Tag: 27. Oktober 2023

Gerechtigkeit ist nicht in erster Linie eine Sache zwischen Menschen, sondern zwischen einer Person und Gott

«HÜTET euch, daß ihr nicht eure Gerechtigkeit (- 5Mo 24,13; Ps 112,9; 2 Kor 9,9.10. -) vor den Menschen tut, um von ihnen betrachtet zu werden! Wenn im anderen Falle aber nicht, so habt ihr keinen Lohn bei euerm Vater, dem in den Himmeln!  
Abraham Meister – Matthäus 6,1

Habet acht, dass ihr eure Gerechtigkeit (- Kap. 6: Was [Mt 5,20] gesagt, wird weiter ausgeführt. Die Gerechtigkeit besteht in den Werken der Tugend -) nicht übet vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden, sonst werdet ihr keinen Lohn haben bei eurem Vater, welcher im Himmel ist. (- Unsere guten Werke dürfen von den Menschen gesehen werden [Mt 5,16], aber ist dies unser Ziel, so verlieren wir den Lohn. Der Gedanke, dass Gott unser Vater ist, soll unseren Eifer anstacheln. Nunmehr geht Christus auf Einzelnes über: Almosen, Gebet, Fasten. Dies sind die drei gewöhnlichen äußeren Tugendakte und zugleich der dreifachen Quelle der Fehler entgegengesetzt (Thom.), Wie leicht bei denselben die Eitelkeit sich einschleicht, zeigt [Lk 18,11]. -)
Joseph Franz von Allioli – Matthäus 6:1

Richtet aber eure Aufmerksamkeit darauf, eure Gerechtigkeit nicht zu wirken vor den Menschen, in der Nebenabsicht, um ein Schaustück (Theater) für sie zu werden; wo aber je nicht, Lohn habt ihr dann keinen bei eurem Vater, Dem in den Himmeln.
Pfleiderer Übersetzung – Matthäus 6:1

Er tadelte zunächst ihre Art, Almosen zu geben. Gerechtigkeit ist nicht in erster Linie eine Sache zwischen Menschen, sondern zwischen einer Person und Gott. Daher sollte man seine Frömmigkeit nicht vor anderen zur Schau stellen, denn dann erhält man auch seinen Lohn nur von den Menschen (V. 1-2). Die Pharisäer machten aus ihren Gaben an die Armen eine große Show in den Synagogen und auf den Gassen und dachten, auf diese Weise unter Beweis zu stellen, was für gerechte Leute sie doch seien. Jesus jedoch sagte, wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, d. h., es sollte so verborgen geschehen, daß der Geber sofort wieder vergißt, was er gegeben hat.
Auf diese Art zeigt er wahre Gerechtigkeit vor Gott, nicht vor den Menschen, und Gott wird es ihm vergelten. Man kann nicht, wie die Pharisäer annahmen, von den Menschen und von Gott belohnt werden.

Walvoord Bibelkommentar

Dieser Vers stellt ein allgemeines Prinzip dar, das danach anhand von drei Beispielen veranschaulicht wird. Anstelle von »Almosen« (Elberf, Regv Elberf, AV) hat RV »Gerechtigkeit«. JND setzt »Almosen« in den Text, und »Gerechtigkeit« in die Fußnote, wo er einräumt, daß letzteres wahrscheinlich korrekt ist. Im Zusammenhang erkennen wir, daß der V.2 wenig sinnvoll ist, wenn bereits in V.1 »Almosen« steht. die Jünger müssen ihre Beweggründe zu ihren gerechten Handlungen hinterfragen. Geschehen sie vor Gott oder vor den Menschen? Jedes öffentliche Werk muß vom Diener selbst streng geprüft werden. Die Haltung des Paulus, daß er »nicht um Menschen zu gefallen, sondern Gott« (1 Thessalonicher 2,4) sein Werk tat, steht in krassem Gegensatz zu den Pharisäern, die »alle ihre Werke tun, um von den Menschen gesehen zu werden« (Matthäus 23,5)

Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt

Dieser Vers ist die Grundaussage, die durch die daran anschließenden drei Beispiele einer in aller Stille, ohne großes Aufsehen geübten Frömmigkeit durch 6,2-18 veranschaulicht werden soll. Die Juden sollten gute Werke nicht um des Lohnes willen vollbringen, auch wenn solche Werke, wie Jesus hier bestätigt, am Tag des Gerichts belohnt werden. Beten, Fasten und Almosengeben waren grundlegende Elemente der jüdischen Frömmigkeit (* Tob 12,9). Die Rabbinen bedienten sich gern der Dreizahl in Aufzählungen (wenn es etwa um die Grundtugenden geht, auf denen die Welt fußt).

Craig Keener – Kommentar zum Umfeld des Neuen Testaments

Wie bei dem Kodex der wahren Gerechtigkeit begann Jeschua seine Lehre über das Verhalten der wahren Gerechtigkeit mit einer Einleitung, in der er das Thema angab und dann konkrete Beispiele nannte. Das einleitende Prinzip lautet: Tut eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden. Wenn man die äußeren Werke der Gerechtigkeit tut, sollte das Motiv sein, Gott zu gefallen und nicht, um Lob von Menschen zu erhalten. Diejenigen, die Lob von Menschen suchen, werden es erhalten, aber das ist alles, was sie bekommen werden; sie werden keine Belohnung vom Herrn haben.

Arnold Fruchtenbaum – Jeschua – Das Leben des Messias aus einer messianisch-jüdischen Perspektive

Die Bibel fordert uns nirgends auf, für die Reichen und Mächtigen einzutreten, aus dem einfachen Grunde, dass diese das nicht nötig haben. Stattdessen sagt sie: „Öffne deinen Mund für die Stummen, für das Recht all derer, die sonst niemand haben. […] verschaffe den Armen und Schwachen ihr Recht!“ (Sprüche 31,8-9). Und Jeremia sagt: „[…] errettet den Beraubten von des Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen und tut niemand Gewalt an und vergießt kein unschuldiges Blut an dieser Stätte“ (Jeremia 22,310). Die „Fremdlinge, Waisen und Witwen“ sind Menschen, die sich nicht so wehren können wie andere. Sacharja 7,9-10 nennt vier soziale Gruppen, die in der Antike besonders schutzbedürftig waren: Witwen, Waisen, Fremde und Arme. Sie sollten den Gläubigen besonders am Herzen liegen. In Sprüche 22,22-23 heißt es sinngemäß: Hüte dich davor, einen Armen auszunutzen, weil er sich nicht wehren kann! Und Psalm 41,2 erklärt: „Glücklich zu preisen ist, wer anderen Menschen in Not zur Seite steht!“ Das „zur Seite stehen“ meint eine dauerhafte, strategisch geplante und durchdachte Hilfe.
In der Bergpredigt ruft Jesus seine Jünger dazu auf, den Armen Almosen zu geben, und nennt dieses Almosengeben „Gerechtigkeit“ (dikaiosune, Matthäus 6,1). An anderen Stellen wird Jesus dadurch zum Fürsprecher der Armen, dass er die Pharisäer konfrontiert, „die am Geld hingen“ (Lukas 14,16), oder den Schriftgelehrten vorhält, dass sie „den Besitz der Witwen verschlingen“ (Lukas 20,47), also ihre prekäre finanzielle und rechtliche Lage ausnutzen.

Timothy Keller – Hoffnung in Zeiten der Angst

Bisher hat uns Jesus gezeigt, was wir einander schuldig sind, wie wir Menschen unsere Gemeinschaft miteinander nach Gottes Sinn ordnen, und er hat absichtlich nicht gleich von dem gesprochen, was wir Gott als unseren Dienst darbringen, sondern zuerst von dem, was wir einander zu gewähren haben. Denn darin, daß der Mensch von uns empfange, was wir ihm zu geben haben, zeigt uns Jesus das erste Hauptstück unseres Berufs. Wir dürfen aber unsere Liebe auch dem Vater geben und ihm unseren Dienst darbringen. Darin sah auch der Jude das größte und wirksamste Stück der Gerechtigkeit. War denn nicht sein eifriger und opferwilliger Gottesdienst stark genug, um ihm Gottes Wohlgefallen zu verschaffen? Mußte Jesus nicht seinetwegen ihn ehren und Gemeinschaft mit ihm halten? Wie viele hatten daran Tag um Tag ihr großes Anliegen, Gott zu ehren und sich vor ihm als gerecht zu erweisen! Allein auch ihrer Verehrung Gottes verweigert Jesus sein Lob und trennt seine Jünger auch von ihr. Er trennt sie wieder wie bei der Auslegung derjenigen Rechte, die uns Menschen miteinander vereinen, nicht nur von der jüdischen Sünde, sondern auch von der jüdischen Frömmigkeit, weil der Jude mit ihr sich selbst verherrlichte. Es lag ihm bei dem, was er Gottes wegen tat, nicht einzig an Gott, sondern beständig nicht weniger an den Menschen. Dadurch wurde aber aus seinem Gottesdienst eine Entehrung Gottes. Darum warnt Jesus seine Jünger 6,1: Gebt aber acht auf eure Gerechtigkeit, daß ihr sie nicht vor den Menschen tut, um von ihnen gesehen zu werden. Sonst habt ihr bei eurem Vater, der in den Himmeln ist, keinen Lohn. Wenn die Jünger das nicht verstehen lernten, mußten sie sich täglich an der stillen Weise Jesu stoßen; denn er tat nichts des Lobes der Menschen wegen; sie sollen wissen, warum er dies nicht bloß selbst so hält, sondern es auch von ihnen verlangt.
Die Sucht, um der Menschen willen fromm zu sein und den Lohn der Frömmigkeit sofort in ihrem Lob zu genießen, ist in Israel deswegen stark geworden, weil es durch seinen Gottesdienst zu einer eng verbundenen Gemeinschaft geworden war. Das Gesetz ging das gesamte Volk an und konnte nur dadurch geschehen, daß es alle taten. Was half es, wenn dieser oder jener Gott noch so eifrig diente? Damit war der Zweck des Gesetzes noch nicht erfüllt, weil das Gesetz eine Gemeinde verlangte, die Gott ganz gehorsam sei. Konnte denn Gottes Gnade sich offenbaren, solange es im Volke noch viele Übertreter des Gesetzes gab? Darum wurde aus der Frömmigkeit jedes einzelnen ein öffentliches Anliegen, um das sich jedermann kümmerte. Jedermann gab acht auf jedermann. Wer unfromm handelte, war überall verachtet; wer fromm war, genoß deswegen sofort hohe Ehren. So entstand zwar eine feste, enge Gemeinschaft, die jeden zur Frömmigkeit trieb; aber es wurde auch offenbar, wie gefährlich wir Menschen füreinander sind, daß aus der Gemeinschaft Knechtschaft werden kann und daß das Gesetz allein unfähig ist, uns fromm zu machen. Der Blick Israels schob sich weg von Gott zu den Menschen hin. Weil die Frömmigkeit sofort ihre Vergeltung im öffentlichen Urteil fand und jedermann nach seinem Gottesdienst gemessen wurde, wurde der Mensch das Ziel und die große Hauptsache des Gottesdienstes, und Gott wurde die geringe Nebensache. Alles wurde Schein, und damit wich auch die Kraft und der Gewinn aus ihrem Gottesdienst. Denn dafür, daß sie sich selber ehren und erhöhen, gibt ihnen Gott keinen Lohn.

Schlatters Erlӓuterungen zum Neuen Testament

In V. 1 steht im Urtext das Wort »Gerechtigkeit«. Es wird hier im umfassenden Sinn gebraucht, im Sinne von Rechtes tun, Gerechtes tun! – Während in 5,22 »Gerechtigkeit« gesehen wurde von der Stellung zum mosaischen Gesetz (siehe dort), ist hier Gerechtigkeit gesehen als »Tätigkeit«, als »Frucht« jener in 5,22 genannten Gerechtigkeit, kurz als »das neue Leben«.
In V. 2 steht im Urtext nicht: »Gerechtigkeit« (Wohltätigkeit) üben, sondern »Almosen geben«. Über die Bedeutung dieses Wortes nachher in V. 2.
Wie ist das Wort »Lohn« zu verstehen? Der Ausdruck »Lohn« kommt in diesen Versen viermal vor, immer wieder in derselben Redewendung, die gegen die Pharisäer gerichtet ist: »Sie haben ihren Lohn empfangen.« – Wir fragen, was will hier das Wort vom »Lohn«? Alles Trachten nach dem lohnenden Beifall der Menschen war doch soeben schärfstens abgelehnt?
Wir antworten: »Der Lohn Gottes« ist etwas ganz anderes als der Lohn, der hier als etwas Verwerfliches abgelehnt wird.
Lohn ist hier nicht im Sinne von »Entlohnung« zu verstehen, so wie es eine Entlohnung gibt zwischen dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Bezahlung für eine geleistete Arbeit. Nein, so ist Lohn hier nicht zu verstehen, nicht Entlohnung auf Grund eines Vertragsverhältnisses oder eines Anstellungsverhältnisses, sondern im Sinne eines Familien Verhältnisses von Vater und Kind. Lohn ist als »Anerkennung« anzusehen, die der Vater seinem fleißigen Kinde schenkt. Lohn ist, so gesehen, »Gabe«, »Geschenk«, »Güte«, Einlösung von Versprechungen, Darreichung gegebener Verheißungen. Kurz: »Himmlischer Lohn« ist die Umarmung des himmlischen Vaters, ist »Schenkung ewiger Herrlichkeiten«. (Wie sollte Er uns mit Seinem Sohn nicht alles schenken?) – Solch »himmlischer Lohn« steht in keinem Vergleich zu unserem irdischen »Gutes tun«, weil er alles Denken über alle Maßen unendlich übersteigt, also nie und nimmer irgendwie eine Gegenleistung für unser irdisches Tun im »neuen Leben« sein kann. Lukas 17,10 spricht der Herr: »Wenn ihr alles getan, was euch befohlen ist, dann sprechet: Wir sind unnütze Knechte, wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig sind.«
An dem Gleichnis von den »anvertrauten Pfunden« (Mt 25,14–30; vgl. Lk 19,12–27) wird ebenfalls deutlich, daß nicht der Gedanke an irgendwelche Entlohnung, sondern der Gedanke der Gnade das Hauptmotiv ist! – Wilhelm Löhe sagt in dem bekannten Wort »Was will ich? Dienen will ich!«:
»Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Mein Lohn ist, daß ich darf.«
Luther sagt in seinen Predigten über Mt 5–7 zum Lohngedanken: »Gott will uns feste machen durch solch ›Lohn‹. Will dir die Welt nicht danken und nimmt dir Ehr, Gut, Leib und Leben drüber, dann halte dich an mich und tröste dich des, daß ich noch einen Himmel habe und so viel drinnen, daß ich dir’s wohl vergelten kann und vielmals mehr, denn man dir jetzt nehmen kann … daß du das Himmelreich offenbarlich hast und Christum, den du jetzt im Glauben hast, dann sichtiglich anschauest, in ewiger Herrlichkeit und Freude.«
Nach der Lehre der Rabbiner zeigt der Jude seine Gottesliebe durch drei Leistungen:
a) Wohltätigkeit; b) Gebet; c) Fasten.
Diese drei Leistungen kommen zu den jüdischen gottesdienstlichen Leistungen noch hinzu.
In die Sprache von heute übersetzt könnten wir sagen: Hier werden drei Äußerungen des »Neuen Lebens« gekennzeichnet. Durch drei Gesichtspunkte sind diese Auswirkungen des neuen Lebens charakterisiert.
1. Gesichtspunkt: Der Blick nach außen bewirkt den Dienst (»Almosen«) unserer Hand dem Nächsten gegenüber.
2. Gesichtspunkt: Der Blick nach oben bewirkt den Dienst (»Gebet«) unseres Mundes Gott gegenüber.
3. Gesichtspunkt: Der Blick nach innen bewirkt den Dienst (»Fasten«) unserer Seele ihren inneren Kämpfen gegenüber.
Eine Dreiheit ist’s! Nach außen, nach oben, nach innen.
Jesus sagt nicht: »Seid nicht wohltätig, betet nicht, fastet nicht«, sondern er meint: Wenn ihr Wohltätigkeit übt, wenn ihr betet, wenn ihr fastet, dann macht das nicht so, wie die Pharisäer das zu tun pflegen. Denn so wie sie es tun, ist’s verwerflich!
Wir fragen: Wie haben denn die Pharisäer das getan? Antwort: Sie wollten von den Menschen angestaunt werden, von denselben Menschen, die sie sonst verachteten, von denen wollten sie nunmehr bewundert werden.

Wuppertaler Studienbibel

Inhaltlich und in der Form ist Mt 5, 1 eine Art Überschrift zu Mt 6, 2-18 . Er redet noch nicht vom Almosen, sondern von der »Gerechtigkeit«. Die Wendung »Gerechtigkeit (Luthertext: Frömmigkeit) tun« zeigt aber, dass der Begriff hier enger gefasst werden muss wie in Mt 5,6; 5,20 . Dort war er die Freiheit von Schuld. Jetzt bedeutet »Gerechtigkeit« das Handeln nach außen entsprechend unserer Verbindung mit Gott.
Unser »Gerechtigkeitstun« in diesem Sinne soll nicht geschehen »vor den Leuten, um ihnen ein Schauspiel zu bieten«. Denn in diesem Fall wollen wir Eindruck auf Menschen machen. Für das »gesehen werden« des Luthertextes steht griechisch ein Wort, das mit Theater aufs engste verwandt ist. Wir produzieren uns also vor Menschen, im Theater der Gesellschaft. Von daher bleibt völlig klar, dass wir öffentlich handeln können – und oft sogar müssen! -, sofern wir nicht die Öffentlichkeit zum Selbstruhm suchen. Abgesehen von der Herzensprüfung, die uns Jesus hier aufträgt, ist es nützlich zu überlegen, inwieweit die Bekanntmachung von Gaben im Gottesdienst oder die Pressearbeit kirchlicher Werke, der Diakonie und sonstiger Art versuchlich sind. Der Selbstruhm ist eine im irdischen Leben nie ganz versiegende Quelle. Sobald wir die Schleuse ein wenig öffnen, überschwemmt sie uns.
»Andernfalls habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.« Diese Aussage deutet schon an, was Mt 6, 2 , 5, 16 am Ende bringt. Auf jeden Fall will uns der »Vater« vergelten, was wir ihm hier an Freude bereiten. Noch einmal sei bemerkt, dass der »Lohn« kein Abrechnungslohn ist, sondern eine unser irdisches Tun weit übertreffende und unverdiente positive Vergeltung! Wir haben auf Lohn kein Recht, werden aber über alles Verstehen hinaus mit einer Belohnung beschenkt. Die Entsprechung zwischen Vater und Kind besteht nicht nur im Tun, sondern auch im Teilhaben an den göttlichen Reichtümern. Sodann wird von jetzt ab »Vater« die ständige Gottesbezeichnung für die Jünger, während der Name »Gott« zurücktritt. Im Lebensumgang der wahren Frömmigkeit überstrahlt also der »Vater« den »Gott« der Lehre

Edition C

Der Generalsatz lautet: Gebt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht vor den Menschen praktiziert, um ihnen ein Schauspiel zu bieten (V. 1). προσέχειν [prosechein] heißt hier achtgeben, „aufpassen“. Bauer-Aland und Blass-Debrunner-Rehkopf schlagen an unsrer Stelle „sich hüten, dass“ vor. Diese Akzentuierung ist wohl etwas scharf, ändert aber kaum etwas am Sinn.
Entscheidend wird für V. 1 der Sinn des griech. δικαιοσύνη [dikaiosynē], hinter dem hebr. צְדָקָה [zᵉdāqāh] zu vermuten ist. Die übliche Übersetzung „Gerechtigkeit“ trifft hier offenbar nur teilweise das, was Jesus meint. Bauer-Aland und Gottlob Schrenk ziehen deshalb die Übersetzung „Frömmigkeitsübung“, „Frömmigkeit“ vor. Andere bleiben bei „Gerechtigkeit“. Inhaltlich geht es um die Erfüllung des Gotteswillens im Alltag. Weil der Begriff „Gerechtigkeit“ dabei doch eher Missverständnisse produziert, haben wir mit Frömmigkeit übersetzt.
Achtgeben sollen die Jünger, dass sie die praxis pietatis, das praktizierte (ποιεῖν [poiein]!) Frömmigkeitsleben, nicht mit falschen Motivationen und Verhaltensweisen verknüpfen. Explizit warnt Jesus davor, dass sie vor den Menschen ein Schauspiel bieten oder „in Erscheinung treten“ wollen. Frömmigkeit soll nicht zur Schau werden! Bis heute ist diese Mahnung wichtig. Frömmigkeit bleibt ein „Handeln vor und für Gott“. All das ändert freilich nichts daran, dass man den heutigen europäischen Christen die Feigheit vor dem Bekenntnis nehmen muss. Vgl. noch Mt 23,5.
Jesus nennt sofort die Konsequenz eines solchen „sich zur Schau Stellens“: Andernfalls habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Darin steckt zweierlei: Erstens kann ein solches öffentliches Praktizieren durchaus einen Lohn bei den Menschen zur Folge haben, zweitens gibt es aber im Reich Gottes und nach der Auferstehung keinen Lohn mehr. Der Jünger muss sich zwischen diesen zwei Optionen entscheiden. Euer Vater im Himmel nimmt die Formulierung von 5,45 auf. Vgl. die Erklärung dort.
Auch die späteren Rabbinen unterstrichen übrigens, dass die Frommen nach Mi 6,8 „bescheiden wandeln“ sollten „vor Gott“. Sie sahen hier deutlich: „Alles hängt von der Intensität des Herzens ab.“
Hier stoßen wir erneut auf die Problematik des Lohn-Gedankens (μισθός [misthos]), mit dem sich vor allem Karl Bornhäuser intensiv beschäftigt hat. Er möchte die „Belohnung“ im Vater-Sohn-Verhältnis streng unterscheiden von der „Entlohung“ im Arbeitsverhältnis. Auf Letztere besteht ein Anspruch, auf Erstere nicht. Erstere ist ein Geschenk, Letztere ein Rechtstitel. Bornhäuser kann sich dabei auf Röm 4,4 berufen, wo der „Lohn nach Gnade“ (ὁ μισθὸς κατὰ χάριν [ho misthos kata charin]) dem „Lohn nach Schuldigkeit“ (ὁ μισθὸς κατὰ ὀφείλημα [ho misthos kata opheilēma]) gegenübergestellt wird. Damit hat er die richtige Spur gelegt. Er wies bei gleicher Gelegenheit auch auf die beiden verschiedenen Lohn-Auffassungen in Pirqe Abot I, 3.13 einerseits und II, 15.16 andererseits hin.

Maier – Historisch-Theologische Auslegung Neues Testament