in Johannes 14 aufgezeichnete Rede. Dann wurden die abschließenden Psalmen des Hallel gesungen,woraufhin der Meister die „Obere Kammer“ verließ. Die in Johannes 16 aufgezeichnete Rede Christi und sein Gebet wurden sicherlich nach dem Aufstehen vom Abendmahl und vor der Überquerung des Baches Kidron gesprochen. d Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden sie jedoch gesprochen, bevor der Erlöser das Haus verließ. Wir können uns kaum vorstellen, dass eine solche Rede und noch weniger ein solches Gebet auf dem Weg durch die engen Straßen Jerusalems nach Kidron gesprochen wurde.

        Auf jeden Fall kann es keinen Zweifel daran geben, dass die erste Rede noch am Abendmahlstisch gehalten wurde. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Aussage, die ihnen so viel Kummer und Verwirrung bereitet hatte, dass sie nicht kommen konnten, wohin Er ging. Wenn das so ist, kann die Rede selbst in diese vier Teile gegliedert werden: erklärend und berichtigend; g erklärend und lehrend; ermahnend und verkündigend; i verkündigend und tröstend. So gibt es einen ständigen und zusammenhängenden Fortschritt, wobei die beiden großen Elemente der Rede sind: Lehre und Trost.

        Zu Beginn sollten wir uns vielleicht an die bei den Juden sehr verbreitete Vorstellung erinnern, dass die Herrlichen je nach ihrem Rang verschiedene Aufenthaltsorte bewohnten. Wenn die Worte Christi über den Ort, an den sie ihm nicht folgen konnten, solche Gedanken geweckt hatten, muss die Erklärung, die er jetzt gab, sie wirksam zerstreut haben. Ihre Herzen sollten also nicht durch diese Aussicht beunruhigt werden. Wie sie an Gott glaubten, so sollten sie auch Vertrauen zu ihm haben. 1 Es war das Haus seines Vaters, an das sie dachten, und obwohl es darin „viele Wohnungen“ oder vielmehr „Stationen“ gab – und die Wahl dieses Wortes mag uns etwas lehren -, so waren sie doch alle in diesem einen Haus. Konnten sie ihm da nicht vertrauen? Wäre es anders gewesen, hätte er es ihnen sicher gesagt und sie nicht am Ende bitter enttäuscht zurückgelassen. In der Tat war das Ziel seines Weges das Gegenteil von dem, was sie befürchteten: Er wollte ihnen durch seinen Tod und seine Auferstehung einen Platz bereiten. Sie sollten auch nicht denken, dass sein Weggehen eine dauerhafte Trennung bedeuten würde, denn er hatte gesagt, sie könnten ihm nicht dorthin folgen. Vielmehr bedeutete sein Weggehen, nicht um wegzugehen, sondern um ihnen einen Platz zu bereiten, seine Wiederkunft, in erster Linie in Bezug auf die einzelnen Menschen im Tod und in zweiter Linie in Bezug auf die Kirche, damit er sie zu sich nimmt, um dort mit ihm zu sein. Nicht die endgültige Trennung, sondern die endgültige Sammlung zu sich selbst bedeutete also sein jetziges Weggehen. Und wo ich hingehe, da wisst ihr den Weg.“

        Jesus hatte darauf hingewiesen, dass er zum Haus des Vaters geht, und angedeutet, dass sie den Weg kennen, der auch sie dorthin führen wird. Aber seine Worte hatten sie nur noch mehr verwirrt, zumindest einige von ihnen. Wenn Er, als Er davon sprach, dass sie nicht dorthin gehen konnten, wohin Er ging, nicht von einer Trennung zwischen ihnen in jenem fernen Land gesprochen hatte, wohin ging Er dann? Und wie konnten sie in ihrer Unkenntnis den Weg dorthin finden? Wenn sich hinter der Frage des Thomas jüdische Vorstellungen vom Verschwinden und der endgültigen Offenbarung des Messias verbargen, rückte die Antwort des Herrn die Angelegenheit in das klarste Licht. Er hatte vom Haus des Vaters mit vielen „Stationen“ gesprochen, aber nur ein Weg führte dorthin. Sie müssen ihn alle kennen: Es ist der Weg der persönlichen Erkenntnis Christi im Leben, im Geist und im Herzen. Der Weg zum Vater war Christus; die volle Offenbarung aller geistigen Wahrheit und die Quelle des wahren inneren Lebens lagen gleichermaßen in ihm. Außer durch ihn könne kein Mensch bewusst zum Vater kommen. Thomas hatte seine zweifache Frage so formuliert: Was ist das Ziel? und: Was ist der Weg dorthin? In seiner Antwort kehrte Christus diese Reihenfolge deutlich um und sagte ihnen zuerst, was der Weg ist – er selbst – und dann, was das Ziel ist. Hätten sie ihn geistig als den Weg erkannt, so hätten sie auch das Ziel, den Vater, gekannt; und nun, da ihnen der Weg klar aufgezeigt wurde, mussten sie auch das Ziel, Gott, kennen; ja, er war sozusagen sichtbar vor ihnen, und als sie ihn ansahen, sahen sie den leuchtenden Weg hinauf zum Himmel, die Jakobsleiter, an deren Spitze der Vater stand.

        Aber in den Worten des Philippus zeigte sich einmal mehr jene fleischliche Wörtlichkeit, die die Worte Christi nur in einem äußeren Sinn auffassen würde. Aussagen helfen uns, die absolute Notwendigkeit eines anderen Lehrers, des Heiligen Geistes, zu erkennen. Philippus verstand die Worte Christi so, als ob er die Möglichkeit einer tatsächlichen Anschauung des Vaters in Aussicht stellte; und dies hätte, wie sie sich vorstellten, für immer all ihren Zweifeln und Ängsten ein Ende gesetzt. Auch wir wünschen uns allzu oft eine solche Lösung unserer Zweifel, wenn auch nicht durch eine tatsächliche Vision, so doch durch eine direkte Mitteilung von oben. In seiner Antwort kehrte Jesus noch einmal mit Nachdruck zu dieser Wahrheit zurück, dass die Vision, die allein die des Glaubens war, geistig und in keiner Weise äußerlich war, und dass diese Offenbarung, wenn auch geistig und im Glauben, vollständig in ihm war und war. Oder glaubte Philippus nicht, dass der Vater wirklich in Christus offenbart war, weil er ihn nicht wirklich gesehen hatte? Die Worte, die sie angezogen und ihnen das Gefühl gegeben hatten, der Himmel sei so nahe, waren nicht seine eigenen, sondern die Botschaft, die er ihnen vom Vater überbracht hatte; die Werke, die er getan hatte, waren die Manifestation der „Wohnung“ des Vaters in ihm. Sie sollten also an diese lebenswichtige Verbindung zwischen dem Vater und ihm glauben – und wenn ihr Glaube sich nicht unbedingt bis zu dieser Höhe erheben konnte, so sollte er wenigstens auf der niedrigeren Ebene der Beweise seiner Werke ruhen. Und so würde er uns immer noch aufwärts führen, von der Erfahrung dessen, was er tut, zur Erkenntnis dessen, was er ist. Ja, und wenn sie jemals versucht wären, an seinen Werken zu zweifeln, könnte der Glaube einen Beweis für sie in persönlicher Erfahrung haben. In erster Linie beziehen sich die Worte über die größeren Werke, die die, die an ihn glaubten, tun würden, weil er zum Vater ging, zweifellos auf das apostolische Predigen und Wirken in seinen größeren Ergebnissen nach der Ausgießung des Heiligen Geistes. Darauf bezieht sich auch in erster Linie die Verheißung der unbegrenzten Erhörung des Gebets in seinem Namen. d Aber in einem sekundären, aber höchst wahren und gesegneten Sinn gelten diese beiden Verheißungen seit der Himmelfahrt Christi auch für die Kirche und für alle einzelnen Christen.

        Eine so weitreichende doppelte Verheißung erforderte, wie man meinen muss, nicht nur eine Begrenzung, sondern eine Einschränkung – sagen wir, eine Definition -, was die Angabe ihrer notwendigen Bedingungen betrifft. Die unbegrenzte Kraft, durch den Glauben zu wirken und im Glauben zu beten, wird durch den Gehorsam gegenüber seinen Geboten eingeschränkt, wie er sich aus der persönlichen Liebe zu ihm ergibt. Und für einen solchen Glauben, der alles im Gehorsam der Liebe zu Christus umfasst und alles durch das Gebet des Glaubens in seinem Namen erreichen kann, wird es notwendig sein, dass die göttliche Gegenwart immer bei ihnen ist. b Solange Er bei ihnen war, hatten sie einen oder „Beistand“, der mit ihnen für die Sache Gottes eintrat, die Wahrheit erklärte und vertrat und sie bewahrte und leitete. Nun, da seine äußere Gegenwart von der Erde zurückgezogen werden sollte und er ihr Paraklet oder Fürsprecher im Himmel beim Vater sein sollte,c würde er als seine erste Handlung der Fürsprache den Vater bitten, der ihnen einen anderen Paraklet oder Fürsprecher senden würde, der für immer bei ihnen bleiben würde. Der Führung und den Bitten dieses Beistandes konnten sie sich vorbehaltlos anvertrauen, denn er war „der Geist der Wahrheit“. Die Welt freilich würde seinem Flehen kein Gehör schenken und ihn auch nicht als ihren Führer akzeptieren, denn der einzige Beweis, nach dem sie urteilten, war der äußere Anblick und die materiellen Ergebnisse. Aber sie würden eine andere Empirie haben: eine Erfahrung, die nicht äußerlich, sondern innerlich und geistig ist. Sie würden die Realität Seiner Existenz und die Wahrheit Seiner Bitten durch die ständige Gegenwart dieses Parakleten bei ihnen als Körper und durch Sein Verweilen in ihnen als Individuen erkennen.

        Hier beginnt (wie Bengel zu Recht bemerkt) der wesentliche Unterschied zwischen den Gläubigen und der Welt. Der Sohn wurde in die Welt gesandt; nicht so der Heilige Geist. Wiederum empfängt die Welt den Heiligen Geist nicht, weil sie ihn nicht kennt; die Jünger kennen ihn, weil sie ihn besitzen. Daher sind „kennen“ und „haben“ so miteinander verbunden, dass das Nichtkennen die Ursache des Nichthabens und das Haben die Ursache des Kennens ist. Angesichts dieser verheißenen Ankunft des anderen Beistands konnte Christus den Jüngern sagen, dass er sie nicht als „Waisen“ in dieser Welt zurücklassen würde. Nein, in diesem Beistand kam Christus selbst zu ihnen. Zwar würde die Welt, die nur das sah und wusste, was in den Bereich ihrer sinnlichen und äußeren Wahrnehmung fiel (Vers 17), ihn nicht sehen, aber sie würden ihn sehen, denn er lebte, und sie würden auch leben – und so gab es zwischen ihnen eine Gemeinschaft des geistlichen Lebens. An jenem Tag der Ankunft seines Heiligen Geistes würden sie die volle Erkenntnis, weil Erfahrung, der Rückkehr Christi zum Vater und ihres eigenen Seins in Christus und seines Seins in ihnen haben. Und was diese dreifache Beziehung betrifft, so muss man sich immer vor Augen halten: in Christus zu sein, bedeutete, ihn zu lieben, und das hieß: seine Gebote zu haben und zu halten; dass Christus im Vater war, bedeutete, dass sie, die in Christus waren oder ihn liebten, auch von seinem Vater geliebt würden; und schließlich bedeutete, dass Christus in ihnen war, dass er sie lieben und sich ihnen offenbaren würde.

        Eine herausragende neue Tatsache erregte hier die Aufmerksamkeit der Jünger. Sie stand im Gegensatz zu all ihren jüdischen Vorstellungen von der zukünftigen Offenbarung des Messias und führte zu der Frage eines von ihnen, Judas – nicht Iskariot -: „Herr, was ist geschehen, dass Du Dich uns offenbaren willst und nicht der Welt? Wieder dachten sie an eine äußere Erscheinung, während Er von einer geistigen und inneren Offenbarung sprach. Er sprach von diesem Kommen des Sohnes und des Vaters, um bei ihnen „Station“ zu machen1 , dessen Bedingung die Liebe zu Christus war, die sich in der Befolgung seines Wortes zeigte und die auch die Liebe des Vaters sicherte. Sein Wort nicht zu halten, bedeutete dagegen, ihn nicht zu lieben, mit allem, was dies mit sich brachte, nicht nur in Bezug auf den Sohn, sondern auch auf den Vater, denn das Wort, das sie hörten, war das des Vaters.

        Soweit also zu dieser inneren Offenbarung, die der Lebensgemeinschaft mit Christus entspringt, die reich ist an der grenzenlosen geistigen Kraft des Glaubens und duftend nach dem Gehorsam der Liebe. All das konnte er ihnen jetzt im Namen des Vaters sagen – als erster Stellvertreter, Fürsprecher und „Beistand“ oder Paraklet. Was aber, wenn er nicht mehr bei ihnen war? Dafür hatte er einen „anderen Parakleten“, Beistand oder Fürsprecher, vorgesehen. Dieser „Paraklet, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Es ist ganz offensichtlich, dass die Auslegung des Begriffs „Paraklet“ als „Tröster“ nicht der hier gegebenen Beschreibung seiner zweifachen Funktion entspricht, alles zu lehren und an alles zu erinnern, was Christus selbst gesagt hat. Auch die andere Auslegung von „Beistand“ wird den Anforderungen nicht gerecht, wenn wir den Beistand als jemanden betrachten, der für uns eintritt. Wenn wir aber den Parakleten oder Beistand als Stellvertreter Christi betrachten, der gleichsam für ihn, für die Sache Christi, eintritt, scheint alles stimmig. Christus kam im Namen des Vaters, als erster Paraklet, als sein Stellvertreter; der Heilige Geist kommt im Namen Christi, als zweiter Paraklet, der Stellvertreter Christi, der im Vater ist. Als solcher wird der zweite Paraklet vom Vater im Namen des ersten Parakleten gesandt, und er wird in ihnen seine Sache vollenden und sie an sie erinnern.

        Und so kehrte der Herr am Ende dieser Rede wieder, und nun mit vollerer Bedeutung, zu ihrem Anfang zurück. Damals hatte er gesagt: „Euer Herz erschrecke nicht; ihr glaubt an Gott, so glaubt auch an mich“. Jetzt, nach der umfassenderen Mitteilung seiner Absicht und ihrer Beziehung zu ihm, konnte er ihnen die Zusicherung des Friedens, sogar seines eigenen Friedens, als seine Gabe in der Gegenwart und sein Vermächtnis für die Zukunft übermitteln. In ihren Ohren war die Tatsache seines Weggehens, die sie mit so viel Kummer und Angst erfüllt hatte, nun mit der Tatsache seines Kommens1 zu ihnen verbunden worden. Ja, wie er es erklärt hatte, war sein Weggang zum Vater die notwendige Vorbedingung für sein Kommen zu ihnen in der ständigen Gegenwart des anderen Parakleten, des Heiligen Geistes. Dieser Paraklet würde jedoch in der Gnadenökonomie allein vom Vater gesandt werden. In der Gnadenökonomie ist die letzte Quelle, aus der alles kommt und die sowohl den Sohn als auch den Heiligen Geist sendet, Gott der Vater. Der Sohn wird vom Vater gesandt, und auch der Heilige Geist, obwohl er vom Vater und vom Sohn ausgeht, wird vom Vater im Namen Christi gesandt. In der Ökonomie der Gnade ist also der Vater größer als der Sohn. Und die Rückkehr des Sohnes zum Vater kennzeichnet sowohl die Vollendung des Werkes Christi als auch seine Vollendung in der Sendung des Heiligen Geistes mit allem, was sein Advent mit sich bringt. Hätten sie also, ohne an sich selbst zu denken, nur den Gefühlen wahrer Liebe zu Ihm Raum gegeben, so hätten sie sich, statt zu trauern, gefreut, weil Er zum Vater ging, mit allem, was dies bedeutete, nicht nur Ruhe und Triumph für Ihn, sondern auch die Vollendung Seines Werkes – denn das war die Bedingung für die Sendung des Heiligen Geistes durch den Vater, der sowohl den Sohn als auch den Heiligen Geist gesandt hat. Und in diesem Sinne hätten sie sich auch freuen sollen, weil sie durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in ihnen, der vom Vater in Seinem „größeren“ Werk gesandt wurde, anstelle des gegenwärtigen selbstsüchtigen Genusses der persönlichen Gegenwart Christi umso mehr die Kraft haben würden, ihre Liebe zu Ihm zu zeigen, indem sie Seine Wahrheit begreifen, Seine Gebote befolgen, Seine Werke tun und an Seinem Leben teilnehmen. Christus erwartete nicht, dass sie die volle Bedeutung all dieser Worte verstehen würden. Aber danach, wenn alles geschehen ist, werden sie glauben.

        Mit der Bedeutung und dem Ausgang des großen Kampfes, in den er eintreten sollte, so klar vor Augen, ging er nun hinaus, um dem letzten Angriff des „Fürsten dieser Welt“ zu begegnen. Um „der Welt“ die vollkommene Liebe zu zeigen, die er zum Vater hatte; wie er bis zum Äußersten der Selbstüberwindung, des Gehorsams, der Unterwerfung und des Leidens das tat, was der Vater ihm geboten hatte, als er ihn zur Erlösung der Welt sandte. In der Ausführung dieser Mission würde er die letzten Angriffe und Anfechtungen des Feindes ertragen und, wenn er sie überstand, für uns siegen. Und so könnte die Welt von ihrem Fürsten durch die volle Offenbarung Christi gewonnen werden, der in seinem unendlichen Gehorsam und seiner Gerechtigkeit den Willen des Vaters und das Werk, das er ihm aufgetragen hatte, erfüllt und in seiner unendlichen Liebe das Werk unserer Erlösung vollbringt.

        Das Werk unserer Erlösung! Diesem Aspekt des Themas widmete sich Christus nun, als er sich vom Abendmahlstisch erhob. Wenn in der Rede des vierzehnten Kapitels des Johannesevangeliums der göttliche Aspekt des bevorstehenden Weggangs Christi erklärt wurde, wird in der Rede des fünfzehnten Kapitels die neue Beziehung dargelegt, die zwischen ihm und seiner Kirche bestehen sollte. Und das lässt sich – obwohl epigrammatische Sprüche so oft trügerisch sind – in diesen drei Worten zusammenfassen: Vereinigung, Gemeinschaft, Trennung. Die Vereinigung zwischen Christus und seiner Kirche ist gemeinschaftlich, lebendig und wirksam, sowohl was die Ergebnisse als auch die Segnungen betrifft. Diese Vereinigung mündet in die Gemeinschaft – Christi mit seinen Jüngern, seiner Jünger mit ihm und seiner Jünger untereinander. Das Prinzip all dessen ist die Liebe: die Liebe Christi zu den Jüngern, die Liebe der Jünger zu Christus und die Liebe der Jünger in Christus zueinander. Schließlich hat diese Vereinigung und Gemeinschaft ihr notwendiges Gegenstück, die Trennung von der Welt. Die Welt lehnt sie wegen ihrer Vereinigung mit Christus und wegen ihrer Gemeinschaft ab. Aber trotz alledem gibt es etwas, das sie davon abhält, die Welt zu verlassen. Sie haben in ihr eine Mission, die durch den Heiligen Geist eingeleitet und in seiner Kraft ausgeführt wird, nämlich das Zeugnis von Christus zu verkünden.

        Was die Beziehung der Kirche zu dem Christus betrifft, der im Begriff ist, zum Vater zu gehen und im Heiligen Geist als sein Stellvertreter zu ihnen zu kommen, so soll sie eine gemeinschaftliche, lebendige und wirksame Beziehung sein. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche Wahrheit nur durch eine Veranschaulichung dargelegt werden kann. Als Christus sagte: „Ich bin der Weinstock, der wahre, und mein Vater ist der Weingärtner“, oder auch: „Ihr seid die Reben“ – wobei zu bedenken ist, dass, da er es auf Aramäisch sagte, die Kopula „bin“, „ist“ und „sind“ weggelassen wurden -, meinte er nicht, dass er den Weinstock bedeutete oder sein Zeichen war, noch dass der Vater der Weingärtner war, noch dass die Jünger die Reben waren. Was er meinte, war, dass er, der Vater und die Jünger in genau der gleichen Beziehung standen wie der Weinstock, der Gärtner und die Reben. Diese Beziehung bestand in der gemeinsamen Verbindung der Reben mit dem Weinstock, um dem Gärtner Frucht zu bringen, der zu diesem Zweck die Reben beschnitt. Wir dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass im Alten Testament und teilweise im jüdischen Denken der Weinstock das Symbol für Israel war, nicht in seiner nationalen, sondern in seiner kirchlichen Eigenschaft. Christus mit seinen Jüngern als Reben ist „der Weinstock, der wahre“ – die Wirklichkeit aller Typen, die Erfüllung aller Verheißungen. Sie sind viele Zweige und doch eine große Einheit in diesem Weinstock; es gibt eine Kirche, deren Haupt, Wurzel, Unterhalt und Leben er ist. Und in diesem Weinstock wird das Ziel seiner Pflanzung von einst verwirklicht: Gott Frucht zu bringen.

        Doch obwohl sie ein einziger Weinstock ist, muss die Kirche nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch in jedem einzelnen Zweig Frucht bringen. Es scheint bemerkenswert, dass wir von Reben in ihm lesen, die keine Frucht bringen. Dies muss sich offensichtlich auf diejenigen beziehen, die durch die Taufe in den Weinstock eingefügt wurden, aber unfruchtbar bleiben – denn ein rein äußerliches Bekenntnis zu Christus kann kaum als „eine Rebe in“ ihm bezeichnet werden. Andererseits „reinigt“ der Gärtner jeden fruchttragenden notwendigerweise und nicht ausschließlich durch Beschneidung, sondern auf jede Art und Weise, die erforderlich ist, damit er die größtmögliche Menge an Früchten hervorbringen kann. Was sie betrifft, so war der Prozess der Reinigung durch das Wort, das er zu ihnen gesprochen hatte, „bereits“ vollzogen oder „aufgrund“ des Wortes, das er zu ihnen gesprochen hatte. Wenn dieser Zustand des Fruchtbringens nun in ihnen infolge des Eindrucks seines Wortes bestand, so folgte daraus als eine verwandte Bedingung, dass sie in ihm bleiben mussten und er in ihnen bleiben würde. Nein, dies war eine lebenswichtige Bedingung des Fruchtbringens, die sich aus der grundlegenden Tatsache ergab, dass Er der Weinstock war und sie die Reben. Die eigentliche, normale Bedingung für jeden Zweig in diesem Weinstock war natürlich, dass er viel Frucht trug, im Verhältnis zu seiner Größe und Kraft. Aber sowohl im übertragenen als auch im wirklichen Sinne bestand die Bedingung dafür darin, in Ihm zu bleiben, denn „außer“ Ihm konnten sie nichts tun. Es war nicht wie eine Kraft, die einmal in Bewegung gesetzt wurde und danach von selbst weiterlief. Es war ein Leben, und die Bedingung für seine Beständigkeit war die fortgesetzte Vereinigung mit Christus, von dem allein es ausgehen konnte.

        Und nun zu den beiden Alternativen: Wer nicht in Ihm blieb, war der „hinausgeworfene“ und verdorrende Zweig, den die Menschen, wenn sie dazu bereit waren, ins Feuer warfen – mit all der symbolischen Bedeutung, was die Sammler und das Verbrennen betrifft, die die Illustration impliziert. Andererseits, wenn die korporative und vitale Verbindung wirksam war, wenn sie in ihm wohnten und folglich seine Worte in ihnen wohnten, dann: „Was ihr wollt, das ihr bittet, das wird euch gegeben werden“. Es ist sehr bemerkenswert, dass die Unbegrenztheit des Gebetes durch unser Verweilen in Christus und seine Worte in uns begrenzt, oder besser gesagt, bedingt ist,so wie sie in Johannes 14,12-14 durch die Gemeinschaft mit ihm und in Johannes 15,16 durch die ständige Fruchtbarkeit bedingt ist. Denn es wäre der gefährlichste Fanatismus und völlig entgegengesetzt zur Lehre Christi, sich einzubilden, die Verheißung Christi impliziere eine so absolute Macht – als sei das Gebet Magie -, dass der Mensch um alles bitten könne, was auch immer es sei, in der Gewissheit, seine Bitte zu erhalten. 3 In allen moralischen Beziehungen sind Pflichten und Vorrechte korrelative Begriffe, und in unserer Beziehung zu Christus sind die bewußte Immanenz in ihm und seines Wortes in uns, die Vereinigung und Gemeinschaft mit ihm und der Gehorsam der Liebe die unerläßlichen Bedingungen für unsere Vorrechte. Der Gläubige kann zwar um alles bitten, weil er sich immer und unbedingt an Gott wenden kann; aber die Gewissheit besonderer Gebetserhörungen steht im Verhältnis zum Grad der Vereinigung und Gemeinschaft mit Christus. Und diese unbegrenzte Freiheit des Gebetes ist damit verbunden, dass wir viel Frucht bringen, weil dadurch der Vater verherrlicht und unsere Nachfolge bewiesen wird.

        Diese Vereinigung, die innerlich und moralisch ist, entwickelt sich notwendigerweise zu einer Gemeinschaft, deren Prinzip die Liebe ist. Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in Meiner Liebe. Wenn ihr Meine Gebote haltet, werdet ihr in der Liebe bleiben, die Mein ist (ἐν τῇ ἀγάπῃ τῇ ἐμῇ).‘ Wir erkennen die Kontinuität in der Skala der Liebe: des Vaters zum Sohn und des Sohnes zu uns; und die Freundlichkeit, mit der sie weitergeht. Alles, was die Jünger nun zu tun hatten, war, in ihr zu bleiben. Das hat nichts mit Gefühlen oder gar mit Glauben zu tun, sondern mit Gehorsam. Frische Nahrung wird durch den Glauben geschöpft, aber das Bleiben in der Liebe Christi ist der Ausdruck und das Ergebnis des Gehorsams. So war es auch bei dem Meister selbst in seiner Beziehung zum Vater. Und der Herr erklärte sogleich, was er mit diesen Worten bezweckte. Auch darin sollten sie Gemeinschaft mit Ihm haben: Gemeinschaft in der Freude, die Ihm als Folge Seines vollkommenen Gehorsams zuteil wurde. Dies habe ich zu euch geredet, damit die Freude, die Mein ist (ἡ χαρὰ ἡ ἐμή), in euch sei2 und eure Freude erfüllt werde.

        Aber was ist mit den Geboten, denen eine solche Bedeutung zukommt? So rein sie nun auch durch die Worte waren, die Er gesprochen hatte, so stach doch ein großes Gebot als besonders Seines heraus, das durch Sein Beispiel geweiht und an seiner Befolgung gemessen werden sollte. Von welchem Gesichtspunkt aus wir es auch betrachten, sei es, dass es durch die dringenden Notwendigkeiten der Kirche besonders gefordert wurde, sei es, dass es durch seinen Kontrast zu dem, was das Heidentum zeigte, einen so auffallenden Beweis für die Macht des Christentums lieferte, , dass es mit allen Grundgedanken des Reiches Gottes so übereinstimmt: die Liebe des Vaters, der seinen Sohn für die Menschen gesandt hat, das Werk des Sohnes, der die Verlorenen um den Preis seines eigenen Lebens gesucht und gerettet hat, und das neue Band, das sie alle in Christus in der Gemeinschaft einer gemeinsamen Berufung, einer gemeinsamen Sendung und gemeinsamer Interessen und Hoffnungen verbunden hat – die Liebe zu den Brüdern war das eine herausragende Abschiedsgebot Christi. b Und seine Gebote zu halten, hieß, sein Freund zu sein. Und sie waren seine Freunde. Er nannte sie „nicht mehr“ Knechte, denn der Knecht wusste nicht, was sein Herr tat. Er hatte ihnen nun einen neuen Namen gegeben, und das mit gutem Grund: „Freunde habe ich euch genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Und noch tiefer stieg Er herab, indem Er sie auf das Beispiel und das Maß Seiner Liebe als Maßstab für ihr Verhalten zueinander hinwies. Und mit dieser Lehre verband er das, was er zuvor über das Fruchtbringen und das Vorrecht der Gemeinschaft mit sich selbst gesagt hatte. Sie waren seine Freunde; er hatte es bewiesen, indem er sie als solche behandelte und ihnen nun den ganzen Ratschluss Gottes eröffnete. Und diese Freundschaft: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“ – der Zweck Seiner „Erwählung“ (zu der sie „berufen“ waren) bestand darin, dass sie, wenn sie in die Welt hinausgingen, Frucht bringen sollten, dass ihre Frucht beständig sein sollte und dass sie das volle Vorrecht jener unbegrenzten Macht zu beten besitzen sollten, von der Er zuvor gesprochen hatte. All diese Dinge waren mit dem Gehorsam gegenüber Seinen Geboten verbunden, von denen das herausragende war, „einander zu lieben“.

        Aber gerade diese Entscheidung seinerseits und ihre Vereinigung in der Liebe zu ihm und zueinander bedeutete nicht nur die Trennung von der Welt, sondern auch deren Ablehnung. Darauf mussten sie vorbereitet sein. Es war zu ihm gekommen, und es würde der Beweis für ihre Entscheidung zur Nachfolge sein. Der Hass auf die Welt zeigte den wesentlichen Unterschied und Gegensatz zwischen dem Lebensprinzip der Welt und dem ihren. Im Guten wie im Bösen mussten sie die gleiche Behandlung wie ihr Meister erwarten. Und sollten sie nicht auch bedenken, dass der Grund für den Hass der Welt letztlich in der Unkenntnis dessen lag, der Christus gesandt hatte? d Und obwohl dies jeden Gedanken an persönlichen Groll vertreiben sollte, war die Schuld derer, die ihn verwarfen, wirklich schrecklich. Wenn er zu und in Israel sprach, gab es keine Entschuldigung für ihre Sünde – die schrecklichste, die man sich vorstellen konnte; denn wahrhaftig: ‚Wer mich hasst, hasst auch meinen Vater. Denn Christus war der Gesandte Gottes, und Gott war offenbar. Es war eine furchtbare Anklage, die gegen Gottes altes Volk Israel erhoben wurde. Und doch gab es neben dem Beweis für seine Worte auch den für seine Werke. Wenn sie die ersten nicht begreifen konnten, so konnten sie doch bei den zweiten durch den Vergleich mit den Werken anderer Menschen sehen, dass sie einzigartig waren. 2 Sie sahen es, hassten aber nur Ihn und Seinen Vater und schrieben alles der Macht und dem Wirken des Beelzebul zu. Und so hatte sich die alte Prophezeiung erfüllt: „Sie hassten Mich umsonst. „Aber noch war nicht alles zu Ende: weder Sein Werk durch den anderen Fürsprecher noch das ihre in der Welt. Wenn der Beistand kommt, den ich vom Vater zu euch senden werde – der Geist der Wahrheit -, der vom Vater ausgeht, wird dieser von mir zeugen. Und auch ihr legt Zeugnis ab,2 weil ihr von Anfang an mit mir seid.‘

        Die letzte der Abschiedsreden Christi im sechzehnten Kapitel des Johannesevangeliums wurde in der Tat durch Fragen der Jünger unterbrochen. Aber da diese zum Thema gehören, führen sie es nur weiter. Die Themen, die darin behandelt werden, sind im Allgemeinen: die neuen Beziehungen, die sich aus dem Weggang Christi und dem Kommen des anderen Beistands ergeben. Damit wäre der letzte notwendige Punkt erfüllt – Kap. 14 gibt den Trost und die Belehrung im Hinblick auf seinen Weggang; Kap. 15 beschreibt die persönlichen Beziehungen der Jünger zu Christus, zueinander und zur Welt; und Kap. 16 legt die neuen Beziehungen fest, die hergestellt werden sollen.

        Das Kapitel beginnt passenderweise mit einer Betrachtung der vorhergesagten Feindseligkeit der Welt. Christus hatte sie so deutlich vorhergesagt, damit sie nicht ins Straucheln gerieten. Am besten ist es, genau zu wissen, dass sie nicht nur aus der Synagoge ausgeschlossen werden würden, sondern dass jeder, der sie tötet, es als „Gottesdienst“ ansehen würde. So fühlte sich zweifellos einst Saulus von Tarsus und viele andere, die leider nie Christen wurden. In der Tat hätte nach dem jüdischen Gesetz „ein Eiferer“ ohne förmliche Verhandlung diejenigen töten können, die in flagranter Rebellion gegen Gott ertappt worden waren – oder in dem, was als solche angesehen werden konnte, und die Synagoge hätte die Tat als ebenso verdienstvoll angesehen wie die des Pinehas. b Es war ein Schmerz und doch auch ein Trost, zu wissen, dass dieser Geist der Feindschaft aus der Unkenntnis des Vaters und von Christus herrührte. Zwar waren sie schon vorher in allgemeiner Weise darauf vorbereitet worden, doch hatte Er nicht von Anfang an alles so bestimmt und zusammenhängend gesagt, weil Er noch da war. Aber jetzt, da Er wegging, war es unbedingt notwendig, dies zu tun. Denn schon die Erwähnung hatte sie in eine solche Verwirrung persönlichen Kummers gestürzt, dass sie die Hauptsache, nämlich wohin Christus ging, gar nicht mehr wahrgenommen hatten. Persönliche Gefühle hatten sie ganz in Beschlag genommen, so dass sie ihre eigenen höheren Interessen vergaßen. Er ging zum Vater, und das war sowohl die Bedingung als auch die Vorbedingung dafür, dass er den Parakleten sandte.

        Aber die Ankunft des „Advokaten“ würde eine neue Ära für die Kirche und die Welt einleiten. Es war ihre Mission, in die Welt hinauszugehen und Christus zu predigen. Dieser andere Fürsprecher würde als Stellvertreter Christi in die Welt gehen und in den drei Hauptpunkten, um die sich ihre Verkündigung drehte, überführen. Diese drei Punkte, um die sich alle Missionierung dreht, sind: Sünde, Gerechtigkeit und Gericht. Und in diesen Punkten würde der neue Fürsprecher die Welt überführen. Wenn man bedenkt, dass der Begriff „überführen“ in den Evangelien1 durchgängig für die eindeutige Feststellung oder Verurteilung von Schuld verwendet wird,haben wir es hier mit drei verschiedenen Tatsachen zu tun. Als Repräsentant Christi wird der Heilige Geist der Welt die Tatsache ihrer Schuld in Bezug auf die Sünde vor Augen führen und feststellen, dass die Welt nicht an Christus glaubt. Als Stellvertreter Christi wird er der Welt die Tatsache ihrer Schuld in Bezug auf die Gerechtigkeit vor Augen führen – mit der Begründung, dass Christus zum Vater aufgefahren ist und daher den Augen der Menschen entzogen ist. Schließlich wird er als Stellvertreter Christi die Tatsache der Schuld der Welt feststellen, weil ihr Fürst, der Satan, bereits von Christus gerichtet worden ist – ein Urteil, das durch seinen Sitz zur Rechten Gottes feststeht und das bei seiner Wiederkunft bestätigt werden wird. Nehmen wir also die drei großen Tatsachen in der Geschichte Christi: Sein Erstes Kommen zur Erlösung, Seine Auferstehung und Himmelfahrt und Sein Sitzen zur Rechten Gottes, wovon Sein Zweites Kommen zum Gericht das endgültige Ergebnis ist, wird dieser Fürsprecher Christi in jedem Fall die Welt der Schuld überführen; in Bezug auf das Erste – bezüglich der Sünde, weil sie nicht an den glaubt, den Gott gesandt hat; in Bezug auf die zweite, die Gerechtigkeit, weil Christus zur Rechten des Vaters ist; und in Bezug auf die dritte, das Gericht, weil der Fürst, den die Welt noch besitzt, bereits durch Christi Sitzung zur Rechten Gottes und durch seine Herrschaft, die bei seiner Wiederkunft auf die Erde vollendet werden soll, gerichtet worden ist.

        Das war die Sache Christi, für die der Heilige Geist als Fürsprecher vor der Welt plädieren würde, indem er wie bei einem feindlichen Schuldigen eine Verurteilung bewirkte. Ganz anders war die Sache Christi, für die er als sein Fürsprecher bei den Jüngern eintrat, und ganz anders die Wirkung seines Eintretens bei ihnen. Wir haben auch bei dieser Gelegenheit bemerkt, wie oft der Herr durch das Unverständnis und den Unglauben der Menschen behindert und auch betrübt wurde. Nun war es das selbst auferlegte Gesetz Seiner Mission, das Ergebnis Seines Sieges in der Versuchung in der Wüste, dass Er Seine Mission nicht durch die Ausübung göttlicher Macht erreichen würde, sondern indem Er den gewöhnlichen Weg der Menschheit beschritt. Dies war die Begrenzung, die Er sich selbst auferlegte – ein Aspekt Seiner Selbsterneuerung. Daraus muss sich aber auch sein ständiger Kummer angesichts des Unglaubens selbst derer ergeben haben, die ihm am nächsten standen. Deshalb war es für sie nicht nur zweckmäßig, sondern sogar notwendig, da sie im Augenblick nicht mehr ertragen konnten, dass die Gegenwart Christi zurückgezogen wurde und sein Stellvertreter an seine Stelle trat und ihnen seine Sache eröffnete. Und dies sollte sein besonderes Werk an der Kirche sein. Als Fürsprecher, der nicht aus sich selbst heraus redet, sondern das spricht, was er hört – sozusagen nach seinem himmlischen „Auftrag“ – würde er sie in alle Wahrheit führen. Und hier würde Seine erste „Erklärung“ von „den Dingen, die kommen“ sein. Eine ganz neue Ordnung der Dinge stand den Aposteln bevor – die Abschaffung des jüdischen, die Einführung des christlichen Zeitalters und das Verhältnis des Neuen zum Alten, zusammen mit vielen ähnlichen Fragen. Als Stellvertreter Christi, der nicht aus sich selbst heraus spricht, würde der Heilige Geist mit ihnen sein und nicht zulassen, dass sie in Irrtum oder Unrecht verfallen, sondern ihr „Wegweiser“ in alle Wahrheit sein. Wie der Sohn den Vater verherrlicht hat, so wird auch der Geist den Sohn verherrlichen, und zwar in ähnlicher Weise, denn er wird von ihm nehmen und es ihnen „verkünden“. Dies wäre sozusagen die zweite Zeile in den „Erklärungen“ des Beistands, des Stellvertreters Christi. Und dieses Wirken des vom Vater gesandten Heiligen Geistes in seiner Erklärung über Christus wurde durch den Umstand der Vereinigung und Kommunikation zwischen dem Vater und Christus erklärt. Und so – um in einem kurzen Abschied alles zusammenzufassen, was Er zu ihnen gesagt hatte – würde es „eine kleine Weile“ geben, in der sie Ihn nicht „sehen“ würden (οὐκέτι θεωρεῖτέ με), und wiederum eine kleine Weile, und sie würden Ihn „sehen“ (ὄψεσθέ με), wenn auch auf ganz andere Weise, wie schon der Wortlaut zeigt.

        Hätten wir irgendeinen Zweifel an der Wahrheit der vorangegangenen Worte des Herrn gehabt, dass die Jünger in ihrer Versunkenheit in die Gegenwart nicht an das „Wohin“ gedacht hatten, zu dem Christus ging, und dass es für sie notwendig war, dass er wegging und der andere Fürsprecher kam,so würde uns diese Überzeugung durch ihre verwirrte Befragung untereinander über die Bedeutung des zweifachen „kurze Zeit“ und all dessen, was er über seinen Weg zum Vater gesagt hatte und was damit zusammenhing, aufgezwungen werden. Sie hätten gern gefragt, wagten es aber nicht. Aber Er kannte ihre Gedanken und antwortete ihnen. Diese erste „kurze Zeit“ umfasste die schrecklichen Tage seines Todes und seiner Grablegung, in denen sie weinen und klagen, die Welt aber jubeln würde. Doch ihr kurzer Kummer sollte sich in Freude verwandeln. Es war wie der kurze Kummer bei der Geburt eines Kindes, an den man sich danach nicht mehr erinnerte, weil man sich freute, dass ein Mensch in die Welt gekommen war. So würde es sein, wenn ihr gegenwärtiger Kummer in die Auferstehungsfreude umgewandelt würde – eine Freude, die ihnen kein Mensch mehr nehmen könnte. An diesen Tag der Freude würde er sie in Gedanken während ihrer gegenwärtigen Nacht des Kummers verweilen lassen. Das wäre in der Tat ein Tag der Helligkeit, an dem sie nicht mehr nach Ihm zu fragen bräuchten (ἐμὲ οὐκ ἐρωτήσετε). Alles würde dann im neuen Licht der Auferstehung klar sein. Ein Tag, an dem die Verheißung wahr werden würde, und alles, was sie den Vater (αἰτήσητε) bitten würden, würde er ihnen in Christi Namen geben. 1 Bis jetzt hatten sie noch nicht in Seinem Namen gebeten; lasst sie bitten: sie werden empfangen, und so wird ihre Freude vollendet werden. Ach, dieser Tag des Glanzes. Bis jetzt hatte er nur in Gleichnissen und Allegorien zu ihnen sprechen können, aber dann würde er ihnen in aller Klarheit vom Vater „erklären“. Und so, wie er zu ihnen direkt und klar über den Vater sprechen konnte, würden sie dann auch direkt zum Vater sprechen können – wie es der Hebräerbrief ausdrückt, mit „Klarheit „oder „Direktheit“ zum Thron der Gnade kommen. Sie würden direkt im Namen Christi bitten; und es wäre nicht mehr nötig, wie jetzt, zuerst zu Ihm zu kommen, damit Er sich beim Vater „über“ sie „erkundigt“ (ἐρωτήσω περὶ ὑμῶν). Denn Gott liebte sie als Liebende Christi und als Erkennende, dass er von Gott ausgegangen war. Und so war es auch: Er war aus dem Vater hervorgegangen3 , als er in die Welt kam, und nun, da er sie verließ, ging er zum Vater.

        Die Jünger bildeten sich ein, dass sie zumindest dies verstanden. Christus hatte ihre Gedanken gelesen, und es war nicht nötig, dass jemand ausdrückliche Fragen stellte. Er wusste alles, und dadurch glaubten sie – es war für sie der Beweis -, dass er von1 Gott gekommen war. Aber wie wenig kannten sie ihr eigenes Herz! Es war sogar die Stunde gekommen, in der sie zerstreut werden sollten, ein jeder in sein eigenes Haus, und ihn allein lassen sollten – und doch würde er wahrlich nicht allein sein, denn der Vater würde bei ihm sein. b Und doch galt sein letzter wie sein erster Gedankec ihnen; und durch die Nacht der Zerstreuung und des Kummers hindurch befahl er ihnen, auf den Morgen der Freude zu schauen. Denn der Kampf war nicht ihr, und der Sieg war nicht zweifelhaft. Ich habe die Welt überwunden (es ist vollbracht).

        Wir betreten nun höchst ehrfürchtig das, was man das innerste Heiligtum nennen kann. Zum ersten Mal dürfen wir das hören, was wirklich „das Vaterunser „war, und während wir es hören, beten wir demütig an. Dieses Gebet war die große Vorbereitung auf seinen Leidensweg, sein Kreuz und seine Passion, aber auch der Ausblick auf die jenseitige Krone. In seinen drei Teilen scheint es fast auf die Lehre der drei vorangegangenen Kapitel3 zurückzublicken und sie in ein Gebet umzuwandeln. Wir sehen den großen Hohepriester, der sich zunächst feierlich opfert und dann für seine Kirche und ihr Werk weiht und Fürbitte einlegt.

        Der erste Teil dieses Gebets ist die Weihe seiner selbst durch den Großen Hohenpriester. Die letzte Stunde war gekommen. Als er betete, der Vater möge den Sohn verherrlichen, bat er in Wirklichkeit nicht um etwas für sich selbst, sondern darum, dass „der Sohn“ den Vater „verherrlichen“ möge5. Denn die Verherrlichung des Sohnes – seine Unterstützung und dann seine Auferstehung – war wirklich die Vollendung des Werkes, das der Vater ihm zu tun gegeben hatte, und auch der Beweis dafür. Es entsprach wirklich der Macht oder Autorität, die der Vater Ihm über „alles Fleisch „gab, als Er als Messias alles unter Seine Füße stellte – das Ziel dieser messianischen Herrschaft war, „dass die Gesamtheit“ (das Ganze, πᾶν), „die Du Ihm gegeben hast, ihnen das ewige Leben gebe“. Der Höhepunkt Seiner messianischen Berufung, der Gegenstand Seiner Herrschaft über alles Fleisch, war das Geschenk des Vaters an Christus, die Kirche als Gesamtheit und Einheit; und in dieser Kirche gibt Christus jedem einzelnen das ewige Leben. Was nun folgt, scheint ein eingefügter Satz zu sein, wie auch die Verwendung der Partikel „und“, mit der die wichtige Definition des „ewigen Lebens“ eingeleitet wird, und die letzten Worte des Verses zeigen. Aber obwohl er sozusagen der Form nach die Aufzeichnung der Worte Christi durch Johannes wiedergibt, müssen wir bedenken, dass wir hier, was den Inhalt betrifft, Christi eigenes Gebet um das ewige Leben für jeden seiner Leute haben. Und was ist „das ewige Leben“? Nicht das, was wir so oft denken, die wir mit der Sache ihre Wirkungen oder auch ihre Ergebnisse verwechseln. Es bezieht sich nicht auf die Zukunft, sondern auf die Gegenwart. Es ist die Verwirklichung dessen, was Christus ihnen mit diesen Worten gesagt hatte: ‚Ihr glaubt an Gott, glaubt auch an mich‘. Es ist das reine Sonnenlicht auf der Seele, das die Erkenntnis Jehovas, des persönlichen, lebendigen, wahren Gottes, und dessen, den er gesandt hat, Jesus Christus, zur Folge hat oder widerspiegelt. Diese beiden Zweige der Erkenntnis müssen nicht so sehr als koordiniert, sondern vielmehr als untrennbar betrachtet werden. Nach dieser Erklärung des „ewigen Lebens“, das diejenigen, die in das Licht getaucht sind, schon jetzt und hier besitzen, opferte der Große Hohepriester dem Vater zunächst den Teil seines Werkes, der auf Erden war und den er vollendet hatte. Und dann, als Vollendung und Folge davon, forderte Er das, was am Ende Seiner Mission stand: Seine Rückkehr in die Gemeinschaft der wesentlichen Herrlichkeit, die Er zusammen mit dem Vater besaß, bevor die Welt war.

        Die Gabe Seiner Weihe hätte nicht auf einen prächtigeren Altar gelegt werden können. Einem solchen Kreuz muss eine solche Krone gefolgt sein. Und nun galt sein erster Gedanke wieder denen, um derentwillen er sich geweiht hatte. Diese stellte er nun feierlich dem Vater vor. Er stellte sie als diejenigen (die Einzelnen) vor, die der Vater ihm besonders aus der Welt gegeben hatte. Als solche gehörten sie wirklich dem Vater und wurden Christus übergeben – und er stellte sie nun als solche vor, die das Wort des Vaters bewahrt hatten. Nun wussten sie, dass alle Dinge, die der Vater dem Sohn gegeben hatte, vom Vater stammten. Das war also das Ergebnis seiner ganzen Lehre und die Summe all ihres Lernens – vollkommenes Vertrauen in die Person Christi, wie in sein Leben, seine Lehre und sein Werk, das nicht nur von Gott, sondern vom Vater gesandt war. Nicht weniger, aber auch nicht mehr stellte ihr „Wissen“ dar. Alles andere, was daraus hervorging, mussten sie noch lernen. Aber es war genug, denn es beinhaltete alles, vor allem diese drei Dinge: dass sie die Worte, die er ihnen gab, als vom Vater kommend empfingen; dass sie wirklich wussten, dass Christus vom Vater ausgegangen war; und dass sie glaubten, dass der Vater ihn gesandt hatte. Und in der Tat, der Empfang des Wortes Christi, die Kenntnis seines Wesens und der Glaube an seine Sendung: das sind die drei wesentlichen Merkmale derer, die zu Christus gehören.

        Und nun brachte er sie im Gebet vor den Vater. Er legte Fürsprache ein, nicht für die „Welt“, die ihm aufgrund seiner Messiasschaft gehörte, sondern für die, die ihm der Vater besonders gegeben hatte. Sie gehörten dem Vater im besonderen Sinne des Bundes, und alles, was in diesem Sinne dem Vater gehörte, gehörte dem Sohn, und alles, was dem Sohn gehörte, gehörte dem Vater. Obwohl also die ganze Welt dem Sohn gehörte, betete er jetzt nicht für sie; und obwohl alles auf Erden und im Himmel in der Hand des Vaters war, suchte er nicht jetzt seinen Segen für sie, sondern für diejenigen, die er, während er in der Welt war, beschützt und geleitet hatte. Sie sollten in einer Welt der Sünde, des Bösen, der Versuchung und des Leids zurückgelassen werden, und Er ging zum Vater. Und dies war Sein Gebet: „Heiliger Vater, erhalte sie in Deinem Namen, den Du mir gegeben hast, damit sie eins seien (eine Einheit, ἕν), wie wir es sind. Die besondere Anrede „Heiliger Vater“ zeigt, dass der Heiland sich erneut auf das Bewahren in der Heiligkeit bezog, und, was ebenso wichtig ist, dass die angestrebte „Einheit“ der Kirche in erster Linie eine geistige sein sollte und nicht eine bloß äußerliche Kombination. Die Einheit in der Heiligkeit und im Wesen, wie die des Vaters und des Sohnes, das war das große Ziel, das angestrebt wurde, obwohl eine solche Einheit, wenn sie richtig vollzogen würde, auch zu einer äußeren Einheit führen würde. Aber während er eher die moralische als die äußere Einheit im Auge hatte, sind unsere gegenwärtigen „unglücklichen Spaltungen“, die so oft aus der Eigensinnigkeit und der mangelnden Bereitschaft entstehen, geringfügige Unterschiede untereinander – die Lasten des anderen – zu ertragen, nicht nur dem christlichen, sondern sogar dem jüdischen Geist so völlig zuwider, dass wir sie nur auf das heidnische Element in der Kirche zurückführen können.

        Während Er „bei ihnen war“, „bewahrte“ Er sie im Namen des Vaters. Diejenigen, die der Vater Ihm gegeben hatte, bewahrte Er durch das wirksame Ziehen Seiner Gnade in ihnen (ἐφύλαξα), und keiner aus ihrer Mitte ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens – und dies gemäß der Prophezeiung. Bevor Er aber zum Vater ging, betete Er so für sie, damit in dieser verwirklichten Einheit der Heiligkeit die Freude, die Seine1 (τὴν χαρὰν τὴν ἐμήν) war, in ihnen „vollendet“ werde. Und das war um so nötiger, als sie mit nichts als seinem Wort in einer Welt zurückblieben, die sie hasste, weil sie, wie Christus, auch nicht von ihr waren (ἐκ). Christus bat auch nicht darum, dass sie aus der Welt herausgenommen würden, sondern darum, dass der Vater sie vor dem Bösen bewahren möge.1 Und das umso nachdrücklicher, als sie nicht „aus der Welt“ waren, die im Bösen lag, wie Er nicht war. Und das Heilmittel, das er für sie suchte, war nicht äußerlich, sondern innerlich, der Art nach dasselbe wie zu der Zeit, als er bei ihnen war, nur dass es jetzt direkt vom Vater kam. Es war die Heiligung „in der Wahrheit „mit dem bedeutsamen Zusatz: „Das Wort, das Dein ist (ὁ λόγος ὁ σός), ist Wahrheit. „

        In seinem letzten Teil bezog sich dieses Fürbittgebet des Großen Hohenpriesters auf das Werk der Jünger und seine Früchte. Wie der Vater den Sohn gesandt hatte, so sandte der Sohn die Jünger in die Welt – auf dieselbe Weise und mit demselben Auftrag. Und für sie hat er sich nun feierlich geopfert, sich selbst „geweiht“ oder „geheiligt“, damit sie „in Wahrheit “ wahrhaftig geweiht werden können. Und im Hinblick auf dieses ihr Werk, dem sie geweiht waren, betete Christus nicht nur für sie, sondern auch für diejenigen, die durch ihr Wort an ihn glauben würden, „damit“ oder „damit“ „alle eins seien“ – eine Einheit bilden. Christus, als vom Vater gesandt, sammelte die ursprüngliche „Einheit“; sie, als von ihm gesandt und durch seine Weihe geweiht, sollten andere sammeln, aber alle sollten durch die gemeinsame geistige Mitteilung eine große Einheit bilden. Wie Du in mir und ich in Dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass Du mich gesandt hast. Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie eins seien, wie wir eins sind, was sich auf seine Sendung in der Welt bezieht und auf seine Einsetzung und Ermächtigung dazu. Ich in ihnen und du in mir, damit sie eins seien“ – die ideale Einheit und der wahre Charakter der Kirche – „damit die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst“.

        Nach dieser unsagbar erhabenen Weihe Seiner Kirche und der Mitteilung Seiner Herrlichkeit und Seines Werkes an sie, können wir uns nicht über das wundern, was folgt und das „Vaterunser“ abschließt. Wir erinnern uns an die Einheit der Kirche – eine Einheit in Ihm und wie die zwischen dem Vater und dem Sohn – wenn wir dies hören: Was du mir gegeben hast, will ich, dass, wo ich bin, auch sie bei mir sind, damit sie die Herrlichkeit sehen, die mir gehört und die du mir gegeben hast, weil du mich vor Grundlegung der Welt geliebt hast.

        Und wir alle würden uns gern in den Schatten dieser letzten Weihe seiner selbst und seiner Kirche durch den Großen Hohenpriester stellen, die zugleich letzter Appell, Anspruch und Gebet ist: „Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht, ich aber kenne dich, und diese wissen, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen Deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der Du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen. Das ist die Satzung der Kirche: ihr Besitz und ihre Freude, ihr Glaube, ihre Hoffnung und ihre Liebe; und darin steht sie, betet und arbeitet.

        Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten

          13.Nisan

          (Matthäus 26,17-19; Markus 14,12-16; Lukas 22,7-13; Johannes 13,1).

          ALS der Verräter am Mittwochnachmittag aus Jerusalem zurückkehrte, war das Pessachfest im volkstümlichen und kanonischen, nicht aber im biblischen Sinne, in greifbarer Nähe. Es begann am 14. Nisan, d. h. mit dem Erscheinen der ersten drei Sterne am Mittwochabend [dem Abend des 13.], und endete mit den ersten drei Sternen am Donnerstagabend [dem Abend des 14.] Da es sich hierbei um einen äußerst wichtigen Punkt handelt, ist es angebracht, hier die genaue Formulierung des Jerusalemer Talmuds zu zitieren:“Was bedeutet: Am Pessachfest? Am 14. [Nisanb].‘ Und so beschreibt Josephus das Fest als ein achttägiges, wobei er seinen Beginn offensichtlich auf den 14. und sein Ende auf das Ende des 21. Die Abwesenheit des Verräters so kurz vor dem Fest würde daher von den anderen umso weniger bemerkt werden. Die notwendigen Vorbereitungen müssten getroffen werden, auch wenn sie in irgendeinem Haus – sie wussten nicht in welchem – zu Gast sein würden. Diese würden natürlich von Judas getroffen werden. Außerdem mögen sie aus früheren Gesprächen gefolgert haben, dass „der Mann aus Kerioth“ dem, was der Herr ihnen den ganzen Tag über erzählt hatte und was nun ihre Gedanken und Herzen erfüllte, nur zu gern entgehen würde.

          Alle in Israel dachten über das Fest nach. Seit einem Monat wurde in den Akademien darüber diskutiert, und zumindest an den letzten beiden Sabbaten wurde in den Synagogen darüber geredet. Alle waren auf dem Weg nach Jerusalem oder hatten dort Angehörige, die ihnen nahestanden, oder sahen sich zumindest die feierlichen Prozessionen in die Metropole des Judentums an. Es war eine Versammlung des gesamten Israels, das Gedenken an die Geburtsnacht der Nation und an ihren Exodus, bei dem Freunde aus der Ferne zusammenkamen und neue Freunde gewonnen wurden; bei dem lange fällige Opfergaben gebracht und lange benötigte Läuterung erlangt wurden – und bei dem alle in dem großen und prächtigen Tempel mit seinem prächtigen Ritual Gottesdienst feierten. Nationale und religiöse Gefühle wurden gleichermaßen aufgewühlt durch das, was weit in die Vergangenheit zurückreichte und weit in die Zukunft auf die endgültige Befreiung hinwies. An jenem Tag konnte sich ein Jude durchaus damit rühmen, Jude zu sein. Aber wir sollten uns nicht mit solchen Gedanken aufhalten und auch keine allgemeine Beschreibung des Festes versuchen. Vielmehr sollen wir versuchen, den Spuren Christi und seiner Jünger zu folgen und nur das zu sehen oder zu wissen, was sie an jenem Tag sahen und taten.

          Für kirchliche Zwecke scheinen Bethphage und Bethanien zu Jerusalem gezählt worden zu sein. Aber Jesus muss das Fest in der Stadt selbst feiern, obwohl er die Nacht außerhalb der Stadtmauern verbracht hätte, wenn sein Vorhaben nicht unterbrochen worden wäre. ersten Vorbereitungen für das Fest begannen kurz nach der Rückkehr des Verräters. Denn am Abend [des 13.] begann der 14. Nisan, und man suchte feierlich mit brennenden Kerzen in allen Häusern nach Sauerteig, der versteckt oder versehentlich weggefallen sein könnte. Dieser wurde an einem sicheren Ort aufbewahrt und anschließend mit dem Rest vernichtet. In Galiläa war es üblich, ganz von der Arbeit abzusehen; in Judäa wurde der Tag geteilt, und die eigentliche Arbeit hörte erst am Mittag auf, obwohl schon am Morgen nichts Neues mehr in Angriff genommen wurde. Diese Teilung des Tages zu festlichen Zwecken war eine rabbinische Hinzufügung; und um sie abzuschirmen, wurde eine Stunde vor Mittag festgelegt, nach der nichts Gesäuertes gegessen werden durfte. Die Strengeren enthielten sich sogar noch eine Stunde früher (um zehn Uhr), damit die elfte Stunde nicht unmerklich in den verbotenen Mittag überging. Die Gefahr war jedoch gering, da zur öffentlichen Bekanntmachung zwei entweihte Dankopferkuchen auf eine Bank im Tempel gelegt wurden, von denen die Entfernung des einen anzeigte, dass die Zeit für den Verzehr von Gesäuertem vorbei war, und die Entfernung des anderen, dass die Zeit für die Vernichtung allen Sauerteigs gekommen war.

          Wahrscheinlich begann Jesus nach dem Frühmahl, als der Verzehr von Sauerteig aufgehört hatte, mit den Vorbereitungen für das Ostermahl. Johannes, der angesichts der Einzelheiten in den anderen Evangelien die äußeren Ereignisse zusammenfasst und in gewissem Sinne fast übergeht, damit ihre Schilderung die Aufmerksamkeit nicht von den wichtigen Lehren ablenkt, die nur er aufzeichnet, erzählt einfach als Vorwort und Erklärung – gleichsam vom „Letzten Abendmahl“ und von dem, was danach geschah -, dass Jesus, „da er wusste, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt zum Vater gehen sollte1 , die Seinen, die in der Welt waren, liebte und sie liebte bis ans Ende.Aber der Bericht des Lukas über die tatsächlichen Geschehnisse, der in einigen Punkten am deutlichsten ist, muss sorgfältig untersucht werden, und zwar ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen für die Harmonie der Evangelien. Es ist fast unmöglich, sich etwas Offensichtlicheres vorzustellen, als dass er uns zu verstehen geben will, dass Jesus im Begriff war, das gewöhnliche jüdische Ostermahl zu feiern. Und es kam der Tag der ungesäuerten Brote, an dem das Passah geopfert werden musste’a Die Bezeichnung ist genau die des Beginns des Pascha, der, wie wir gesehen haben, der 14. Was folgt, stimmt genau damit überein: Und er sandte Petrus und Johannes und ließ ihnen sagen: Geht hin und bereitet uns das Osterlamm, damit wir es essen können. Dann kommen diese drei Hinweise im selben Bericht vor: ‚Und … sie bereiteten das Pascha vor“und als die Stunde gekommen war, legte Er sich nieder [wie gewöhnlich beim Ostermahl] und die Apostel mit Ihm’c und schließlich diese Seine Worte:’Mit Verlangen habe ich mich danach gesehnt, dieses Pascha mit euch zu essen‘. Und damit stimmt die Sprache der beiden anderen Synoptiker, Matthäus 26,17-20 und Markus 14,12-17, völlig überein.Kein Einfallsreichtum kann diese Tatsachen erklären. Die Vermutung, dass der Sanhedrin in jenem Jahr das Ostermahl vom Donnerstagabend (14.-15. Nisan) auf den Freitagabend (15.-16. Nisan) verschoben hatte, um den auf den ersten Tag des Festes folgenden Sabbat zu vermeiden, und dass das Osterlamm deshalb in jenem Jahr am Freitag, dem Abend des Tages, an dem Jesus gekreuzigt wurde, gegessen wurde, ist eine Annahme, für die es weder in der Geschichte noch in der jüdischen Tradition irgendeine Stütze gibt. 1 Ebenso unhaltbar ist die Annahme, dass Christus das Ostermahl einen Tag vor dem von der übrigen jüdischen Welt gefeierten Abendmahl gehalten hat – eine Annahme, die nicht nur mit der eindeutigen Sprache der Synoptiker unvereinbar ist, sondern auch unmöglich, da das Osterlamm nicht im Tempel geopfert werden konnte und daher kein Ostermahl außerhalb der regulären Zeit stattfand. Aber der vielleicht seltsamste Versuch, die Aussage der Synoptiker mit dem in Einklang zu bringen, was in der Erzählung des hl. Johannes ist, dass die Hohenpriester, während der Rest Jerusalems, einschließlich Christus und seiner Apostel, am Ostermahl teilnahmen, durch ihr Verfahren gegen Jesus unterbrochen oder vielmehr daran gehindert wurden – dass sie es in der Tat nicht angerührt hatten, als sie fürchteten, in den Gerichtssaal des Pilatus einzutreten; und dass sie danach zurückgingen, um es zu essen, „indem sie das Abendmahl in ein Frühstück verwandelten.2 Unter den verschiedenen Einwänden gegen diese außergewöhnliche Hypothese wird der eine genügen, dass sie im absoluten Widerspruch zu einer der klarsten Rubriken stünde, die da lautet: ‚Das Pascha wird nicht in der Nacht gegessen, auch nicht später als in der Mitte der Nacht.‘

          Deshalb sandte der Herr nun Petrus und Johannes, um das gewöhnliche Ostermahl vorzubereiten. Zum ersten Mal sehen wir sie hier vom Herrn miteinander verbunden, diese beiden, die von nun an so eng miteinander verbunden sein sollten: derjenige, der am tiefsten fühlte, mit demjenigen, der am schnellsten handelte. Und ihre Frage, wo Er das Ostermahl zubereiten lassen würde, gibt uns einen kurzen Einblick in das gegenseitige Verhältnis zwischen dem Meister und seinen Jüngern; wie Er auch in ihrem intimsten Gespräch immer noch der Meister war und ihnen nur sagte, was zu tun war, wenn es getan werden musste; und wie sie sich nicht anmaßten, vorher zu fragen (geschweige denn, etwas vorzuschlagen oder sich einzumischen), sondern einfaches Vertrauen und absolute Unterordnung in Bezug auf alle Dinge hatten. Die Anweisung, die der Herr gab, bewies ihnen, wie auch uns, einmal mehr das göttliche Vorherwissen Christi, hatte aber auch eine tiefe menschliche Bedeutung. Offensichtlich durften weder das Haus, in dem das Passah gehalten werden sollte, noch sein vor Judas‘ Augen genannt werden. Diese letzte Mahlzeit mit der Einsetzung des Heiligen Abendmahls sollte nicht unterbrochen und ihre letzte Zuflucht nicht verraten werden, bis alles gesagt und getan war, bis hin zum letzten Gebet der Agonie in Gethsemane. Wir können kaum irren, wenn wir in dieser Verbindung von Vorauswissen und Besonnenheit den Ausdruck des Göttlichen und des Menschlichen sehen: die „zwei Naturen in einer Person“. Das Zeichen, das Jesus den beiden Aposteln gab, erinnert uns an das Zeichen, mit dem Samuel einst Saulus Gewissheit und Weisung gegeben hatte. a Beim Einzug in Jerusalem begegneten sie einem Mann – offensichtlich einem Diener -, der einen Krug mit Wasser trug. Ohne ihn anzusprechen, sollten sie ihm folgen und, als sie das Haus erreichten, dem Besitzer diese Botschaft überbringen:“Der Meister spricht: Meine Zeit ist nahe – bei dir [d.h. in deinem Haus: die Betonung liegt darauf] halte ich2 das Passah mit meinen Jüngern. b Wo ist meine3 Herberge, wo ich mit meinen Jüngern das Passah essen werde? „

          Zwei Dinge verdienen hier besondere Aufmerksamkeit. Die Jünger wurden nicht aufgefordert, nach der Haupt- oder „Oberkammer“ zu fragen, sondern nach dem, was wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks mit „Herberge“ oder „Saal“ wiedergegeben haben -κατάλυμα – dem Ort im Haus, an dem, wie in einem offenen Khân, die Lasttiere abgeladen, Schuhe und Stab oder staubige Kleider und Lasten abgelegt wurden – wenn eine Wohnung, dann wenigstens eine gewöhnliche, sicherlich nicht die beste. Außer an dieser Stelle,4 kommt das Wort nur als Bezeichnung für das „Wirtshaus“ oder die „Herberge“ (κατάλυμα) in Bethlehem vor, wo die Jungfrau-Mutter ihren erstgeborenen Sohn zur Welt brachte und ihn in eine Krippe legte. Er, der in einer „Herberge“ – Katalyma – geboren wurde, begnügte sich damit, seine letzte Mahlzeit in einer Katalyma zu erbitten. Nur, und das ist das Zweite, es muss sein eigenes sein: „Mein Katalyma“. Es war üblich, dass mehr als eine Gesellschaft am Ostermahl in derselben Wohnung teilnahm. 5 Bei der Vielzahl derer, die sich zum Ostermahl setzten, war dies unvermeidlich, denn alle nahmen daran teil, auch Frauen und Kinder,nur nicht die, die levitisch unrein waren. Und obwohl jede Gesellschaft nicht weniger als zehn Personen umfassen durfte, sollte sie doch nicht größer sein, als dass jeder zumindest einen kleinen Teil des Osterlammes zu sich nehmen konnte – und wir wissen, wie klein Lämmer im Osten sind. Aber während er nur um seine letzte Mahlzeit in der Katalyma bat, einer Halle, die sich zum offenen Hof hin öffnete, wollte Christus sie für sich allein haben, um das Passah allein mit seinen Aposteln zu essen. Nicht einmal eine Schar von Jüngern – wie der Besitzer des Hauses zweifellos war – und noch nicht einmal die Jungfrau-Mutter durften anwesend sein, um zu sehen, was geschah, zu hören, was Er sagte, oder bei der ersten Einsetzung Seines Heiligen Abendmahls dabei zu sein. Zumindest uns erinnert dies an die Worte des heiligen Paulus: „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe.

          Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass, wie bereits angedeutet, der Besitzer des Hauses ein Jünger war, obwohl zu festlichen Zeiten Fremden im Allgemeinen uneingeschränkte Gastfreundschaft gewährt wurde und kein Mann in Jerusalem sein Haus als sein Eigentum betrachtete, geschweige denn es vermieten wollte. Aber kein einfacher Fremder hätte als Antwort auf eine so geheimnisvolle Botschaft ohne weitere Fragen sein bestes Zimmer hergegeben. Hätte er Petrus und Johannes gekannt oder den Absender der Botschaft an der Ankündigung erkannt, dass es „der Meister“ war, oder an den Worten, denen seine Lehre eine solche Bedeutung beigemessen hatte: dass seine Zeit gekommen war, oder sogar an der besonderen Betonung seines Befehls: ‚Mit dir halte ich das Pascha mit meinen Jüngern?‘ Es kommt nicht darauf an, was es war – und in der Tat hat man fast den Eindruck, dass der Hausherr einen solchen Ruf zwar nicht erwartet, sich aber bereitgehalten hatte. Es war die letzte Bitte des sterbenden Meisters – hätte er sie abschlagen können? Aber er würde mehr tun, als ihr sofort und bedingungslos nachzukommen. Der Meister bat nur um „die Halle“: So wie er in einem Katalyma geboren wurde, wäre er zufrieden gewesen, dort seine letzte Mahlzeit zu sich zu nehmen – gleichzeitig Mahlzeit, Festmahl, Opfer und Einrichtung. Aber der namenlose Jünger wies Ihm nicht den Saal zu, sondern das beste und höchste, „das obere Gemach“ oder Aliyah, den ehrenvollsten und zugleich zurückgezogensten Ort, wo man von der Außentreppe aus ein- und ausgehen konnte, ohne durch das Haus zu gehen. Und „das Obergemach“ war „groß“, „möbliert und bereit“.Von jüdischen Autoritäten wissen wir, dass die durchschnittliche Speisewohnung auf fünfzehn Fuß im Quadrat berechnet wurde; der Ausdruck „möbliert“ bezieht sich zweifellos auf die Anordnung von Liegen rund um den Tisch, außer an seinem Ende, da es ein Kanon war, dass die Ärmsten an diesem Abendmahl in liegender Haltung teilnehmen mussten, um Ruhe, Sicherheit und Freiheit anzuzeigen; während der Ausdruck „bereit“ auf die fertige Bereitstellung all dessen hinzuweisen scheint, was für das Fest benötigt wurde. In diesem Fall wäre alles, was die Jünger „bereit zu machen“ hätten, „das Osterlamm“ und vielleicht jenes erste Chagigah oder Festopfer, das, wenn das Osterlamm selbst für das Abendmahl nicht ausreichen würde, dazugefügt wurde. Und hier muss daran erinnert werden, dass es zur Religion gehörte, bis zum Ostermahl zu fasten – wie der Jerusalemer Talmud erklärt Abendmahl besser genießen zu können.

          Vielleicht ist es nicht klug, den Schleier zu lüften, der auf dem namenlosen „solchen“ ruht, der das Vorrecht hatte, die letzte Schar des Herrn und die erste Schar seiner Kirche zu sein, die in dem neuen Band der Gemeinschaft seines Leibes und Blutes versammelt ist. Und doch können wir uns kaum der Spekulation enthalten. Am wahrscheinlichsten erscheint uns, dass es sich um das Haus des (damals noch lebenden) Vaters von Markus handelte – ein großes Haus, wie wir aus Apostelgeschichte 12,13 entnehmen. Denn die naheliegendste Erklärung dafür, dass Markus allein eine solche Begebenheit wie die von dem jungen Mann einführt, der Christus begleitete, als er gefangen weggeführt wurde, und der auf der Flucht vor denen, die ihn festhalten wollten, das innere Gewand in ihren Händen zurückließ, das er lose um sich geworfen hatte, als er aus dem Schlaf erwachte und nach Gethsemane eilte, ist, dass es sich um keinen anderen als Markus selbst handelte. Wenn dem so ist, können wir alles verstehen: wie der Verräter zuerst die Tempelwächter, die gekommen waren, um Christus zu ergreifen, zum Haus von Markus‘ Vater brachte, wo das Abendmahl stattgefunden hatte, und dass sie, als sie ihn nicht mehr vorfanden, nach Gethsemane folgten, denn „Judas kannte den Ort, weil Jesus sich oft mit seinen Jüngern dorthin begab „wie Markus, der durch das Erscheinen der bewaffneten Männer aus dem Schlaf aufgeschreckt wurde, eilig sein loses Gewand über sich warf und ihnen nachlief; dann, nach der Flucht der Jünger, Christus begleitete, aber der beabsichtigten Verhaftung entkam, indem er seinen Waffenrock in den Händen seiner vermeintlichen Entführer ließ.

          Wenn die früher geäußerte Ansicht richtig ist, dass der Hausherr alles für das Abendmahl zur Verfügung gestellt hatte, fanden Petrus und Johannes dort den Wein für die vier Kelche, die ungesäuerten Brote und wahrscheinlich auch „die bitteren Kräuter“. Von letzteren werden fünf Arten erwähnt,die einmal in Salzwasser oder Essig und ein anderes Mal in eine Mischung namens Charoseth getaucht werden sollten (eine Mischung aus Nüssen, Rosinen, Äpfeln, Mandeln usw. ) – obwohl dieses Charoseth nicht obligatorisch war. Der Wein war der gewöhnliche Wein des Landes, nur rot; er wurde mit Wasser gemischt, im Allgemeinen im Verhältnis von einem Teil zu zwei Teilen Wasser. Die Menge für jeden der vier Kelche wird von einer Autorität mit fünf Sechzehntel eines Scheites angegeben, was grob mit einem halben Becher – natürlich mit Wasser gemischt – berechnet werden kann. Der Osterkelch wird (nach dem rubrischen Maß, das natürlich nicht immer eingehalten wird) als zwei Finger lang und zwei Finger breit beschrieben, und seine Höhe als ein Finger, ein halber Finger und ein Drittel eines Fingers. Da, wie wir annehmen, im möblierten Obergemach alles vorbereitet war, mussten Petrus und Johannes sich nur noch um das Osterlamm und alles andere kümmern, was für das Abendmahl benötigt wurde, möglicherweise auch um das, was als Chagigah oder Festopfer dargebracht und anschließend beim Abendmahl gegessen werden sollte. Wenn letzteres mitgebracht werden sollte, mussten die Jünger natürlich vorher in den Tempel gehen. Die Kosten für das Lamm, das zur Verfügung gestellt werden musste, waren sehr gering. Es wird eine so geringe Summe wie etwa drei Pence unseres Geldes für ein solches Opfer genannt. Aber dies muss sich eher auf einen hypothetischen Fall als auf die gewöhnlichen Kosten beziehen, und wir ziehen die vernünftigere Berechnung vor, von einem Selab bis zu drei Selaim,.h. von 2s. 6d. bis 7s. 6d. von unserem Geld.

          Wenn wir uns nicht irren, waren diese Einkäufe jedoch bereits am Nachmittag zuvor von Judas getätigt worden. Es ist unwahrscheinlich, dass sie bis zum Schluss aufgeschoben wurden, und auch nicht, dass derjenige, der soeben den Verkehr in den Tempelhöfen verurteilt hatte, seine beiden Jünger dorthin geschickt hätte, um das Osterlamm zu kaufen, was notwendig gewesen wäre, um ein Tier zu bekommen, das die levitische Prüfung bestanden hatte, da am Passahtag keine Zeit gewesen wäre, es einer solchen Prüfung zu unterziehen. Wenn Judas diesen Kauf getätigt hat, können wir nicht nur erkennen, unter welchem Vorwand er am Nachmittag des Vortages nach Jerusalem gegangen sein könnte, sondern auch, wie er auf dem Weg vom Schafmarkt zum Tempel, um sein Lamm prüfen zu lassen, erfahren haben könnte, dass die Hohenpriester und Sanhedristen gerade im nahe gelegenen Palast des Hohenpriesters tagten.

          Unter der soeben gemachten Annahme wäre die Aufgabe von Petrus und Johannes in der Tat einfach gewesen. Sie verließen das Haus des Markus mit staunenden, aber betrübten Herzen. Einmal mehr hatten sie einen Beweis dafür, wie der göttliche Blick des Meisters die Zukunft in allen Einzelheiten erforschte. Sie waren dem Diener mit dem Wasserkrug begegnet; sie hatten dem Hausherrn ihre Botschaft überbracht; und sie hatten gesehen, wie der große Abendmahlssaal eingerichtet und vorbereitet war. Aber diese Voraussicht Christi war nur ein weiterer Beweis dafür, dass das, was er über seine bevorstehende Kreuzigung gesagt hatte, auch wahr werden würde. Und nun würde es Zeit für den gewöhnlichen Abendgottesdienst und das Opfer sein. Gewöhnlich begann dieser gegen 14.30 UHR – das tägliche Abendopfer wurde etwa eine Stunde später dargebracht; aber bei dieser Gelegenheit fand der Gottesdienst wegen des Festes eine Stunde früher statt. Als die beiden Apostel gegen halb eins unserer Zeit den Tempelberg hinaufstiegen, gefolgt von einer dichten, bunten Schar fröhlicher, schwätzender Pilger, müssen sie sich unter ihnen furchtbar einsam gefühlt haben. Die Schatten des Todes hatten sich bereits um sie gelegt. Wie wenige in dieser Menge, die mit ihnen sympathisierten, wie viele Feinde! Die Tempelhöfe waren von Gläubigen aus allen Ländern und aus allen Teilen des Landes bis zum Äußersten gefüllt. Der Priesterhof war mit weißgekleideten Priestern und Leviten gefüllt, denn an diesem Tag waren alle vierundzwanzig Kurse im Dienst, und alle ihre Dienste waren gefragt, obwohl nur der Kurs für diese Woche an diesem Nachmittag den gewöhnlichen Gottesdienst abhielt, der dem des Festes vorausging. Fast mechanisch nahmen sie die verschiedenen Teile des wohlbekannten Zeremoniells wahr. Die Sprache von Ps. 81, den die Leviten an diesem Nachmittag in drei Abschnitten sangen, die dreimal von den silbernen Trompeten der Priester unterbrochen wurden, muss für sie eine ganz besondere Bedeutung gehabt haben, eine traurige Bedeutung.

          Bevor der Weihrauch für das Abendopfer verbrannt wurde oder die Lampen im goldenen Leuchter für die Nacht angezündet wurden, wurden die Osterlämmer geschlachtet. Die Gläubigen wurden in drei Abteilungen in den Priesterhof eingelassen. Als die erste Gruppe eingetreten war, wurden das massive Nikanor-Tor, das vom Hof der Frauen zum Hof Israels führte, und die anderen Seitentore zum Priesterhof geschlossen. Ein dreifacher Trompetenstoß der Priester kündigte an, dass die Lämmer geschlachtet werden sollten. Dies tat jeder Israelit für sich selbst. Wir können uns kaum irren, wenn wir annehmen, dass Petrus und Johannes in der ersten der drei Gruppen waren, in die die Opferer eingeteilt wurden; denn sie müssen darauf bedacht gewesen sein, zu gehen und den Meister und ihre Brüder in jenem „Obersaal“ zu treffen. Petrus und Johannes2 hatten das Lamm geschlachtet. In zwei Reihen standen die amtierenden Priester bis zum großen Brandopferaltar. Während einer das Blut des sterbenden Lammes in einer goldenen Schale auffing, reichte er es seinem Kollegen und erhielt im Gegenzug eine leere Schale; so wurde das Blut zum großen Altar weitergeleitet, wo es in einem Strahl an die Basis des Altars gespritzt wurde. Während dies geschah, sangen die Leviten die Hallela. Wir erinnern uns, dass nur die erste Zeile eines jeden Psalms von den Anbetern wiederholt wurde, während sie auf jede weitere Zeile mit einem Halleluja antworteten, bis Ps. 118 erreicht war, wo außer der ersten auch diese drei Zeilen wiederholt wurden
          Rette jetzt, ich flehe Dich an, HERR;
          HERR, ich flehe Dich an, schicke jetzt Wohlstand.
          Gesegnet sei der, der im Namen des HERRN kommt.

          Als Petrus und Johannes sie an jenem Nachmittag wiederholten, müssen die Worte sehr bedeutsam geklungen haben. Aber sie müssen auch an den triumphalen Einzug in die Stadt einige Tage zuvor gedacht haben, als Israel mit diesen Worten die Ankunft seines Königs begrüßt hatte. Und jetzt – war es nicht so, als sei es nur eine Vorwegnahme des Hymnus gewesen, als das Blut des Osterlammes vergossen wurde?

          Es blieb nicht mehr viel zu tun. Das Opfer wurde auf die Stangen gelegt, die auf den Schultern von Petrus und Johannes ruhten, gehäutet und gereinigt, und die Teile, die auf dem Altar verbrannt werden sollten, wurden abgenommen und zum Verbrennen vorbereitet. Die zweite Gruppe von Opfern konnte noch nicht weit im Gottesdienst fortgeschritten sein, als die Apostel mit dem Lamm auf dem Rücken zum Haus des Markus zurückkehrten, um dort letzte Vorbereitungen für das „Abendmahl“ zu treffen. Das Lamm sollte auf einem Granatapfelspieß gebraten werden, der vom Mund bis zur Öffnung durch das Lamm hindurchging, wobei besonders darauf geachtet wurde, dass das Lamm beim Braten den Ofen nicht berührte. Auch alles andere wurde vorbereitet: die Chagigah für das Abendmahl (falls eine solche verwendet wurde); die ungesäuerten Kuchen, die bitteren Kräuter, die Schale mit Essig und die mit Charoseth wurden auf einen Tisch gestellt, der nach Belieben hineingetragen und bewegt werden konnte; schließlich wurden die Festtagslampen vorbereitet.
          Es war wahrscheinlich, als die Sonne am Horizont zu sinken begann, als Jesus und die anderen zehn Jünger noch einmal über den Ölberg in die Heilige Stadt hinabstiegen. Vor ihnen lag Jerusalem in seinem festlichen Gewand. Ringsherum eilten Pilger dorthin. Weiße Zelte standen auf der Wiese, die mit den leuchtenden Blumen des Vorfrühlings geschmückt war, oder lugten aus den Gärten oder dem dunkleren Laub der Olivenhaine hervor. Von den prächtigen Tempelgebäuden, die mit ihrem schneeweißen Marmor und Gold schillern und auf denen sich die schrägen Sonnenstrahlen spiegeln, steigt der Rauch des Brandopferaltars auf. Die Vorhöfe waren jetzt voll von eifrigen Anbetern, die zum letzten Mal im wahrsten Sinne des Wortes ihre Osterlämmer opferten. Die Straßen müssen von Fremden bevölkert gewesen sein, und die flachen Dächer waren mit sehnsüchtigen Blicken bedeckt, die sich entweder an einem ersten Anblick der heiligen Stadt weideten, nach der sie sich so oft gesehnt hatten, oder sich noch einmal am Anblick der bekannten Orte erfreuten. Es war der letzte Tagesblick, den der Herr bis zu seiner Auferstehung frei und ungehindert auf die Heilige Stadt werfen konnte. Noch einmal, in der nahenden Nacht Seines Verrats, würde Er sie im fahlen Licht des Vollmondes betrachten. Er ging voran, um seinen Tod in Jerusalem zu vollenden, um Typus und Prophezeiung zu erfüllen und sich selbst als das wahre Passahlamm zu opfern – „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“. Die, die ihm folgten, waren mit vielen Gedanken beschäftigt. Sie wussten, dass schreckliche Ereignisse auf sie warteten, und erst kurz zuvor war ihnen mitgeteilt worden, dass diese herrlichen Tempelbauten, auf die sie mit einem nicht unnatürlichen Nationalstolz die Aufmerksamkeit ihres Meisters gelenkt hatten, verwüstet werden sollten und kein Stein auf dem anderen bleiben würde. Unter ihnen schmiedete der Verräter seine dunklen Pläne und wurde vom großen Feind angestachelt. Und nun waren sie in der Stadt. Sie kannten den Tempel, die königliche Brücke, die prächtigen Paläste, die belebten Märkte und die Straßen, die mit festlichen Pilgern gefüllt waren, als sie sich auf den Weg zu dem Haus machten, in dem das Gästezimmer vorbereitet worden war. In der Zwischenzeit kam die Menge vom Tempelberg herab, jeder trug auf seinen Schultern das Opferlamm, um sich für das Ostermahl vorzubereiten.‘

          Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
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          Das Blut von Stieren und Ziegenböcken kann unmöglich Sünden wegnehmen

          Aber in jenen Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden; denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen.
          Elberfelder 1871 – Hebräer 10,3–4

          Aber gerade wird durch jene Opfer das Andenken an die Sünde jährlich erneuert; denn unmöglich kann Blut von Stieren und Widdern Sünden tilgen.
          van Ess 1858 – Hebräer 10:3–4

          Dabei ist es vollkommen unmöglich, daß wir durch das Blut von Stieren und Böcken von unserer Schuld befreit werden können.
          Hoffnung für alle – 1996 – Hebr 10,4

          Es ist nämlich völlig unmöglich, dass das Blut von Stieren oder Schafsböcken die Schuld der Menschen fortnehmen kann.
          Roland Werner – Das Buch – Hebr 10:4

          Dass die Gnade des Herrn der eigentliche Grund für die Vergebung der Sünde ist, wird auch in der theologischen Erklärung zum Yom Kippur (3Mo. 16,29–34) betont. Dort wird angeordnet, dass die Israeliten an diesem Tag nicht zum Heiligtum kommen sollen, um selbst ein Opfer darzubringen. Sie sollen sich vielmehr zu Hause vor dem Herrn demütigen, denn an diesem Tag werde der Hohepriester für sie Sühnung erwirken, um sie von allen ihren Sünden vor dem Herrn zu reinigen. Damit ist ausgedrückt, dass der Herr die Sünde nicht aufgrund der Opfer selbst vergibt, sondern allein aufgrund seiner Gnade, die er dem Schuldigen, der sich vor dem Herrn demütigt, zuteil werden lässt. Es gilt also sowohl, dass das Blut von Böcken und Stieren keine Sünden wegnehmen kann (Hebr. 10,4), als auch, dass ohne Blutvergießen keine Vergebung möglich ist (Hebr. 9,22). Die erwirkte Vergebung am Yom Kippur ist also nicht effektiv, sondern forensisch; die bestehende Sünde wird vom Herrn nicht mehr angerechnet. Vergeben wird die Sünde erst durch das Blut und Leben eines vollkommenen und wertvolleren Opfers—durch das Blut des Gottessohnes und Menschen Jesus Christus (Hebr. 9,11–14), der sein Leben für seine Nachfolger geopfert hat. Die im zukünftigen Reich Gottes darzubringenden eschatologischen Opfer blicken dann auf den Opfertod Jesu zurück und bringen zum Ausdruck, dass sich der Opfernde unter die geschehene Vergebung stellt und diese dankbar annimmt. Auch diese Opfer haben also lediglich eine forensische Bedeutung.
          Aus diesen Überlegungen können drei Folgerungen gezogen werden:

          Wenn die Opfer selbst keine sündenvergebende Wirkung haben, sondern nur an die Sünde erinnern, die Notwendigkeit der Vergebung verdeutlichen und aufgrund von Gottes Gnade als stellvertretendes Opfer von Gott anstelle des Schuldigen angenommen werden, sind sie nicht zwingend für einen angemessenen Gottesdienst notwendig. Diese Schlussfolgerung bestätigt sich auch bei einem weiteren Blick in das Alte Testament. Denn insbesondere die Propheten thematisieren mehrfach den nichtigen Gottesdienst in Israel. Doch auch schon vor den Propheten finden sich entsprechende Ansätze: So muss sich beispielsweise Saul von Samuel belehren lassen, dass Gehorsam besser ist als Opfer (1Sam. 15,22; vgl. Ps. 40,7); und Salomo erkennt, dass Gerechtigkeit und Recht zu üben dem Herrn lieber ist als Opfer darzubringen (Spr. 21,3). Bei den Propheten äußert sich die Kritik dann folgendermaßen: Jesaja rügt einen äußerlichen Opferdienst bei einer gleichzeitigen falschen Herzenshaltung (Jes. 1,10–17; vgl. auch Am. 5,21–27) und bestätigt im Gegenzug Gottes Vergebung ohne Opfer (Jes. 43,22–25); Jeremia verwirft Opfer als Ersatz für Gehorsam (Jer. 7,21–23); Hosea erinnert daran, dass der Herr an Güte und Erkenntnis mehr Gefallen hat als an Opfern (Hos. 6,6); und Micha mahnt an, dem Herrn nachzufolgen anstatt unzählige Opfer darzubringen (Mi. 6,6–8).

          Da dem Herrn mit dem Blut des Opfertieres sein Leben geopfert wird, dieses Leben jedoch die Sünden nicht effektiv wegnehmen kann, muss es ein weiteres blutiges Opfer geben, das dem Leben eines Menschen tatsächlich entspricht. Nur so kann die Sünde tatsächlich weggenommen werden. Damit der Mensch also wirkliche Vergebung erfahren kann, muss ein Mensch geopfert werden. Wie jedoch bereits angedeutet, wäre bei einem Menschenopfer der geopferte Mensch von der Vergebung ausgenommen. Diese Option scheidet damit so lange als umfassende Lösung aus, solange der geopferte Mensch selbst sündigt und Sünde auf sich geladen hat. Zudem wäre ja jeder sündige Mensch aufgrund seiner eigenen Sünde unfähig, alle Sünden auf sich zu nehmen (Hebr. 5,1–3). Stattdessen ist es nötig, dass Gott selbst ein sündloser Mensch wird und sich selbst für die Menschen opfert, um eine umfassende Vergebung für ihre Sünden zu erwirken (Hebr. 4,15; 5,5–10).

          Die Notwendigkeit des symbolischen Opferns zur Vergebung der Sünden verlangt ein symbolisches blutiges Opfer, das allerdings tatsächlich und effektiv die Sünden wegnehmen kann. Es muss also ein Opfer dargebracht werden, das vor dem Herrn ausreicht und die Beziehung zu Gott tatsächlich frei macht (Hebr. 9,13–14).

          Edition C Bibelkommentar Altes Testament – Opfer im Alten Vorderen Orient und im Alten Testament

            Von »dem Blut von Stieren und Böcken« war schon die Rede (vgl. Heb 9,12.19) sowie von dessen Unvermögen, »Sünden wegzunehmen« (vgl. Heb 9,9.13). Das Opferblut hatte höchstens einen prophetischen Zweck. Die Tieropfer hatten nur insofern einen Wert, als sie die Aufmerksamkeit der Israeliten auf den kommenden Erlöser und die verheißene Erlösung richteten. Nur ein Einziger vermag die Sünde wegzunehmen, nämlich Jesus Christus. Denn er hat ein für alle Mal die Macht der Sünde beseitigt, indem er den Schuldbrief an das Kreuz geheftet hat (vgl. Kol 2,14).

            Gerhard Maier – Edition C

            Was leistete nun das Opfersystem? Nach Vers 3 wurde das Opfersystem fortgesetzt, nur um eine Notwendigkeit zu verdeutlichen. In jenen Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden. Deshalb konnten die Menschen nie mit einem reinen Gewissen von dort weggehen. Das Opfersystem erinnerte sie nicht nur an die Sünde, sondern es rief auch einzelne Sünden im Sinne von Schuld ins Gedächtnis. Nach dem Opfer an Yom Kippur wurden sie beim Weggehen durch ihr Gewissen daran erinnert, dass ihre Sünden nur bedeckt, aber nicht entfernt worden sind. Unter dem Alten Bund wurden Sünden lediglich zugedeckt, und deshalb erinnerte man sich an die Sünden. Man wusste, dass das gesamte Ritual ein Jahr später wiederholt werden muss. Aber unter dem Neuen Bund sagte Gott, dass er ihrer Sünden nie mehr gedenken werde, wie in 8,12 gesagt wird.

            In Vers 4 steht der Grund dafür, warum das Gesetz ein Erfordernis darlegt, dem es nie gerecht werden konnte: Denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden wegnehmen. Alttestamentliche Opfer nahmen niemals Sünde weg. Als Jesus starb, ist er deshalb sowohl für die alttestamentlichen als auch für die neutestamentlichen Heiligen gestorben. Tierblut reicht nicht, um Sünden wegzunehmen. Dies war und ist unmöglich. Die Sünden der alttestamentlichen Heiligen wurden nur bedeckt. Kafar ist das gebräuchliche Wort für Bedeckung. Dasselbe Wort wird benutzt, als dem Noah befohlen wurde, seine Arche zu bauen. Ihm wurde gesagt, er solle die Arche mit Pech bedecken (verpichen). Das Tierblutopfer schaffte die Sünden nicht weg. Es bedeckte sie nur. Das Bild meint hier, dass die Sünde aus Gottes Blickfeld verschwand, sodass er dem alttestamentlichen Heiligen vergeben konnte. Aber sie wurde nicht entfernt.

            Arnold Fruchtenbaum – Der Hebräerbrief

            Hier liegt eine heilige Entschiedenheit in der Art und Weise vor, wie der Schreiber jetzt die tierischen Opfer der alten levitischen Ordnung beiseite läßt. Mit einer gewissen Prägnanz, Deutlichkeit und Bestimmtheit erklärt er, daß das Blut von Stieren und Böcken unmöglich Sünden hinwegnehmen kann. Zwar traf es zu, daß jene Opfer von Gott verfügt sowie angeordnet waren und Sühne für den Sünder erwirkten, doch sie konnten die traurige Tatsache der Sünde und des Sündenlebens nicht beseitigen. Sie bedeckten die Sünden (wobei an Golgatha gedacht war), doch während die Menschen weiterhin sündigten, bestanden auch die Opfer fort. Das Blut von Stieren und Böcken hatte keine Macht oder Kraft, Sünde zu beseitigen. Wie glückselig wäre es gewesen, wenn sowohl Sünde als auch das Verlangen danach aus dem menschlichen Herzen und Leben hätte entfernt werden können! Wie glückselig war der Mensch, der völlig und zu jeder Zeit im Willen Gottes leben kann, indem er überhaupt nicht sündigt! Doch im Blut von Stieren und Böcken lag keine solche Kraft, die einen solch glückseligen Zustand wie diesen hätte herbeiführen können. Es gab Begrenzungen, und manches war nicht möglich. Die tierischen Opfer wurden zu einem bestimmten Zweck angeordnet, und die Menschen waren verpflichtet zu opfern, wenn sie gesündigt hatten, doch das Blut, das sie vergossen, konnte niemals Sünden hinwegnehmen oder einen Menschen hervorbringen, der nicht sündigen würde. Sünden und sündiges Verhalten blieben gleichzeitig mit dem Darbringen dieser unzähligen Opfer bestehen, bis derjenige kommen würde, dessen heiliges Dasein und Lebensziel einzigartig war und sich bei der Ausführung des Willens Gottes zum Wohlgefallen Gottes vom Leben aller anderen unterschied.

            Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt

            12.Nisan

            (Matthäus 26:1-5, 14-16; Markus 14:1, 2, 10, 11; Lukas 22:1-6).

            VON DER Aufzeichnung der Sprüche und Taten Christi, die der heilige Matthäus liefert, wenden wir uns wieder den öffentlichen Ereignissen zu, wie sie von allen Evangelisten unter dem einen oder anderen Aspekt erzählt werden. Mit den Reden im Tempel war die öffentliche Lehre Christi zu Ende gegangen; mit der Rede auf dem Ölberg und ihrer Anwendung in den Gleichnissen von den „Jungfrauen“ und den „Talenten“ war die Unterweisung der Jünger abgeschlossen. Was nun in seinem Umgang mit den Seinen folgt, ist eher als lehrend, nämlich Ermahnung, Rat und Trost, vielleicht sogar alles zusammen.

            Die drei arbeitsreichen Tage der Passionswoche waren vorüber. Der Tag vor dem Tag, an dem das Osterlamm geschlachtet werden sollte, mit allem, was noch folgen würde, sollte ein Tag der Ruhe sein, ein Sabbat für seine Seele vor ihrem großen Schmerz. Er würde sich erfrischen, sich sammeln für den schrecklichen Kampf, der vor ihm lag. Und das tat er als Lamm Gottes, das sich sanftmütig dem Willen und der Hand seines Vaters unterwarf und so alle Vorbilder erfüllte, von der Opferung Isaaks auf dem Berg Morija bis zum Osterlamm im Tempel; und die Erfüllung aller Prophezeiungen, vom Samen der Frau, der der Schlange den Kopf zertreten würde, bis hin zum Reich Gottes in seiner ganzen Fülle, wenn seine goldenen Tore allen Menschen geöffnet werden und das Licht des Himmels zu ihnen strömt, wenn sie den Weg des Friedens suchen. Nur noch zwei Tage, wie die Juden sie rechneten – diesen Mittwoch und Donnerstag – und dann sogar das Ostermahl! Und Jesus wusste das sehr wohl, und er verbrachte diesen Tag der Ruhe und Vorbereitung in stiller Zurückgezogenheit mit seinen Jüngern – vielleicht in einer Mulde des Ölbergs, in der Nähe seines Hauses in Bethanien – und sprach mit ihnen über seine Kreuzigung am nahen Passahfest. Sie hatten seine Worte dringend nötig; eher sie als er mussten auf das vorbereitet werden, was kommen würde. Aber was für eine göttliche Ruhe, was für ein williger Gehorsam und auch was für ein Ausbruch von Liebe zu ihnen, im vollen Bewusstsein dessen, was vor Ihm lag, nur an diesem Tag daran zu denken und zu sprechen! So hätte ein Messias jüdischer Prägung nicht gehandelt, ja, er wäre nicht in solche Verhältnisse gebracht worden. So hätte nicht ein Messias mit ehrgeizigen Zielen oder jüdisch-nationalistischen Bestrebungen gehandelt; Er hätte getan, was der Sanhedrin befürchtete, und einen „Tumult des Volkes“ ausgelöst, der darauf vorbereitet war, wie die Menge, die soeben den Hosanna-Ruf auf den Straßen und im Tempel erhoben hatte. So hätte ein enttäuschter Enthusiast nicht gehandelt; er hätte sich vor dem drohenden Schicksal zurückgezogen. Aber Jesus kannte alles – weit mehr als die Qualen der Schande und des Leidens, sogar die unergründlichen Qualen der Seele. Und bei alledem dachte er nur an sie. Solches Denken und Sprechen ist nicht das des Menschen, sondern das des menschgewordenen Gottessohnes, des Christus der Evangelien.

            In der Tat hatte er zuvor versucht, sie allmählich auf das vorzubereiten, was in der Nacht des morgigen Tages geschehen sollte. Gleich zu Beginn Seines Dienstes, bei der ersten Gelegenheit, bei der Er im Tempel lehrte,gegenüber Nikodemus hatte Er in schemenhaften Bildern darauf hingewiesen. b Er hatte es angedeutet, als er von der tiefen Trauer sprach, wenn der Bräutigam von ihnen genommen werden würde,von der Notwendigkeit, sein Kreuz auf sich zu nehmen,d von der Erfüllung des Jona-Typs in ihm,von seinem Fleisch, das er für das Leben der Welt geben würde,f sowie in dem, was als parabolische Lehre über den guten Hirten erscheinen mochte, der sein Leben für die Schafe hingab,und den Erben, den die bösen Hirten verstoßen und getötet haben. h Aber Er hatte auch ganz direkt davon gesprochen – und das, wie wir besonders bemerken, immer dann, wenn ein Höhepunkt in Seiner Geschichte erreicht war und die Jünger sich zu messianischen Erwartungen einer Erhöhung ohne Erniedrigung, eines Triumphs ohne Opfer hinreißen lassen konnten. Wir erinnern uns, dass die erste Gelegenheit, bei der er so deutlich sprach, unmittelbar nach dem Bekenntnis des Petrus war, das den Grundstein der Kirche legte, gegen den die Pforten der Hölle nichts ausrichten konnten; die nächste, nachdem er vom Berg der Verklärung herabgestiegen war; b die letzte, als er sich anschickte, seinen triumphalen messianischen Einzug in Jerusalem zu vollziehen. Die dunkleren Andeutungen und parabolischen Schwünge hätten missverstanden werden können. Selbst was die eindeutigen Vorhersagen Seines Todes anbelangt, konnten vorgefasste Meinungen keinen Platz für eine solche Tatsache finden. Eine tiefe Verehrung, die dies nicht mit Seiner Person in Verbindung bringen konnte, und eine Liebe, die den Gedanken daran nicht ertragen konnte, könnten, nachdem der erste Schock der Worte vorüber war und ihre unmittelbare Erfüllung nicht folgte, eine andere mögliche Erklärung der Vorhersage vorschlagen. Aber an jenem Mittwoch war es unmöglich, etwas falsch zu verstehen; es war kaum möglich, an dem zu zweifeln, was Jesus über seine nahe Kreuzigung sagte. Sollten noch Illusionen bestanden haben, so müssen die letzten beiden Tage sie grob zerstreut haben. Die triumphalen Hosiannas bei seinem Einzug in die Stadt und der Jubel im Tempel waren dem Gejohle der Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrten gewichen, und mit einem „Wehe“ auf den Lippen hatte Jesus seinen letzten Weg aus Israels Heiligtum angetreten. Und weitaus besser als jene Machthaber, die das Gewissen zu Feiglingen machte, wussten die Jünger, wie wenig man sich auf die Anhänglichkeit der „Menge“ verlassen konnte. Und nun sagte es ihnen der Meister in klaren Worten; er betrachtete es in aller Ruhe, und zwar nicht wie in der düsteren Zukunft, sondern in der unmittelbaren Gegenwart – an eben jenem Passahfest, von dem sie kaum zwei Tage trennten. So sehr wir uns über ihre kurze Zerstreuung bei seiner Verhaftung und Verurteilung wundern, so sehr müssen diese demütigen Jünger ihn geliebt haben, dass sie in trauerndem Schweigen um ihn saßen, während er so sprach, und ihm bis zu seinem Sterben folgten.

            Aber für einen von ihnen, in dessen Herz sich die Finsternis schon lange ausgebreitet hatte, war dies der entscheidende Augenblick. Die Voraussage Christi, die Judas ebenso wie die anderen als wahr empfunden haben musste, löschte den letzten Schimmer des Lichts Christi aus, den seine Seele zu empfangen vermochte. An seiner Stelle loderte die grelle Flamme der Hölle auf. Durch die offene Tür, durch die er den sterbenden Christus hinausgestoßen hatte, „drang der Satan in Judas ein“. Doch auch das nicht für immer. Es darf in der Tat bezweifelt werden, ob dies, da Gott in Christus ist, jemals in einer menschlichen Seele der Fall sein kann, zumindest auf dieser Seite der Ewigkeit. Seit die Nacht unserer Welt durch die Verheißung aus dem Paradies erhellt wurde, liegt der rosige Farbton ihres Morgens am Rande des Horizonts, vertieft sich zu Gold, erhellt sich zu Tag, wächst zu Mittagsstärke und Abendherrlichkeit. Seit Gottes Stimme die Erde durch ihren frühen Weihnachtshymnus geweckt hat, ist es dort niemals ganz Nacht gewesen, noch kann es in irgendeiner menschlichen Seele jemals ganz Nacht sein.

            Aber es ist eine schreckliche Nachtstudie, die des Judas. Wir scheinen über lose Steine aus heißer, geschmolzener Lava zu stolpern, wenn wir zum Rand des Kraters klettern und schaudernd in seine Tiefen blicken. Und doch stand dort, ganz in der Nähe, nicht nur Petrus in der Nacht seiner Verleugnung, sondern vor allem wir alle, außer denen, deren Engel stets zum Antlitz unseres Vaters im Himmel aufblickten. Und doch haben wir in unserer Schwäche sogar über sie geweint! Dort, fast dort, haben wir gestanden, nicht in den Stunden unserer Schwäche, sondern in denen unserer schweren Versuchung, als der Sturm des Zweifels das flackernde Licht fast ausgelöscht oder der Sturm der Leidenschaft oder des Eigenwillens das geknickte Rohr zerbrochen hatte. Aber Er betete für uns – und durch die Nacht kam über ödes Moor und steinige Höhen das Licht Seiner Gegenwart, und über den wilden Sturm erhob sich die Stimme dessen, der gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren war. Doch nahe bei uns, nahe bei uns, war der dunkle Abgrund, und wir können nie mehr vergessen, wie wir beim Verlassen des Abgrunds das letzte Mal fast ins Rutschen gerieten.

            Es ist eine schreckliche Nachtstudie über Judas, und am besten machen wir sie gleich hier, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Wir werden in der Tat noch einmal einen plötzlichen Blick auf ihn erhaschen, wenn das Licht der Fackeln auf das Gesicht des Verräters in Gethsemane blitzt; und noch einmal seine Stimme in der Versammlung der hochmütigen, höhnischen Ratsherren Israels hören, wenn sein Schritt auf dem Marmorpflaster der Tempelhallen und das Klirren jener dreißig verfluchten Silberstücke den Widerhall wecken wird, auch den Klagegesang der Verzweiflung in seiner Seele, und er wird aus der Nacht seiner Seele in die Nacht fliehen, die sich für immer um ihn schließt. Aber all das können wir nach dieser kurzen Untersuchung seines Charakters und seiner Geschichte so schnell wie möglich hinter uns lassen.

            Wir erinnern uns, dass „Judas, der Mann aus Kerioth“, soviel wir wissen, der einzige Jünger Jesu aus der Provinz Judäa war. Dieser Umstand, dass er den Beutel trug, d.h. Schatzmeister und Verwalter des kleinen gemeinsamen Vorrats von Christus und seinen Jüngern war, und dass er sowohl ein Heuchler als auch ein Dieb war – das ist alles, was wir mit Sicherheit über seine Geschichte wissen. Aus dem Umstand, dass er in der apostolischen Gemeinschaft in ein solches Vertrauensamt berufen wurde, schließen wir, dass er bei den anderen als fähiger und kluger Mann, als guter Verwalter angesehen worden sein muss. Und es gibt wohl keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er die natürliche Gabe der Verwaltung oder des „Regierens“ (κυβέρνησις) besaß. Die Frage, warum Jesus ihm „den Beutel“ überließ, nachdem er wusste, dass er ein Dieb war – was er, wie wir glauben, anfangs nicht war, sondern erst im Laufe der Zeit und im Verlauf der Enttäuschung wurde -, lässt sich am besten durch diese andere beantworten: Warum ließ er es ursprünglich zu, dass Judas damit betraut wurde? Nicht nur, weil er am besten dafür geeignet war – wahrscheinlich sogar absolut geeignet -, sondern auch aus Barmherzigkeit ihm gegenüber, angesichts seines Charakters. Sich mit dem zu beschäftigen, wofür ein Mensch von Natur aus geeignet ist, ist das wahrscheinlichste Mittel, um ihn vor Grübeleien, Unzufriedenheit, Entfremdung und schließlich Abtrünnigkeit zu bewahren. Andererseits muss man zugeben, dass die meisten unserer Lebensversuche von dem ausgehen, wofür wir am meisten geeignet sind. Als Judas entfremdet und untreu im Herzen war, wurde genau das auch seine größte Versuchung und trieb ihn in der Tat ins Verderben. Aber erst, nachdem er vorher innerlich versagt hatte. Und so wird, wie immer in solchen Fällen, gerade das, was am segensreichsten hätte sein können, am meisten zum Fluch, und das Urteil der Verstockung erfüllt sich durch das, was an sich gut ist. Man hätte ihm auch nicht „den Beutel“ wegnehmen können, ohne ihn den anderen auszusetzen und seinen moralischen Untergang zu beschleunigen. Und so musste er dem Prozess der inneren Reifung überlassen werden, bis alles für die Sichel bereit war.

            Gerade diese Gabe der „Herrschaft“ bei Judas kann uns auch helfen zu verstehen, wie er sich zuerst zu Jesus hingezogen fühlte und wie er, als er sich entfremdet hatte, in diese schreckliche Sünde geriet, die ihn in ihren Bann zog. Die „Gabe der Regierung“ würde in ihrem aktiven Aspekt das Verlangen nach ihr bedeuten. Von da bis zum Ehrgeiz in seiner schlimmsten oder selbstsüchtigen Form ist es nur ein kleiner Schritt, vielmehr sind es nur unterschiedliche moralische Voraussetzungen. Judas fühlte sich zu Jesus als dem jüdischen Messias hingezogen, und er glaubte an ihn als solchen, vielleicht sogar ernsthaft und inbrünstig; aber er erwartete, dass der Erfolg, das Ergebnis und die Triumphe des jüdischen Messias sein würden, und er erwartete auch, persönlich und vollständig daran teilzuhaben. Wie tief solche Gefühle selbst in den besten, reinsten und selbstlosesten Jüngern Jesu verwurzelt waren, erfahren wir aus der Bitte der Mutter von Johannes und Jakobus um ihre Söhne und aus der Frage des Petrus: „Was sollen wir haben? Es muss für Ihn, der die fleischgewordene Selbstlosigkeit war, der lebte, um zu sterben, und der voll war, um sich zu entleeren, ein Schmerz, das Elend der moralischen Einsamkeit und der Demütigung gewesen sein, mit solchen wie seinen engsten Jüngern zusammen zu sein, die in diesem Sinne auch nicht eine Stunde mit Ihm wachen konnten, und in denen am Ende seines Dienstes eine solche Schwere geistig und moralisch der Ausfluss, wenn nicht das Ergebnis war. Und bei Judas muss dies alles hundertmal mehr gewesen sein als bei denen, die Christus im Herzen treu waren.

            Aus einer solchen Überzeugung heraus, wie wir sie beschrieben haben, hatte er sich der Bewegung gleich zu Beginn angeschlossen. Damals folgten Scharen von Menschen in Galiläa seinen Spuren und warteten auf sein Erscheinen; sie hingen gebannt an seinen Lippen in der Synagoge oder auf dem „Berg“; sie strömten aus allen Städten, Dörfern und Weilern zu ihm; sie trugen die Kranken und Sterbenden zu seinen Füßen und sahen mit Ehrfurcht, wie besiegte Teufel Zeugnis von seiner göttlichen Macht ablegten. Es war die Frühlingszeit der Bewegung, und alles war voller Verheißungen – Land, Leute und Jünger. Der Täufer, der sich vor ihm verneigt hatte und ihn bezeugte, erhob noch immer seine Stimme, um das nahe Reich zu verkünden. Aber das Volk hatte sich Jesus zugewandt, und er zog es in seinen Bann. Und, oh! welche Macht lag in Seinem Gesicht und Wort, in Seinem Blick und seiner Tat. Und auch Judas war einer von denen gewesen, denen auf ihrer ersten Mission vorübergehend Macht gegeben worden war, so dass selbst die Teufel ihnen unterworfen waren. Doch Schritt für Schritt kam die Enttäuschung. Johannes wurde enthauptet und nicht gerächt; im Gegenteil, Jesus zog sich selbst zurück. Dieses ständige Sich-Zurückziehen, sei es vor den Feinden oder vor dem Erfolg – was fast einer Flucht gleichkam -, selbst als sie ihn zum König gemacht hätten; diese Weigerung, sich öffentlich zu zeigen, sei es in Jerusalem, wie ihn seine eigenen Brüder verspottet hatten, oder überhaupt irgendwo anders; dieses einheitliche Predigen der Entmutigung ihnen gegenüber, wenn sie zu ihm kamen, beschwingt und voller Hoffnung auf einen Erfolg; diese wachsende Feindschaft der Führer Israels und sein deutliches Ausweichen vor der wiederholten öffentlichen Aufforderung der Pharisäer, ein Zeichen des Himmels zu zeigen, oder, wie manche es ausgedrückt hätten, sein Versagen bei dieser Aufforderung; schließlich und vor allem dieser ständige und wachsende Hinweis auf Schande, Unheil und Tod – was bedeutete das alles, wenn nicht die Enttäuschung all jener Hoffnungen und Erwartungen, die Judas am Anfang zu einem Jünger Jesu gemacht hatten?

            Wer Jesus so gut kannte, nicht nur in seinen Worten und Taten, sondern auch in seinen innersten Gedanken, bis hin zu seinem nächtlichen Zwiegespräch mit Gott auf dem Berg, der konnte nicht ernsthaft an den groben pharisäischen Vorwurf des satanischen Wirkens als Erklärung für alles glauben. Doch vom damaligen jüdischen Standpunkt aus hätte er es kaum für unmöglich gehalten, eine andere Erklärung für seine Wunderkraft vorzuschlagen. Aber da der moralische und geistige Aspekt des Reiches Christi selbst dem stumpfsinnigsten Intellekt immer deutlicher geworden sein muss, muss die bittere Enttäuschung seiner messianischen Gedanken und Hoffnungen in dem Maße weitergegangen sein, wie parallel dazu der Prozess der moralischen Entfremdung, der unvermeidlich mit seinem Widerstand gegen solche geistigen Manifestationen verbunden war, weiterging und zunahm. So gingen die geistige und die moralische Entfremdung zusammen weiter, beeinflussten sich gegenseitig und wirkten aufeinander ein. Und wenn wir gezwungen wären, einen bestimmten Zeitpunkt zu nennen, an dem der Prozess des Zerfalls zumindest spürbar begann, würden wir auf jenen Sabbatmorgen in Kapernaum verweisen, als Christus über sein Fleisch als die Nahrung der Welt gepredigt hatte und so viele seiner Anhänger aufhörten, ihm zu folgen; ja, als der Sauerteig sogar in seinen Jüngern so sehr wirkte, dass er sich mit der prüfenden Frage an sie wandte – um ihnen die volle Bedeutung der Krise zu zeigen -, ob sie ihn auch verlassen würden? Petrus siegte, indem er das moralische Element erfasste, denn es war für ihn und die anderen wahren Jünger von entscheidender Bedeutung: „Zu wem sollen wir gehen? Du hast die Worte des ewigen Lebens“. Aber gerade dieses moralische Element war die Klippe, an der Judas Schiffbruch erlitt. Danach war alles falsch, und zwar immer mehr. Wir sehen die Enttäuschung in seinem Gesicht, als er nicht auf den Berg der Verklärung steigt, und die Enttäuschung darüber, dass er das kranke Kind nicht heilen kann. In den Streitigkeiten am Wegesrand, in den Auseinandersetzungen darüber, wer der Größte unter ihnen war, in all der Kleinlichkeit der Missverständnisse und der realistischen Torheit ihrer Fragen oder Antworten, scheinen wir das Echo seiner Stimme zu hören, das Ergebnis seines Einflusses, den Sauerteig seiner Gegenwart zu sehen. Und in all dem sehen wir, wie sich sein Weg nach unten beschleunigt, bis hin zu dem Moment, in dem er im Gegensatz zur tiefen Liebe einer Maria zum ersten Mal entlarvt vor uns steht, als herzlos, heuchlerisch, voller Hass – enttäuschter Ehrgeiz, der in Egoismus umgeschlagen ist, und Egoismus, der in Habgier abrutscht, bis hin zu dem Verbrechen, das zu stehlen, was für die Armen bestimmt war.

            Denn wenn ein Ehrgeiz, der nur auf Selbstsucht beruht, nachlässt, liegt die grobe Begierde der Habsucht als verwandte Leidenschaft und geringerer Ausdruck dieser anderen Form der Selbstsucht dicht daneben. Als der messianische Glaube des Judas in völlige Enttäuschung umschlug, traf ihn der moralische und geistige Charakter der Lehre Christi nicht mit Sympathie, sondern mit Antipathie. Das, was ihm die Tür seines Herzens hätte öffnen sollen, hat sie nur verschlossen und doppelt verriegelt. Seine Anhänglichkeit an die Person Jesu würde in tatsächlichen Hass umschlagen, wenn auch nur vorübergehend; und die wilde Intensität seiner östlichen Natur würde alles in Flammen setzen. So stürzte Judas, als er seinen dünnen Halt verloren hatte, oder besser gesagt, als ihm dieser entglitten war, in den ewigen Abgrund. Der einzige Halt, an den er sich klammern konnte, war die Leidenschaft seiner Seele. Als er Hand an sie legte, gab sie nach und stürzte mit ihm in unergründliche Tiefen. Auch wir, jeder von uns, haben eine Hauptleidenschaft; und wenn wir, was Gott verhüten möge, den Halt verlieren sollten, würden auch wir diese Hauptleidenschaft ergreifen, und sie würde nachgeben und uns mit sich in die ewige Dunkelheit und Tiefe reißen.

            An jenem Frühlingstag in der Ruhe von Bethanien, als der Meister seinen traurigen und feierlichen Abschied von Himmel und Erde, von Freunden und Jüngern nahm und ihnen sagte, was nur zwei Tage später beim Passahfest geschehen sollte, war alles in der Seele von Judas geregelt. Der Satan ist in sie eingedrungen“. Christus würde gekreuzigt werden; das war ganz sicher. In der allgemeinen Katastrophe sollte Judas wenigstens etwas haben. Und so ließ er sie an jenem sonnigen Nachmittag dort draußen zurück, um das Gespräch mit denen zu suchen, die nicht an ihrem üblichen Versammlungsort, sondern im Palast des Hohenpriesters versammelt waren. Auch dies deutet darauf hin, dass es sich um eine informelle, eher beratende als gerichtliche Zusammenkunft handelte. Denn es gehörte zu den Grundsätzen des jüdischen Gesetzes, dass in Strafsachen das Urteil am regulären Versammlungsort des Sanhedrins gesprochen werden muss. Die gleiche Schlussfolgerung ergibt sich aus dem Umstand, dass der Hauptmann der Tempelwache und seine unmittelbaren Untergebenen in den Rat aufgenommen worden zu sein scheinen, zweifellos um die Maßnahmen für die eigentliche Verhaftung Jesu abzustimmen. Zuvor hatte es eine ähnliche Versammlung und Beratung gegeben, als der Bericht über die Auferweckung des Lazarus die Obrigkeit in Jerusalem erreichte. Der praktische Beschluss, der bei dieser Versammlung gefasst wurde, lautete offenbar, dass die Bewegungen Jesu von nun an streng überwacht werden sollten und dass jede einzelne von ihnen sowie die Namen seiner Freunde und die Orte, an denen er sich heimlich zurückzog, den Obrigkeiten mitgeteilt werden sollten, um seine Verhaftung zum richtigen Zeitpunkt vorzunehmen.

            Wahrscheinlich hat sich der Verräter an jenem Nachmittag im Palast des Hohepriesters Kaiphas eingefunden, weil er dieser Anweisung gehorchte. Dort waren die „Oberhäupter“ der Priesterschaft versammelt – zweifellos die Tempelbeamten, die Leiter der Priesterkurse und die Angehörigen der hochpriesterlichen Familie, die das bildeten, was Josephus und der Talmud als Priesterrat bezeichnen. Alles, was mit dem Tempel, seinen Ritualen, seiner Verwaltung, seiner Ordnung und seinen Gesetzen zu tun hatte, lag in ihren Händen. Darüber hinaus war es nur natürlich, dass der Hohepriester und sein Rat das reguläre offizielle Medium zwischen den römischen Behörden und dem Volk sein sollten. In Angelegenheiten, die keine gewöhnlichen Vergehen, sondern politische Verbrechen betrafen (wie man die Bewegung Jesu darstellen wollte), oder die den Status der etablierten Religion betrafen, waren die offiziellen Oberhäupter der Priesterschaft natürlich die Personen, die sich zusammen mit den Sanhedristen an die weltlichen Behörden wandten. Dies gilt unabhängig von der Frage, welche Stellung die Oberpriester im Sanhedrin einnahmen, auf die im Folgenden eingegangen wird. Aber bei dieser Versammlung im Palast des Kaiphas waren neben diesen priesterlichen Oberhäuptern auch die führenden Sanhedristen („Schriftgelehrte und Älteste“) versammelt. Sie berieten darüber, wie Jesus auf subtile Weise gefangen genommen und getötet werden könnte. Wahrscheinlich hatten sie sich noch nicht auf einen konkreten Plan festgelegt. Sie waren nur zu dem Schluss gekommen – wahrscheinlich aufgrund des Beifalls des Volkes bei seinem Einzug in Jerusalem und aufgrund dessen, was seitdem geschehen war -, dass während des Festes nichts unternommen werden durfte, aus Angst vor einem Volksaufstand. Sie kannten den Charakter des Pilatus nur zu gut und wussten, dass bei einem solchen Aufruhr alle Beteiligten – sowohl die Anführer als auch die Geführten – schreckliche Rache erfahren könnten.

            Es muss eine große Erleichterung gewesen sein, als der Verräter in ihrer Ratlosigkeit nun mit seinen Vorschlägen vor sie trat. Doch sein Empfang war nicht so, wie er es sich vielleicht erhofft hatte. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass man ihn wie einen wichtigen Verbündeten begrüßen und behandeln würde. Sie waren in der Tat „erfreut und versprachen, ihm Geld zu geben“, während er versprach, seine Schritte zu verfolgen und auf die Gelegenheit zu achten, die sie suchten. In Wahrheit veränderte das Angebot des Verräters den gesamten Aspekt der Dinge. Was sie früher fürchteten, zu versuchen, schien jetzt sicher und einfach. Sie durften sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen; es war eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder ergeben würde. Nein, könnte es nicht sogar so aussehen, als hätten sich durch den Abfall des Judas Unzufriedenheit und Unglaube im innersten Kreis der Jünger Christi breit gemacht?

            Dennoch behandelten sie Judas nicht wie einen verehrten Gefährten, sondern wie einen gewöhnlichen Spitzel und verächtlichen Verräter. Das war nicht nur natürlich, sondern unter den gegebenen Umständen auch die klügste Politik, sowohl um ihre eigene Würde zu retten als auch um den Verräter möglichst sicher in der Hand zu behalten. Und schließlich könnte man sagen, um seine Verdienste zu schmälern, dass Judas wirklich nicht viel für sie tun konnte – er zeigte ihnen nur, wie sie ihn in Abwesenheit der Menge unbemerkt ergreifen konnten, um den möglichen Tumult einer offenen Verhaftung zu vermeiden. So wenig haben sie Christus verstanden! Und Judas musste es schließlich unverhohlen aussprechen – und so sich selbst und den Meister verkaufen: „Was wollt ihr mir geben?“ Es war die buchstäbliche Erfüllung der Prophezeiung, dass sie ihm1 aus dem Tempelschatz jene dreißig Silberstücke (etwa 3 l 15 Pfund) „abwogen“. Und hier sehen wir, dass die Prophezeiungen des Gerichts immer eine schreckliche Wörtlichkeit haben, während die des Segens die Worte der Vorhersage weit übertreffen. Und doch war es sicherlich ebenso eine Verachtung des Verkäufers wie desjenigen, den er verkaufte, dass sie den gesetzlichen Preis für einen Sklaven zahlten. Oder meinten sie eine Art juristische Fiktion, wie die Person Jesu zum legalen Preis eines Sklaven zu kaufen, um sie anschließend der weltlichen Obrigkeit zu übergeben? Solche Fiktionen, um das Gewissen durch eine logische Spitzfindigkeit zu retten, sind nicht so ungewöhnlich – und der Fall der Inquisitoren, die den verurteilten Ketzer an die weltlichen Behörden auslieferten, wird einem wieder in den Sinn kommen. Aber in Wahrheit hätte Judas ihren Mühen nicht entgehen können. Sie hätten ihm zehn oder fünf Silberstücke anbieten können, und er hätte sich trotzdem an seine Abmachung gehalten. Aber nichtsdestoweniger erkennen wir die tiefe symbolische Bedeutung des Ganzen, dass der Herr sozusagen mit dem Tempelgeld bezahlt wurde, das für den Kauf von Opfern bestimmt war, und dass Er, der die Gestalt eines Knechtes annahm,b zum gesetzlichen Preis eines Sklaven verkauft und gekauft wurde.

            Und doch muss Satan bei diesem Abendmahl noch einmal in das Herz von Judas eindringen, bevor er die Tat endgültig vollbringen kann. Aber auch so glauben wir, dass es nur vorübergehend war, nicht für immer – denn er war immer noch ein Mensch, wie wir alle diesseits der Ewigkeit sind, und er hatte noch ein Gewissen, das in ihm arbeitete. Mit diesem Element hatte er bei seinem Handel im Palast des Hohenpriesters nicht gerechnet. Am Morgen seiner Verurteilung würde es ihm eine schreckliche Rechnung stellen. Diese Nacht in Gethsemane ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. In der sich verdichtenden und einhüllenden Finsternis ringsum sah er wohl immer nur den Fackelschein, der auf das bleiche Antlitz des göttlichen Leidenden fiel. In der schrecklichen Stille vor dem Sturm muss er immer nur diese Worte gehört haben: ‚Verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?‘ Damals hasste er Jesus nicht – er hasste nichts; er hasste alles. Er war völlig verzweifelt, als der Sturm der Verzweiflung über seine enttäuschte Seele fegte und ihn mit sich riss. Niemand im Himmel oder auf Erden, an den er sich wenden konnte; niemand, weder Engel noch Mensch, der ihm beistand. Nicht einmal die Priester, die ihm den Preis des Blutes bezahlt hatten, wollten etwas von ihm haben, nicht einmal die dreißig Silberlinge, das Blutgeld seines Meisters und seiner eigenen Seele – so wie auch die moderne Synagoge, die zwar die Tat, nicht aber das Geschehene gutheißt, nichts von ihm haben will! Mit ihrem „Sieh zu!“ schickten sie ihn zurück in seine Dunkelheit. Doch das Gewissen ließ sich nicht beruhigen. Und lauter als das Klingen der dreißig Silberlinge, die auf das Marmorpflaster des Tempels fielen, schallte es immer in seiner Seele: „Ich habe unschuldiges Blut verraten! Selbst wenn Judas das besessen hätte, was uns auf Erden am meisten und am längsten anhaftet – die Liebe einer Frau -, hätte sie nicht bei ihm verbleiben können. Sie hätte sich in Wahnsinn verwandelt und wäre geflohen; oder sie wäre verdorrt, getroffen von den Blitzen jener Schreckensnacht.

            Tiefer – weiter hinaus in die Nacht! bis an ihre äußersten Grenzen – wo die dunkle Flut des Todes aufsteigt und fällt. Das wilde Heulen des Sturms hat die dunklen Wasser in Raserei versetzt: sie werfen und brechen in wilden Wogen zu seinen Füßen. Ein schmaler Riss im Wolkenvorhang, und im fahlen, todesähnlichen Licht liegt die Gestalt Christi so ruhig und gelassen, unberührt und unversehrt auf den sturmgepeitschten Wassern, wie sie in jener Nacht auf dem See von Galiläa gelegen hatte, als Judas ihn über die wogenden Wogen zu ihnen kommen sah und ihnen dann Frieden gebot. Friede! Was für ein Friede für ihn jetzt – auf Erden oder im Himmel? Es war derselbe Christus, aber dornengekrönt, mit Nagelabdrücken an Händen und Füßen. Und das hatte Judas dem Meister angetan! Nur einen Augenblick lang schien es dort zu liegen, dann wurde es von den dunklen Wassern unter ihm verschluckt. Und wieder wird der Wolkenvorhang zugezogen, nur noch dichter; die Dunkelheit ist dichter und der Sturm wilder als zuvor. Hinaus in diese Finsternis, mit einem wilden Sturz – dort, wo die Gestalt des toten Christus auf dem Wasser gelegen hatte! Und die dunklen Wasser haben sich in ewiger Stille um ihn geschlossen.

            Begegnete er in dem grellen Morgengrauen, das am anderen Ufer aufbrach, wo die Flut ihn hinwarf, den forschenden, liebenden Augen Jesu, deren Blick er so gut kannte, als er kam, um für die Taten des Fleisches einzustehen?

            Und – kann es einen Vorrat an ewigem Erbarmen für den Verräter Christi geben?

            Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
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            Sie hofft darauf, dass die erschaffene Welt selbst von der Versklavung an die Vergänglichkeit befreit wird

            Denn die Schöpfung ist der Eitelkeit unterworfen worden (nicht mit Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat), auf Hoffnung, daß auch selbst die Schöpfung freigemacht werden wird von der Knechtschaft (O. Sklaverei) des Verderbnisses (O. der Vergänglichkeit) zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.
            Elberfelder 1871 – Römer 8,20–21

            Denn alles Geschaffene ist der Sinnlosigkeit ausgeliefert, versklavt an die Vergänglichkeit, und das nicht durch eigene Schuld, sondern weil Gott es so verfügt hat. Er gab aber seinen Geschöpfen die Hoffnung, dass auch sie eines Tages von der Versklavung an die Vergänglichkeit befreit werden und teilhaben an der unvergänglichen Herrlichkeit, die Gott seinen Kindern schenkt.
            Gute Nachricht Bibel 2018 – Römer 8:20–21

            Denn die Schöpfung ist einmal der Dumpfheit unterworfen worden nicht freiwillig, sondern durch die Schuld dessen, der sie sich einmal untertan gemacht hat im Hinblick auf die Erwartung, dass sogar die Schöpfung von der Versklavung an die Vergänglichkeit befreit werden wird für die zur Herrlichkeit der Gotteskinder gehörenden Freiheit.
            Gottes Agenda – Das Neue Testament urtextnah ins heutige Deutsch übersetzt von Andreas Eichberger – Röm 8,20–21

            Die geschaffene Welt ist ja im Tiefsten der Bedeutungslosigkeit unterworfen. Das geschah nicht aus freiem Willen, sondern durch den, der sie dieser Vergänglichkeit unterworfen hat. Und doch lebt in ihr die Hoffnung. Sie hofft darauf, dass die erschaffene Welt selbst von der Versklavung an die Vergänglichkeit befreit wird und Anteil an der strahlenden Freiheit der Kinder Gottes gewinnt.
            Roland Werner – Das Buch – Röm 8:20–21

            Unterworfen der Vergänglichkeit, vielleicht als Folge von Adams Ungehorsam. Durch den, der sie unterworfen hat, oder wegen des Einen, der sich unterworfen hat, d.h. wegen Adam der sich der Sünde unterworfen bzw. ihr nachgegeben hat.

            Das Neue Testament – jüdisch erklärt

            Ich hoffe, du verstehst nun, wie die Geschichte der Bibel alles an unserer Geschichte verändert, sogar die Kapitel der Leere und der Unzufriedenheit in ihr. Der Tag wird kommen, an dem die Dornen und Disteln – die greifbaren Zeichen der Auswirkungen des Sündenfalls und unsere ständigen Wegbegleiter in der Wildnis dieser Welt – der Vergangenheit angehören werden. Paulus schreibt dazu im Römerbrief:
            Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

            Dem Apostel Johannes wurde in einer Vision erlaubt zu sehen, wie die Welt aussehen wird, wenn die Schöpfung von ihren Fesseln der Vergänglichkeit frei sein wird, wenn sie dieselbe Auferstehung und Erneuerung erfahren wird, die auch unsere Körper durchleben, wenn Christus uns mit Leibern, gemacht für ein Leben auf der neuen Erde, auferwecken wird.
            Im allerletzten Kapitel der Bibel, welches unser Leben im neuen Garten beschreibt, sagt uns Johannes: »[E]s wird nichts Verfluchtes mehr sein« (Offb 22,3). Kein Fluch mehr. Keine schmerzhaften Dornen mehr. Kein Tohuwabohu mehr. Die Güte und Herrlichkeit eines Gartens, besser als Eden, wird sich in jeden Winkel der Erde erstrecken. Und die Güte Gottes wird jeden Winkel in dir ausfüllen. Es wird keine Enttäuschung mehr geben, keine Unzufriedenheit. Jede Leere in dir wird gefüllt und deine tiefsten Sehnsüchte erfüllt werden.

            Nancy Guthrie – Besser als Eden: Wie die Geschichte der Bibel deine eigene verändert

            In Vers 19 führt Paulus diesen zukünftigen Aspekt ein, indem er erklärt: Denn die Erwartung der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Der griechische Begriff gar („für“) zeigt, dass die Aussage eine Fortsetzung der Argumentation des Paulus ist, die in Vers 18 begann. Die Formulierung „ernste Erwartung“ ist die Übersetzung eines griechischen Wortes: apokaradokia. Moo weist darauf hin, dass dieser Begriff „das Bild einer Person nahelegt, die ihren Hals reckt, um zu sehen, was kommt“ Diese Interpretation veranlasste J. B. Phillips zu folgender Umschreibung des Verses: „Die ganze Schöpfung steht auf den Zehenspitzen, um den wunderbaren Anblick der Söhne Gottes zu sehen, die zu ihrem Recht kommen.“ Die ernsthafte Erwartung wartet mit erhobenem Kopf und den Augen auf den Punkt des Horizonts, von dem aus das erwartete Objekt kommen soll. Der griechische Begriff für „Schöpfung“, ktisis, wird sowohl für den Akt der Erschaffung von etwas aus dem Nichts als auch für das geschaffene Produkt verwendet. Er schließt sogar die unbelebte Schöpfung ein. Die ganze Schöpfung wartet auf etwas, das offenbart werden soll. Das griechische Wort für „warten“, apekdechomai, bezeichnet ein sehnsüchtiges Erwarten, eine Erwartung. Die Schöpfung wird als eine Person dargestellt, die erwartet, etwas aus den Händen eines Menschen zu erhalten, der es ihr von weitem entgegenstreckt. Der Begriff steht im Präsens, was darauf hindeutet, dass dieses Warten kontinuierlich ist. Die ganze Schöpfung ist bereit und vorbereitet auf das, was kommen wird. Der griechische Begriff für „die Offenbarung“, apokalupsis, bedeutet „Enthüllung“ oder „Enthüllung“. Was aufgedeckt wird, sind die Söhne Gottes, also die Gläubigen. Sie werden mit dem Messias bei seinem zweiten Kommen wiederkommen. Zu dieser Zeit wird die Schöpfung erneuert und ihr Leiden wird beseitigt werden.

            Die Erklärung für das Leiden der Schöpfung findet sich in Vers 20a: Denn die Schöpfung wurde der Nichtigkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat. Auch hier verwendet Paulus den griechischen Begriff gar („für“), um darauf hinzuweisen, dass die nachfolgende Aussage etwas erklärt, was er zuvor erwähnt hat. Die Schöpfung wartet sehnsüchtig auf die Offenbarung der Söhne Gottes, weil sie der Eitelkeit unterworfen war. Der griechische Begriff für „Eitelkeit“, mataiotés, bedeutet „Gebrechlichkeit“, „Leere“ und „Nichts“. Durch den Sündenfall wurde die Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen. Die Schöpfung wurde wertlos und ohne nützliche Ausrichtung.

            Die Verse 20b-21 zeigen jedoch, dass der Fluch, der über diese Erde gekommen ist, nicht ohne Hoffnung ist: in der Hoffnung, dass auch die Schöpfung selbst aus der Knechtschaft des Verderbens befreit wird in die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Die ganze Schöpfung ist zwar nicht mehr nützlich, aber sie hat die Hoffnung, dass sie doch noch verherrlicht werden wird. In Jesaja 65,17 erklärt Gott, dass er einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird: Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, und des Alten wird man nicht mehr gedenken. Diese neuen Himmel und die neue Erde sind nicht zu verwechseln mit denen in Offenbarung 21,1-22,5. Letztere beschreibt den neuen Himmel und die neue Erde der ewigen Ordnung, während die Jesaja-Passage die des messianischen Reiches beschreibt, das eine Erneuerung des jetzigen Himmels und der Erde sein wird. Daniel 12:7-12 offenbart, dass zwischen dem Ende der Trübsal und dem Beginn des messianischen Reiches ein Zeitraum von fünfundsiebzig Tagen liegen wird. In dieser Zeit wird eine Reihe von Dingen geschehen, darunter auch die Erneuerung, von der in Jesaja 65:17 die Rede ist. Weil dies ein Werk ist, das nur Gott vollbringen kann, verwendet Jesaja den hebräischen Begriff bara für „schaffen“, was auf einen übernatürlichen Akt hinweist.

            In Römer 8:20b-21 steht, dass dem Menschen die Herrschaft über die Erde gegeben wurde, aber mit seinem Fall wurde die Erde verflucht. Satan hat die Herrschaft des Menschen an sich gerissen. Doch der Tag wird kommen, an dem der Zweck dieser Erde seine Erfüllung finden wird. Die Herrlichkeit, die durch diese Erde hätte kommen sollen, wird durch den neuen Himmel und die neue Erde kommen. Diese neue Schöpfung wird die Hoffnung der ursprünglichen Schöpfung erfüllen, und die Schöpfung wird zu einem geeigneten Ort werden, um die Herrlichkeit Gottes zu zeigen.

            Arnold G. Fruchtenbaum – Ariel’s Bibelkommentar

            Dieser Vers enthält eine offensichtliche Anspielung auf 1.Mo. 3,17.18. Die Verfluchung des Erdbodens infolge des Sündenfalls und des Ungehorsams von Adam, das Wachsen von Dornen und Disteln und vieles mehr sind Beweise, daß nach der Tragödie von Eden ein Verderben über die Schöpfung gekommen ist. Die Indizien für eine seufzende Schöpfung finden sich überall um uns her, wenngleich nur wenige bereitwillig zugeben, daß die Ursache von all dem die Sünde ist. Jeder Teil der Schöpfung wurde durch den Fluch getroffen, und folglich seufzt sie unter dieser Knechtschaft. Der Mensch ist natürlich nicht imstande, die Lasten der Schöpfung zu lindern. Die Schöpfung wird erst dann geheilt werden, wenn der Mensch nach dem Herzen Gottes die Herrschaft antritt und in Gerechtigkeit regieren wird.
                Von der Schöpfung wird gesagt, daß sie der Nichtigkeit unterworfen ist. Sie hatte keine Chance, ihr Potential zu entfalten. Als sie das nicht erreichen konnte, wozu ihr Schöpfer sie gestaltet hatte, machte sich eine Stimmung der Enttäuschung breit. Die Nichtigkeit, von der Paulus hier spricht, spiegelt das Unvermögen der Schöpfung wider, sich zu entwickeln. Sie sitzt letzten Endes im selben Boot gefangen wie die Menschheit auch, und als der Mensch fiel, fiel die Schöpfung samt allen Aspekten mit.
                Die Schöpfung hat sich nicht freiwillig der Nichtigkeit unterworfen, die aus dem Sündenfall resultierte. Paulus personifiziert die Schöpfung hier und macht deutlich, daß sie nicht unter den Fluch fallen wollte. Das Verb steht im Aorist, was zeigt, daß die Unterwerfung unter die Nichtigkeit kein Prozeß war, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt. Als Adam sündigte, stürzte er nicht nur seine eigene Nachkommenschaft ins Verderben, sondern auch die Schöpfung.
                Die Ursache der Unterwerfung unter die Nichtigkeit wird hier als »um deswillen« bezeichnet, der die Schöpfung unterworfen hat. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, auf wen sich diese Aussage bezieht. Manche meinen, es sei Adam, und andere es sei Satan. Die meisten Ausleger glauben jedoch, daß es Gott ist, da weder Adam noch Satan eine solch weitreichende Macht besaßen. Das wird im nächsten Vers ausgeführt, der Hoffnung aufkommen läßt. Dieser hoffnungsvolle Blick in die Zukunft könnte mit keinem dieser beiden in Verbindung stehen. Es steht in Übereinstimmung mit dem Charakter Gottes, daß er in der Weise handelt, wie er bereits gehandelt hat. Der Mensch fiel in Sünde, und Gott ließ zu, daß die Konsequenzen dieses Sündenfalls die gesamte Schöpfung durchdrangen. Gott erlitt jedoch in keiner Weise eine Niederlage. Sogar im Garten Eden wurde bereits die künftige siegreiche Erlösung verheißen. Der zweite Mensch, der letzte Adam, sollte über die Schlange triumphieren und ihr den Kopf zertreten, wenngleich die Schlange dabei auch Seine Ferse zermalmen würde.
            21
            Die Grundtext-Manuskripte weichen darin voneinander ab, ob die Konjunktion zu Beginn dieses Verses »daß« oder »denn« lautet. Luther bevorzugt »denn« ( dioti ), die Elberf »daß« ( hoti ). Die Wortwahl macht hier jedoch kaum einen Unterschied. Luthers Übersetzung legt nahe, daß das Argument von V. 21 aus V. 19 folgt; der Elberf Text scheint zu implizieren, daß Paulus zusätzlich zur Verherrlichung der Kinder Gottes (V. 17) betont, daß auch die Schöpfung vom Segen Gottes profitieren werde.
                In manchen Bibelausgaben beginnt dieser Vers mit dem Hinweis auf die »Hoffnung« vom Ende von V. 20. Hoffnung ist in der Bibel nicht nebulös. Sie spricht von Gewißheit der künftigen Erfüllung. Im Gegensatz dazu läßt sich bei Hoffnung im Sinne der Welt keine Grundlage für das Erhoffte ausmachen. Hoffnung im biblischen Sinn ist jedoch nicht irrational. Sie nimmt die Bibel als das wahre Wort Gottes und glaubt dabei an den Charakter Gottes, der alles zu Seiner Zeit erfüllen wird. Paulus personifiziert hier die Schöpfung und läßt sie hoffen und vorausschauen auf die Zeit, wenn sie von der Knechtschaft befreit sein wird und wenn sie in all ihrer Herrlichkeit leuchten wird. Es wird keine Verderblichkeit mehr geben. Wovon die Schöpfung gegenwärtig charakterisiert ist, wird weggetan sein. Verfall und Tod beherrschen derzeit die Schöpfung, doch die Zeit der Befreiung naht eilends heran. Statt Knechtschaft wird dann Freiheit sein. Am großen Tag der Offenbarung wird die Schöpfung zusammen mit dem Menschen verherrlicht werden.
                Nicht allein die Kinder Gottes werden dann Freiheit genießen, sondern die ganze Schöpfung wird dann in ihrer ganzen Pracht aufblühen. Dann wird sich erfüllen, was in Jesaja 11 und 65 so anschaulich geschildert ist. Die Welt hat die Schöpfung noch nie so gesehen, wie sie eigentlich gedacht war, doch wenn die Freiheit der Kinder Gottes offenbart wird, werden die Einschränkungen, die der Schöpfung wegen der Sünde auferlegt sind, weggetan sein und die Herrlichkeit von Gottes Werk wird von allen Augen bewundert werden. … Die Schöpfung wird nicht mehr in Banden der Knechtschaft, sondern befreit sein. Man könnte nicht sagen, daß sie sehnsüchtig auf die Offenbarung der Söhne Gottes wartet, wenn das nicht ihre eigene Befreiung einschließen würde.

            Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt