Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. (d. h. in ganzer Fülle darzustellen)
Elberfelder 1871 – Matthäus 5:17
Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um das umzustoßen, was Gott in seinem Buch festgelegt hat und was die Propheten immer wieder bestätigt haben. Meine Aufgabe ist nicht, Gottes Willen in Frage zu stellen, sondern ihn ganz und gar zu erfüllen.
Roland Werner – Das Buch – Matthäus 5,17
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz ( – Das Judentum bezeichnete die fünf Mosebücher als „Gesetz“ (Tora = Weisung) und umschrieb das Alte Testament mit „das Gesetz und die Propheten“ (Mt 5,17; 7,12; 22,40). Der Begriff „Gesetz“ konnte aber auch auf das ganze Alte Testament ausgedehnt werden. Seit der Zeit Esras (vgl. Neh 8-10) bestimmte das Mosegesetz das gesamte Leben des jüdischen Volkes und grenzte es streng gegen die übrigen Völker ab. Von besonderer Bedeutung wurden dafür die Gesetze über die → Beschneidung* und den → Sabbat* sowie die Reinheitsvorschriften (→ rein*). Die Frage nach der bleibenden Geltung des Mosegesetzes führte in der Urchristenheit zu ernsten Auseinandersetzungen (Apg 15; Gal 2). – ) und die Weisungen der Propheten ( – (→ Prophetin) (1) Prophetie in Israel: Nach unserem Sprachgebrauch ist ein Prophet jemand, der die Zukunft kennt. Das Wesentliche beim biblischen Prophetentum liegt jedoch nicht in der Zukunftsschau. Der Prophet ist ein Mensch, den Gott (oder der → Geist Gottes) zu seinem Sprecher gemacht hat. Die Propheten verkünden dem Volk Gottes oder einzelnen aus diesem Volk, besonders den führenden Kreisen, was Gott ihnen in einer bestimmten Situation zu sagen hat. Das kann Mahnung, Gerichtsdrohung, aber auch Trost und Ermutigung sein.
In der Frühzeit Israels war das Prophetentum mit ekstatischen Erscheinungen verbunden. Der Geist ergriff vom Propheten Besitz wie eine fremde Macht, die über ihn kam (1Sam 10,5-6. 10-12). Bezeichnend für diese Stufe ist auch, dass die Propheten in der Regel kollektiv auftraten (→ Prophetengemeinschaft). In der Königszeit Israels traten neben dem fortbestehenden Prophetentum der älteren Art Propheten auf, die über diesen Rahmen weit hinauswuchsen. Als Einzelne, die Gott berufen hatte, prangerten sie die herrschenden Zustände an. Sie maßen die Verhältnisse der Gegenwart und das Verhalten der Verantwortlichen am Rechtswillen Gottes, wie er im → Gesetz gegeben war. Ebenso unerbittlich prangerten sie die Entartung des Glaubens (→ Baal) und des Gottesdienstes an. Und sie sahen die nationale Katastrophe kommen, die durch das Verhalten des Volkes und seiner Führer unweigerlich herbeigerufen werden musste (→ Exil). Aber auch die neue Zukunft, die dem Volk danach noch einmal geschenkt werden soll, wird von den Propheten angekündigt. Sie wird geschaut im Bild eines umfassenden Friedens, der auch die anderen Völker umgreift und teilweise mit der Gestalt eines Friedensbringers verknüpft ist (→ Messias). Die Propheten richteten ihre Botschaft in der Regel mündlich aus; erst später wurden ihre Worte (zum Teil von ihnen selbst) aufgeschrieben. Die großen Propheten des 8. bis 6. Jahrhunderts v.Chr. standen oft in heftiger Auseinandersetzung mit dem Berufsprophetentum, das sich sowohl am Jerusalemer → Tempel als auch in Bet-El, dem Reichsheiligtum Nordisraels, herausgebildet hatte. Propheten dieser Art verkündeten in der Regel eher das, was dem Volk, insbesondere dem König, gefiel und was ihnen selbst Gewinn brachte (vgl. 1Kön 20,10-13; Am 7,14). Mit solchen Propheten müssen sich die „echten“ Propheten des Öfteren auseinander setzen (Jes 28,7; Jer 6,13-15; 23,9-32; 28,1-17; Ez 13,1-16). – ) außer Kraft zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um sie außer Kraft zu setzen, sondern um sie zu erfüllen und ihnen volle Geltung zu verschaffen. ( – 3,15; 7,12; 22,40; Röm 3,31 – )
Gute Nachricht Bibel – Matthäus 5:17
Nachdem wir die Verse vor Matthäus 5 uns im Laufe der Zeit angeschaut hatten… – nun zu einem Vers der von manchen „Christen“ gern zum Streitthema mißbraucht wird.
Schauen wir uns einige Bibelkommentare an:
Das sinaitische Gesetz hatte Gott seinem Volk Israel nach dessen Befreiung aus Ägypten gegeben. Mit seinen juristischen, zeremoniellen und moralischen Geboten galt es von Anfang an nur für dieses Volk (5. Mo 4,8; Röm 9,4), genau wie auch der alte Bund nur mit Israel geschlossen wurde. Das wird von Christen oft übersehen.
Remmers – Die Bergpredigt
Das Gesetz vom Sinai war ein von Gott gegebenes System von Forderungen und Verheißungen an sein irdisches Volk. Die Moralgesetze waren sozusagen Gottes Minimalforderungen an natürliche, nicht wiedergeborene Menschen. Die Zeremonialgesetze regelten den Gottesdienst des Volkes und waren zugleich Schatten zukünftiger Dinge, die dann in Christus Wirklichkeit geworden sind (Kol 2,17; Heb 10,1).
Da das Gesetz von Gott kam, war es heilig, gerecht und gut (Röm 7,12). Wenn die Israeliten es hätten halten können, hätte es sie zu Leben und Gerechtigkeit geführt (3. Mo 18,5; 5. Mo 5,25). Aber das war unmöglich, da dem natürlichen Menschen die Kraft fehlt, Gottes Forderungen zu erfüllen. So konnte das Gesetz nur Erkenntnis der Sünde bewirken (Röm 3,20). Es machte die Sünde offenbar, gab aber keine Kraft, sie zu meiden, und führte deshalb zum Fluch und zum Tod, obwohl es zum Leben gegeben worden war (Röm 7,10; 8,3).
Der Herr Jesus nahm am Kreuz den Fluch des Gesetzes auf sich. Dadurch hat Er alle, die unter diesem Fluch standen, losgekauft. Jeder Jude, der an Ihn glaubt, steht daher nicht mehr unter dem Fluch des Gesetzes (Gal 3,13). Dadurch ist er auch frei vom Gesetz, denn Christus ist das Ende des Gesetzes (Röm 6,14; 7,4; 10,4; Gal 3,24.25).
Es ist daher falsch und im Widerspruch zu Gottes offenbartem Willen, wenn Christen sich unter das Gesetz stellen. Allerdings verstehen sie darunter dann meistens nicht das ganze Gesetz einschließlich seiner juristischen und zeremoniellen Vorschriften, sondern nur dessen moralische Vorschriften, d.h. die zehn Gebote. Die Beobachtung der Gebote wird damit begründet, dass der Christ doch nicht töten, stehlen usw. dürfe. Aber wenn jemand von neuem geboren ist, meidet er diese und alle anderen Sünden nicht deshalb, weil er das Gesetz beobachtet, sondern weil er neues Leben empfangen hat, den Heiligen Geist als Kraftquelle und Führer und den Herrn Jesus als Vorbild besitzt.
Dennoch wird in der Christenheit immer wieder gelehrt, das Gesetz sei zwar dem Volk Israel gegeben worden, gelte jedoch für alle Völker und deshalb auch für die Christen, denn Gott wende doch nicht zweierlei Maß auf die Menschheit an. Als Begründung dafür werden außer Mt 5,17–48 Stellen wie 5. Mo 4,5–8; Jes 2,2.3 und Röm 3,19 angeführt, wobei jedoch unter anderem Geschichtliches und Prophetisches miteinander verquickt wird. Zwar ist Gott in seinem Wesen unveränderlich, aber seine Beziehungen zu den Menschen sind nicht zu allen Zeiten und in allen Umständen dieselben.
Auflösen – Erfüllen
In Mt 5,17 redet der Herr Jesus zu Angehörigen des irdischen Volkes Gottes. Seine Jünger und die Scharen von Menschen, die Ihn umringten, waren Juden. Das Reich der Himmel war ja ihnen als den „Söhnen des Reiches“ zugesagt. Deshalb wandte Er sich auch zunächst nur an dieses Volk (Mt 15,24). Dass wir seine Worte auch auf die gegenwärtige Zeit der „Geheimnisse des Reiches der Himmel“ anwenden können, haben wir bei der Betrachtung der Seligpreisungen gesehen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Herr Jesus sich zunächst nur seinem eigenen Volk zuwandte, dem Gott einst am sinai Sein Gesetz gegeben hatte.
„Denkt nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Die Predigt Johannes’ des Täufers, des Vorläufers Christi, und sein Aufruf zur Buße, aber auch die Reden des Herrn Jesus selbst kündigten etwas völlig Neues an. Nur bedeutete das nicht, dass alles Bisherige ungültig geworden wäre. Gesetz und Propheten (das ganze Alte Testament) wurden durch Christus nicht aufgelöst, d.h. für ungültig erklärt (vgl. Joh 10,35). Im Gegenteil, Er war gekommen, um sie zu erfüllen. Mit dem Erfüllen ist nicht nur das Befolgen des Wortes Gottes gemeint, denn dies hätte sich zwar auf das Gesetz, nicht aber auf die Propheten beziehen können. Erfüllen bedeutet hier deshalb bestätigen und zur Erfüllung bringen. Das ganze Alte Testament zeugte von Christus, und Er war dessen Erfüllung (Joh 5,39).
Diese Verse geben schwierige Fragen auf. Jesus sagt: Das Gesetz muß bis ins kleinste beobachtet werden. Jedes Jota und Häkchen muß zur Geltung kommen. Und, wenn einer der Jünger eines der kleinsten Gebote nicht beachten würde und als unwichtig erklären würde, dann soll ein solcher der Kleinste heißen im Himmelreich! Aber der Lehrer und »Erfüller« auch des kleinsten Gebotes wird im Himmelreich groß heißen.
Wuppertaler Studienbibel
Diese Worte im Munde Jesu erscheinen als etwas Unmögliches. Jesus erscheint geradezu als »Freund der Pharisäer«. Man könnte meinen, er sei mit ihnen im Bunde. Denn sie waren ja diejenigen, die das Gesetz bis ins kleinste hin erfüllten!
Und nun fordert der Herr dasselbe?! Das ist undenkbar! Denn ein buchstäbliches Festhalten an den »kleinsten« jüdischen Gesetzesvorschriften wäre doch das genaue Gegenteil von dem gewesen, was der Herr oben in den Seligpreisungen und dann während der ganzen Bergpredigt und darüber hinaus fort und fort gesagt und gelebt hatte.
Wir fragen: Was ist hier mit »Gesetz«, mit »geringsten Geboten« gemeint? Was heißt »erfüllen« usw.?
Wir antworten: Wie Gott seine Verheißungen des AT nicht widerrufen kann, sondern Jesus als das Ja und Amen dieser AT-Verheißungen (2Ko 1,20) gesandt hat, so löst auch Gott sein Gesetz nicht auf, sondern sandte seinen Sohn, um es zu erfüllen. Die AT-Weissagungen gleichen so lange nur einem leeren Gefäß, solange das Geschehen, auf das sie hinweisen, noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Erst durch die Wirklichkeit des NT-Geschehens ist das Gefäß gefüllt. Ebenso wie nun die Weissagungen leer sind ohne die Erfüllung, so ist auch das Gesetz solange leer, solange der ihm geltende ganze Gehorsam nicht geleistet wird. In Jesus Christus ist nun Weissagung und Gesetz erfüllt, das heißt »Wirklichkeit« geworden. Mit anderen Worten: Erfüllen heißt: Durch Taten und Worte dafür einstehen, daß alles geschieht, was Weissagung und Gesetz fordern! Jesu Leben war dieses einzigartige »Geschehen, was Weissagung und Gesetz fordern!« Schlatter sagt: »Bisher blieb Gottes Gesetz übertreten. Nun aber ist der gekommen, der das von Gott Verheißene und Gebotene tut!«
Wir geben Beispiele, um uns die eben herausgestellte Erfüllung des Gesetzes an Jesu Wandel und Leben klarzumachen! Wenn wir auf das Leben des Herrn sehen, dann meinen wir zunächst: Der Herr löst das Gesetz auf!
1. Jesus hält sich nicht an das Sabbatgebot. Vgl. Mt 12,1–14; Mk 2,23–28; Lk 6,1–5; 13,10–17; 14,1–5; Jo 5,9–16; 9,14–16.
2. Jesus Übertritt die Fastengebote: Mt 9,14 und 15; Mk 2,18–20; Lk 5,33.
3. Jesus verstößt gegen die Reinigungsordnungen: Mt 15,1–20; Mk 7,1–23.
Wenn der Herr nun so das Gesetz Übertritt, worin besteht dann aber die Erfüllung des Gesetzes?
Wir antworten: Die Erfüllung des Gesetzes, so wie Jesus es meint, besteht nicht in dem mechanischen äußeren wortwörtlichen Halten der Gebote und all der Zusätze und Nachsätze (Halacha), sondern »die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung!«
Nur an einem Beispiel wollen wir uns die von Jesus gemeinte »Erfüllung« des Gesetzes einmal klarmachen: Das AT-Gebot: »Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst« ist von den Schriftgelehrten so gedeutet worden: Du brauchst nur das Glied deiner Gemeinschaft zu lieben, du Pharisäer nur den Pharisäer usw., denn der Kollege allein ist der Nächste, sonst niemand. Den Zöllner und Sünder und dazu noch den Heiden zu lieben, ist nicht nur nicht erforderlich, sondern sogar gegen Gottes Gebot. – So handelten die Pharisäer.
Jesus sagt: Jedem ist Liebe entgegenzubringen, also auch dem Zöllner, dem Sünder und auch dem Heiden, der ja für den Pharisäer nur Menschenabschaum, Straßenpöbel war. Wenn man einen Heiden tötete, dann würde das jüdische Gericht solch einen Israeliten nicht zur Rechenschaft ziehen, denn dieser Fall ist straflos. Denn »ein Mörder ist nur der, der seinen Volksgenossen tötet!« So hatten die Schriftgelehrten das Gesetz ausgelegt.
Von dieser zeitgeschichtlichen Schau her verstehen wir nun, wenn Jesus sagt, durch ihn solle das Gesetz zu seiner Erfüllung bis aufs Jota und Häkchen gebracht werden. Wenn (um auf das angeführte Beispiel zurückzukommen) jeder Mensch, auch der Feind geliebt wird, sogar mit der Agape-Liebe86 geliebt wird, dann und nur dann kommen das Gesetz und die Propheten zu ihrer Erfüllung, und zwar in ihrem eigentlichen Sinne, bis aufs Jota und Häkchen. »Die Agape-Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.«
Die Verse 17–19 verraten also keineswegs irgendwie eine Bundesgenossenschaft mit den Pharisäern. Sie erklären sich auch nicht als späterer judenchristlicher Zusatz, wie manche Theologen meinen, nein, gerade diese sogenannten »Buchstaben-Worte« des Herrn lassen seine Sendung zutiefst erkennen als den rechten und wahren Erfüller des AT-Gesetzes. Die folgenden Worte der Bergpredigt werden das noch weiterhin beweisen.
Die Jünger des Reiches sollten ein Leben führen, das einen Kontrast bildete nicht nur zu den Methoden und Tätigkeiten des Römischen Reiches, sondern auch zu den religiösen Aktivitäten und Methoden der Pharisäer. Diese Pharisäer hatten das alttestamentliche Gesetz und ihre überlieferten Auslegungen und Anwendungen. Die Auslegungen und Anwendungen des Herrn waren unendlich höher. Seine Jünger mußten das wissen, weshalb der Herr einleitend diese erklärenden Aussagen machte, ehe Er die göttliche Auslegung und Deutung der Forderungen des Gesetzes gab, und von den inneren Beweggründen zum äußerlichen Tun zu reden anfing. Die kalten, harten und starren Methoden der Pharisäer banden den Leuten »schwere und schwer zu tragende Lasten« auf (Matthäus 23,4). Sie machten Gesetze, die das Pflücken von Ähren am Sabbath verboten. Sie bestanden darauf, daß man den Zehnten gab von Minze, Kümmel und Anis (23,23). Sie liebten die Überlieferungen der Ältesten (Mk 7,3). Der Herr faßte das alles zusammen, als Er diese Heuchler schalt, daß sie Menschengebote als Lehren lehrten (Matthäus 15,9). Damit ließen sie die gewichtigeren Dinge des Gesetztes, Barmherzigkeit und Glauben beiseite (23,23). Gott hatte aber bei der Gabe des Gesetzes Barmherzigkeit eingeführt (2Mo 20,6). Solche Selbstzufriedenheit führte dazu, daß sie das Gesetzt brachen und damit Gott entehrten (Röm 2,23). Die Jünger des Reiches mußten höheren Maßstäben als denen von Heuchlern genügen. Die Jünger sollten daher verstehen, daß der Herr, wo Er von V.21 an das Gesetz auslegte, nicht auflöste ( katalyô, bis auf den Grund auflösen oder abbrechen, wie in Matthäus 24,2, wo es vom Tempel gebraucht wird), was Gesetz und Propheten geboten – wiewohl das der pharisäischen Auslegung, mit der sie aufgewachsen waren, so erscheinen muße. Vielmehr kam Er, um zu erfüllen. Besonders in den Dingen, die Ihn betrafen (die Forderung des Gesetzes nach einem Leben der Heiligkeit, die Schattenbilder der Stiftshütte und der Opfer, die prophetische Ankündigung von Seinem Geborenwerden, Leben, Dienen, Sterben, Auferstehen und Wiederkommen in Herrlichkeit), würde Er alles erfüllen.
Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt
Er lehrte aus der unmittelbaren Verbindung mit Gott dem Vater. So musste bei seinen Hörern die bange oder höhnische Frage entstehen, wie er mit der göttlichen Offenbarung verfahre: ob er sie genügend kenne und zur Geltung bringe? Lukas 4,22 lässt uns in diese Situation hineinblicken. Ein dritter Grund deutet sich in Mt 5, 20 an. Dort spricht Jesus davon, dass die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht ausreiche. Dan er dies in Verbindung mit Mt 5, 19 ausführt, können wir schließen, dass er die Ermäßigung des Gesetzes bei den Schriftgelehrten tadelt. Und in der Tat haben die Pharisäer versucht, das Gesetz immer wieder dem Leben anzupassen und so fast unversehens die Hoheit und Heiligkeit der göttlichen Gebote herabgesetzt. Im Gegensatz dazu geschieht bei Jesus und Paulus das, was letzterer so formuliert: »Wir richten das Gesetz auf!« (Röm 3,31). Jesu mahnendes und warnendes »Denkt nicht« will eine grundsätzliche Klarstellung anbahnen.
Edition C
Was will er ausschließen? Die Meinung, »dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen«. Der Ausdruck »ich bin gekommen« bzw. »er ist gekommen« ist im NT eine feierliche Wendung. Sie wird von dem gebraucht, der in Erfüllung eines göttlichen Auftrags lebt und handelt. Dieses »Gekommensein« ist gewissermaßen die Kehrseite des göttlichen »Ich habe gesandt«. Der Gesandte Gottes ist der »Gekommene«. Es ist sehr interessant, dass wiederum Matthäus und Johannes die beiden Evangelisten sind, die diesen Wortgebrauch am häufigsten vorweisen. Bei Matthäus liegt hier in Mt 5,17 erstmals dieses »Ich bin gekommen« vor. Doch war es schon in Mt 3,11 vorbereitet: »Der nach mir kommt, ist stärker als ich.« »Gesetz und Propheten« bezeichnen das ganze AT. Dazu muss man wissen, dass die Juden die »Propheten« von Josua bis Maleachi zählten. Sie unterschieden hierbei die »vorderen Propheten« von Josua bis 2. Samuel und die »späteren Propheten« von Jesaja bis Maleachi. Wollte man sich genauer ausdrücken, dann nannte man neben Gesetz und Propheten noch die sog. »Schriften«, hebräisch Ketubim, wozu folgende Bücher gehören: Psalmen, Hiob, Sprüche, Ruth, Hoheslied, Prediger, Klagelieder, Esther, Daniel, Esra, Nehemia, Chronikbücher, also im Allgemeinen die Bücher, die wir heute »Weisheitsbücher« nennen.
Nach dem heutigen Sprachgebrauch könnte man durchaus übersetzen: »Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, um das Alte Testament aufzulösen.« Welches Alte Testament lag damals Jesus vor? Antwort: Dasselbe, das heute die Lutherbibel bietet. Die Möglichkeit besteht, dass er die griechische Bibel kannte, die ja zusätzlich diejenigen Bücher enthielt, die wir »Apokryphen« nennen. Aber hier ist kein Beweis zu führen. Dagegen steht dies außer Frage: Die hebräische Bibel in dem Umfang, der heute dem AT der Lutherbibel entspricht, wird von Jesus als etwas geschätzt, was er nicht »auflösen« darf und will. Das griechische Wort für das »auflösen« des Luthertextes kann heißen: niederreißen, zerstören, beendigen, aufheben, abschaffen, stürzen, entlassen, verabschieden. Sinngemäß müsste man von einem »Aufheben« reden. Wie kann man das AT aufheben? Entweder durch Verneinung seiner Autorität oder durch falsches Verständnis. Beides ist dem Judentum bekannt. Die von der griechischen Philosophie beeinflussten Juden etwa zur Zeit der Makkabäer bestritten die Autorität des AT (vgl. 1 Makk 1,12ff.); 2.Makk 4,7ff.). Vom verschiedenen Gesetzesverständnis der jüdischen Parteien sprachen wir schon. Nach beiden Seiten zieht Jesus die Trennungslinie: Ich hebe nicht auf. Die göttliche Autorität des AT ist von ihm stets unterstrichen worden.
Nun erklärt er sich positiv. »Ich bin gekommen, um zu erfüllen.« Diese Angabe hat eine überraschende Tiefe und Weite. Schon nach der natürlichen Logik erwarten wir als Entsprechung zu »aufheben« ein »bestätigen« oder »festhalten«. Jesus geht aber darüber hinaus. Er sagt hier auch mehr als beispielsweise Paulus in Röm 3,31: »Wir richten das Gesetz auf.« Schließlich geht Jesus auch über Jer 31,33 hinaus, wo im Blick auf das neue Bundesvolk verheißen ist: »Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben.«
Nein, Jesus will »erfüllen«. Wie typisch dieses Wort für ihn ist, zeigen u. a. Mt 3,15; Lk 4,21; Röm 8,4 . Im »Erfüllen« liegt ein doppeltes »Vollmachen«:
a) Jesus zeigt uns das volle Maß des Gotteswillens ohne Einschränkung und Verfälschung,
b) Jesus wird diesem Gotteswillen in seinem ganzen Leben ohne Einschränkung gerecht. Er »erfüllt« in Lehre – und Leben! Dazu hat ihn Gott gesandt. In ihm hat das AT sein gottgesetztes Ziel erreicht: ein Gedanke, der in Röm 10,4 von Paulus klassisch formuliert wurde. Er hat, wie er selbst bei der Jordantaufe sagte (Mt 3,15) »alle Gerechtigkeit erfüllt«, d. h., kein Verlangen Gottes blieb unbefriedigt.
Es erhebt sich hier schon die Frage, ob überhaupt jemand außer Jesus imstande war oder ist, das AT zu erfüllen. Die Berglehre selbst wird uns zu dem Punkt führen, wo uns nur noch das Nein auf diese Frage bleibt. Von daher rückt die Bedeutung des sühnenden Sterbens immer mehr ins Licht. Die Worte vom Berg stehen in geheimer Verbindung mit dem Totenhügel von Golgatha.
Der Sinaibund, der das Leben miteinander und mit Gott regelte, wurde von Jesus nicht außer Kraft gesetzt, sondern erfüllt (Mt. 5,17). Das heißt, die Forderungen des sinaitischen Bundes erkannte Jesus als völlig berechtigt an. Am Leben Jesu ist zu sehen, was es bedeutete nach diesem Bund zu leben. Jesus ist aber nicht nur der wahre Israelit, der sich an das Gesetz hielt. Sondern weil er das Gesetz erfüllt hat, ist er zugleich des Gesetzes Ende (Röm. 10,1). Auch wenn in diesem Sinn der Sinaibund seine Verbindlichkeit für Christen verloren hat, ist es doch wichtig, diesen Bund zu kennen. Denn er ist unerlässlich für das Verständnis der religiösen Kommunität Israels und für die Botschaft der Propheten, da sie das Volk und die verschiedenen Führungsschichten in Israel in ihren Botschaften ständig anhand der Bundessatzungen beurteilten und anklagten. Die Propheten mahnten aber nicht nur die Verfehlungen des Volkes an, sondern sagten auch eine herrliche Zukunft für diejenigen im Volk voraus, die am Ende der Zeiten von ihren Übertretungen umkehren würden. Dabei spielte der Herrscher oder der Hirte aus dem Hause Davids eine sehr wichtige Rolle (Hes. 34,23; 37,24). Deshalb soll jetzt der davidische Bund betrachtet werden.
Edition C – Bünde im Alten Vorderen Orient und im Alten Testament
Vers 17 verdeutlicht die Absicht des Messias in Bezug auf das mosaische Gesetz: Denkt nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen: Ich bin nicht gekommen, um es aufzulösen, sondern um es zu erfüllen.“ Dieser Vers wird oft benutzt, um zu behaupten, dass das mosaische Gesetz immer noch in Kraft ist, und alle Passagen in den Briefen, die lehren, dass es mit dem Tod des Messias endete, werden ignoriert. Als Jeschua die in Vers 17 aufgezeichneten Worte sprach, war das mosaische Gesetz in vollem Umfang in Kraft. Es endete nicht mit seinem Kommen, sondern mit seinem Tod, der die Herrschaft des Gesetzes beendete. Bis zu Jeschuas Tod waren alle 613 Gebote verbindlich. Im Kontext Seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum Seiner Zeit wies Jeschua darauf hin, dass die Pharisäer das Gesetz im Wesentlichen zerstört hatten, indem sie es in der Mischna uminterpretierten. Sein Ziel war es jedoch, das Gesetz so zu erfüllen, wie es geschrieben stand, nicht wie es umgedeutet worden war.
Arnold Fruchtenbaum – Jeschua – Das Leben des Messias aus einer messianisch-jüdischen Perspektive
Eine Aussage im Talmud zitiert Jeschua mit den Worten: „Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz des Mose zu zerstören, noch [Fußnote: Var. lec.: sondern; . . .] um dem Gesetz des Mose etwas hinzuzufügen [Fußnote: Vgl. Matthäus V, 17 ff.].“ Das Hinzufügen war die Praxis der Pharisäer; Jeschua hatte jedoch die Absicht, das Gesetz so zu halten, wie es geschrieben war.
Diejenigen, die Matthäus 5,17 benutzen, um zu lehren, dass das Gesetz immer noch in Kraft ist, sind niemals konsequent, weil sie auch lehren, dass die große Mehrheit der 613 Gebote nicht anwendbar ist. Allerdings war Jeschua der einzige Jude, der das mosaische Gesetz jemals perfekt gehalten hat, insofern die 613 Gebote auf ihn zutrafen:
Diese sechs Beispiele zeigen, dass Jesus das Gesetz nicht ablehnt, sondern es intensiviert. Er zeigt, wie er gekommen ist, um es zu erfüllen. Er fordert uns nicht nur auf, das Gesetz vom Standpunkt des Herzens aus zu betrachten (Mord-Gefahr; Ehebruch-Lust), sondern er bittet auch um Integrität und Großzügigkeit, die Barmherzigkeit und Liebe gegenüber allen widerspiegeln (Ehegelübde, Eide, Verzicht auf Vergeltung, Feindesliebe). Auf diese Weise zu leben bedeutet, Beziehungen zu pflegen, wie es der Vater tut, und allen zu zeigen, dass wir seine Kinder sind und seinen Charakter widerspiegeln.
Die eindeutige Lehre des Neuen Testaments ist, dass das Gesetz des Mose mit dem Tod des Messias unwirksam geworden ist. Mit anderen Worten, das Gesetz – in seiner Gesamtheit – hat keine Autorität mehr über ein Individuum. Ein beliebter Einwand gegen diese Ansicht stützt sich auf Jeschuas Aussage in Matthäus 5,17-18. Weil das Thema für unsere Schriftauslegung von größter Bedeutung ist, müssen wir einige Punkte wiederholen.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass viele Theologen, die sich auf Matthäus 5,17-18 berufen, um zu beweisen, dass das Gesetz des Mose auch heute noch auf Gläubige anwendbar ist, nur selten konsequent sind. Sie verstehen, dass viele, wenn nicht die meisten der Gebote mit dem Tod des Messias außer Kraft gesetzt wurden. Die Gebote bezüglich des Priestertums und des Opfers sind nur zwei Beispiele, und andere wurden bereits angeführt. Unabhängig davon, welche Semantik verwendet werden mag, um diese Veränderung zu beschreiben („ersetzen“, „zu größerer Erfüllung gebracht“, „seine wahre Bedeutung herausbringen“, usw.), ist es klar, daß sehr viele der 613 Gebote nicht mehr gelten, wie sie geschrieben wurden. Um ihren Standpunkt zu beweisen, teilen viele Theologen das Gesetz des Mose in drei Arten ein: das moralische, das zivile und das zeremonielle. Sie argumentieren, dass das moralische Gesetz, das in den Zehn Geboten zusammengefasst ist, in unser Gewissen eingeschrieben ist und daher niemals außer Kraft gesetzt wurde. Wenn sie also vom Gesetz des Mose sprechen, behaupten diese Theologen, dass sie sich nur auf diesen Teil des Gesetzes beziehen. Ihr Zitat aus Matthäus 5,17-18 beweist jedoch nicht ihren Standpunkt, da Vers 19 diese geringsten Gebote hinzufügt. Diese Formulierung schließt eindeutig mehr als die moralischen Gebote ein, und die Betonung liegt auf dem gesamten Gesetz, allen 613 Geboten.
Jeschua kam, um das Gesetz zu erfüllen; aber das Gesetz des Mose endete nicht mit dem Kommen des Messias oder durch sein Leben, sondern durch seinen Tod. Solange Jeschua lebte, stand Er unter dem mosaischen Gesetz und musste jedes für Ihn geltende Gebot erfüllen und befolgen. Die Aussage von Matthäus 5,17-19 (Vers 19 darf nicht ignoriert werden) wurde gemacht, während Er auf dieser Erde wandelte, und solange Er lebte, musste Er das Gesetz in jeder Weise befolgen, die Mose geboten hatte, und nicht in der Weise, wie die Rabbiner es umgedeutet hatten. Außerdem deutete Er schon vor Seinem Tod und Seiner Auferstehung an, dass das Gesetz eines Tages außer Kraft gesetzt werden würde. Ein Beispiel, das diesen Punkt beweist, ist Markus 7,19: „Dies sagte er und machte alles Fleisch rein. Kann es noch deutlicher ausgedrückt werden, dass zumindest die Speisegebote abgeschafft sind? Auch hier muss jeder Theologe zugeben, dass große Teile des Gesetzes nicht mehr in der von Mose vorgeschriebenen Weise gelten. Zu behaupten, dass das Gesetz des Mose immer noch in Kraft ist, während man die Details desselben Gesetzes ignoriert, ist inkonsequent und ein theologischer Irrtum.
Was das Wort „erfüllen“ in Matthäus 5,17 betrifft, so sind einige zusätzliche Aussagen angebracht, um die Bedeutung des Verbs richtig zu analysieren. Der griechische Begriff „pléroó“, der „voll machen“, „vollenden“ bedeutet, wird von Matthäus durchgängig in Bezug darauf verwendet, dass eine Prophezeiung zu einem Ende gebracht wird, indem sie erfüllt wird. Zum Beispiel heißt es in Matthäus 1,22-23, dass die Prophezeiung von Jesaja 7,14 erfüllt wurde, dass dies die Prophezeiung zu einem Ende brachte, und dass daher nichts in der Zukunft sie erfüllen wird. „Erfüllen“ bedeutete, das zu erfüllen, was die Prophezeiung forderte, während „aufheben“ (auch in diesem Vers) bedeutete, sie nicht zu erfüllen. Die grundlegende Bedeutung von Matthäus 5:17 wird von Toussaint erklärt:
Das Verb „erfüllen“ hat hier die gleiche Bedeutung wie in Matthäus 2,15, wo es bedeutet, vollständig zu etablieren. Anstatt das Gesetz oder die Propheten zu zerstören, richtet Er sie auf. Das tat er, indem er (1) sein Leben perfekt an ihre hohen Standards anpasste und (2) ihre wahre Bedeutung aus den Feinheiten ihrer rabbinischen Auslegung herausholte.
Dr. Robert Lightner, emeritierter Professor für Systematische Theologie am Dallas Theological Seminary, kommentiert:
Die Tatsache, dass Jesus sagte: „Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten abzuschaffen“, deutet an, dass er wusste, dass die Gefahr eines solchen Denkens und sogar einer Anschuldigung von Seiten einiger besteht. Er wusste, was die Pharisäer aufgrund seiner Lehre und seines Werkes über ihn sagen würden. Schließlich beanspruchte Jesus für sich selbst die Autorität Gottes. Das ist der Hintergrund der Lehre Christi in Matthäus 5,17-19.
Anstatt zu verwenden. Matthäus 5,17-19 zu argumentieren, dass das mosaische Gesetz heute noch als Lebensregel gilt, ist es besser, die Worte Christi als Lehre von der Irrtumslosigkeit der Schrift zu verstehen. In den Versen 17-19 hat Christus die Beziehung von sich selbst und seiner Lehre zum Gesetz zusammengefasst. Er hat eindeutig behauptet, derjenige zu sein, der gekommen ist, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, nicht um sie zu zerstören (5,17). Außerdem erklärt Er mit Nachdruck, dass das ganze Gesetz in seiner Gesamtheit so sicher erfüllt ist wie die Gewissheit, dass Himmel und Erde Bestand haben (5,18). Bevor Er auslegt, macht Er deutlich, dass das, was Er lehren wird, in absoluter Übereinstimmung mit dem Alten Testament steht. Nach seinem eigenen Zeugnis ist er gekommen, um zu erfüllen, denn nicht ein Jota oder Tittle wird vom Gesetz vergehen, bis alles vollendet ist. Er ist nicht gekommen, um auch nur den kleinsten Teil der Lehre des Gesetzes oder der Propheten zu zerstören oder ungültig zu machen. Nach seiner Einschätzung ist das, was als das kleinste Gebot erscheinen mag, von gleicher Autorität wie das, was als das größte angesehen werden kann (5,19).
In ähnlicher Weise gelang es Matthäus, die Lehre Jesu über das Gesetz so darzustellen, dass deutlich wurde, dass Jesus sich nur gegen die mündliche Überlieferung wandte und nicht die Absicht hatte, das Gesetz selbst außer Kraft zu setzen. So steht 5,17-20 an der Spitze des Abschnitts mit den Antithesen in der Bergpredigt und gibt damit zweifellos an, wie Matthäus die Antithesen interpretieren wollte: Jesus gab eine tiefere Auslegung des Gesetzes und stellte diese der mündlichen Überlieferung gegenüber, die die Rabbiner als die maßgebliche Auslegung des Gesetzes akzeptierten. Man beachte auch, wie wirkungsvoll Matthäus‘ Umformulierung von Markus 7 ist. Nach Markus 7,15 hatte Jesus gesagt: „Nichts, was von außen kommt, kann den Menschen verunreinigen“, und Markus zieht daraus die offensichtliche Konsequenz: „So erklärte er alle Speisen für rein“ (Markus 7,19). Matthäus weicht jedoch gerade in diesen beiden entscheidenden Punkten völlig von der Markus-Version ab. Er lässt die beiden Schlüsselsätze von Markus weg; er ist nicht bereit, Jesus bekräftigen zu lassen, dass das Gesetz über unreine Speisen nicht mehr gilt. Und er fügt Material hinzu (15:12-14, 20b) und lenkt so die Kraft der Lehre Jesu zurück auf das Thema des Händewaschens, das in der rabbinischen mündlichen Überlieferung vermutlich bereits eine zunehmende Bedeutung erlangte (was zu dem Mischna-Traktat Yadaim, „Hände“, führte).
Ronald L. Eisenberg – Der JPS-Führer zu jüdischen Traditionen
Die alternative Art, das Gesetz zu interpretieren, wird von Matthäus im Sinne der Liebe dargestellt. In einer Art und Weise, die nur teilweise in den anderen Evangelien vorkommt, greift Matthäus auf die Lehre Jesu zurück, um seine Überzeugung zu unterstreichen, dass das Gebot der Liebe das Herz und die Essenz des Gesetzes ist, im Gegensatz zu der eher typischen rabbinischen Skrupellosigkeit (5,43-48; 7,12; 22,34-40). Nicht zuletzt sah er offensichtlich Jesu eigenes Wirken als Ausdruck dieser Auslegung, als Beispiel dafür, wie das Gesetz befolgt werden sollte, interpretiert durch die Liebe (12:1-8, 9-14; 18:12-35). Man beachte besonders die wiederholte Berufung auf Hos. 6,6 in 9,13 und 12,7, der in beiden Fällen die prophetische Kritik an einer oberflächlichen Gesetzesbefolgung gegen die Pharisäer richtet – Jesus als Höhepunkt der prophetischen Auslegung des Gesetzes. Dies ist vermutlich der Hinweis auf Matthäus‘ Verständnis von 5,17 („Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern um sie zu erfüllen“): Durch seinen Dienst der Liebe hat Jesus das Gesetz „erfüllt“, d.h. es zur vollen Entfaltung gebracht, es vollständig verwirklicht. Und so wird Jesus in seinem Dienst und seiner Lehre zum Vorbild für die Christen in ihrem eigenen Verständnis des Gesetzes und in ihrem Gehorsam gegenüber dem exklusiven rabbinischen Anspruch darauf, einer Gerechtigkeit, die der des Rabbiners und seiner Schüler überlegen ist (5,20).
Wir können die Haltung Jesu gegenüber dem Judentum als eine Haltung der Kontinuität und der Diskontinuität zusammenfassen. Die Kontinuität besteht darin, dass Jesus seine Lehre und seinen Dienst offensichtlich als aus dem Herzen des jüdischen Religionsverständnisses kommend betrachtete; auf dieser Grundlage wollte er eine Erneuerung von innen heraus einleiten und eine endgültige Auslegung des Wortes Gottes anbieten. Auch wenn wir nicht feststellen können, ob der Ausdruck tatsächlich von Jesus selbst stammt, sehen wir dieses Verständnis in der Aussage in Matthäus 5,17 widergespiegelt: „Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz und die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, um sie aufzulösen, sondern um sie zu erfüllen.“Doch es gibt auch eine Diskontinuität. In Jesus wurde etwas Neues und Endgültiges verkündet. Die Gleichnisse in Markus 2,21-22 charakterisieren diesen Aspekt der Mission Jesu: „Niemand näht einen Flicken aus ungekämmtem Stoff auf ein altes Gewand; wenn er das tut, reißt der Flicken davon, das Neue vom Alten, und es entsteht ein schlimmerer Riss. Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; tut er es, so zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; neuer Wein aber ist für frische Schläuche.“ Jesus machte sich nicht daran, das Judentum zu zerstören oder durch eine andere Religion zu ersetzen; er wollte es von innen heraus erneuern. Außerdem, und das ist wichtig, können wir Jesu Mission nur dann richtig verstehen, wenn wir seine Bemühungen im Licht anderer jüdischer Erneuerungsbemühungen, wie denen der Pharisäer und der Essener, sehen.
Frederick J. Cwiekowski – Die Anfänge der Kirche
Doch es gibt auch eine Diskontinuität. In Jesus wurde etwas Neues und Endgültiges verkündet. Die Gleichnisse in Markus 2,21-22 charakterisieren diesen Aspekt der Mission Jesu: „Niemand näht einen Flicken aus ungekämmtem Stoff auf ein altes Gewand; wenn er das tut, reißt der Flicken davon, das Neue vom Alten, und es entsteht ein schlimmerer Riss. Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; tut er es, so zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; neuer Wein aber ist für frische Schläuche.“ Jesus machte sich nicht daran, das Judentum zu zerstören oder durch eine andere Religion zu ersetzen; er wollte es von innen heraus erneuern. Außerdem, und das ist wichtig, können wir Jesu Mission nur dann richtig verstehen, wenn wir seine Bemühungen im Licht anderer jüdischer Erneuerungsbemühungen, wie denen der Pharisäer und der Essener, sehen.
Es ist klar, dass Paulus, wie Jesus, niemals als Ersatz für Gottes ewiges Gesetz verstanden werden wollte (siehe Matthäus 5,17-20 und Römer 3,31). Ebenso klar ist, dass es Paulus sehr am Herzen lag, dass seine heidnischen Konvertiten weder nach dem Gesetz leben noch durch das Gesetz, das Gott den Juden als Bund gegeben hatte, das Heil erlangen mussten (siehe 1. Korinther 7,17-20).
Dr. Ron Moseley – Yeshua – Ein Wegweiser zum wahren Jesus und der ursprünglichen Kirche
Jesus unterwies seine Jünger oft im Geist des Gesetzes, der eigentlich über den bloßen Buchstaben des Gesetzes hinausgeht. Beispiele dafür sind seine Warnungen, dass ein verheirateter Mann, der in seinem Herzen eine Frau begehrt, sich bereits des Ehebruchs schuldig gemacht hat, und dass jeder, der einen Bruder einen Narren nennt, sich der Gefahr des Höllenfeuers aussetzt (siehe Matthäus 5,19-30). Diese Lehren gehen weit über alles hinaus, was das Gesetz je gesagt hat.
Manche mögen sich fragen: „Was wollte Paulus, als er lehrte, dass der Buchstabe des Gesetzes tötet?“ (siehe 2. Korinther 3,6). Erstens meinte er nicht, dass das Gesetz Gottes böse ist und die Menschen in die Knechtschaft führt, wie manche meinen. Paulus hielt das Gesetz Gottes und ermutigte die Juden überall, das Gleiche zu tun (siehe 1. Korinther 7,18). Wir sollten jedoch bedenken, dass diese Aussage an die Heiden in Korinth und nicht an die jüdischen Gläubigen geschrieben wurde. Selbst die besten Eigenschaften des Gesetzes Gottes wurden immer als „Dienst des Todes“ für diejenigen bezeichnet, die in Sünde sind, denn die eigentliche Absicht des Gesetzes ist es, die Sünde aufzudecken und zu definieren. Wenn die heidnischen Konvertiten versucht hätten, den jüdischen Lebensstil ohne den gottesfürchtigen und disziplinierten Hintergrund einzuhalten, hätten sie sich einer Last ausgesetzt, die weder notwendig noch wünschenswert war.
In diesem Zusammenhang schrieb Paulus: „Der Buchstabe des Gesetzes tötet“, aber er fuhr fort zu betonen, dass „der Geist des Gesetzes Leben gibt“. Es ging ihm um die Errettung der Heiden, und in dieser Frage ist der Buchstabe des Gesetzes der Tod, denn nur durch den Geist kann Leben entstehen. Die Zusammenfassung von Paulus‘ Ansicht findet sich in seiner Aussage an die Römer: „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. …damit die Gerechtigkeit des Gesetzes in uns erfüllt werde, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln.“ (Römer 8:2, 4).
Dem Gesetz nicht zu gehorchen, war nach Ansicht der jüdischen Schriftgelehrten gleichbedeutend damit, es »aufzulösen« (vgl. 5.Mose 27,26 ), weil man damit seine Vollmacht leugnete. Eine so umfassende, anmaßende Auflehnung gegen das Gesetz hatte – im Gegensatz zum Begehen einzelner Sünden – zwangsläufig den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft zur Folge. Noch schwerwiegender aber war der Vorwurf, dem Volk öffentlich einreden zu wollen, dass das Gesetz nicht mehr in Kraft sei. Dabei wandte sich Jesus gar nicht gegen das Gesetz, nur gegen eine falsche Auslegung des Gesetzes, die den Regeln und Formen größeres Gewicht beimaß als dem eigentlichen Inhalt.
Craig Keener – Kommentar zum Umfeld des Neuen Testaments
καταλύειν auflösen = aufheben, für ungültig erklären, würde hebräisch wohl mit בִּטֵּל, aramäisch mit בַּטֵּל wiederzugeben sein; s. pMeg 1, 70d, 51 u. Pesiq 79a bei 5, 18 S. 246. — MQ 16b: Was bedeutet 2 Sm 23, 3? R. Abbahu (um 300) hat gesagt: So ist es gemeint: Gesagt hat zu mir der Gott Israels, gesprochen der Fels Israels: Ich herrsche über den Menschen, wer herrscht über mich? Der Gerechte; denn ich setze einen Beschluß fest u. er (der Gerechte) hebt ihn auf מבטלה. ‖ pTaʿan 3, 67a, 13: Hebt nicht Gott seinen Beschluß auf מבטל wegen des Beschlusses eines Gerechten? (Rabban Gamliël, um 90) antwortete: Ja, Gott hebt seinen Beschluß auf wegen des Beschlusses eines Gerechten; aber nicht hebt Gott den Beschluß eines Gerechten auf wegen des Beschlusses eines andren Gerechten.
Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch
πληροῦν erfüllen = zur Erfüllung bringen; vgl. die bei Mt so häufige Wendung: ἵνα πληρωθῇ damit erfüllet würde, was geschrieben steht oder was gesagt ist. Nur daß es sich Mt 5, 17 um ein Erfüllen in absoluter Weise handelt, um ein Erfüllen, das, wie die folgende Auslegung einzelner Gebote zeigt, nicht in der buchstäbl. Ausführung des Gesetzes aufgeht, sondern das Gesetz nach der ganzen Tiefe seines ethischen Gehalts zur Verwirklichung bringt. Ein solches Erfüllen hat die Erkenntnis der ethischen Bedeutung u. Tragweite der einzelnen Gebote zur Voraussetzung. / Sie zu vermitteln ist der Zweck der mit Vers 21 anhebenden Gesetzesauslegung. — Jesus wird statt πληροῦν קַיֵּם gesagt haben, dessen Gegensatz das oben für καταλύειν vermutete בטל zB Aboth 4, 9 bildet: R. Jonathan (um 140) pflegte zu sagen: Wer die Tora in Armut erfüllt מְקַיֵּם, wird sie schließlich in Reichtum erfüllen לְקַיְּמָהּ; wer sie aber in Reichtum vernachlässigt מְבַטֵּל (hinschwinden macht, beseitigt), wird sie schließlich in Armut vernachlässigen לְבַטְּלָהּ.
Mt 5, 17 u. Schabbath 116a.
Mt 5, 17 gehört zu den wenigen neutestl. Stellen, auf die in der rabbin. Literatur ausdrücklich Bezug genommen wird. Schab 116a: Imma Schalom war die Frau des R. Eliʿezer (um 90), die Schwester des Rabban Gamliël II. In seiner Nachbarschaft war ein (christlicher) Philosoph, der in dem Rufe stand, keine Bestechung anzunehmen. Sie wollten ihn lächerlich machen. Imma Schalom brachte ihm einen goldenen Leuchter. Sie traten vor ihn hin; sie sprach zu ihm: Ich wünsche, daß mir von dem Vermögen meines elterlichen Hauses mein Anteil werde. Er antwortete ihnen: Teilet. R. Gamliël sagte: Für uns steht geschrieben: An Stelle des Sohnes (d. h. da, wo ein Sohn ist) soll die Tochter nicht erben (vgl. Nu 27, 8). Der Philosoph erwiderte: Seit dem Tage, da ihr aus eurem Lande in die Verbannung getrieben seid, ist die Tora Moses aufgehoben u. das Evangelium1 gegeben, u. in ihm steht geschrieben: „Sohn u. Tochter sollen gemeinsam erben.“ (Eine solche Stelle gibt es im NT nicht; vgl. Lk 12, 14.) Am folgenden Tage brachte Rabban G. ihm einen libyschen1 Esel. Da antwortete er: Ich habe weiter unten im Evangelium nachgesehen, u. da steht geschrieben: Ich, Evangelium [dies Wort wohl eine alte Glosse], bin nicht gekommen, um von der Tora Moses wegzunehmen, sondern um ihr hinzuzufügen,2 bin ich gekommen. Und es ist in ihm (dem Ev.) geschrieben: „An Stelle des Sohnes soll die Tochter nicht erben“ (dabei muß es also bleiben; denn die Tora ist durch das Evangelium nicht gekürzt worden). Da sprach Imma Schalom zu ihm: Möge dein Licht leuchten3 wie der Leuchter! Rabban Gamliël aber sagte: Der Esel ist gekommen u. hat den Leuchter niedergetreten. — Das Wort vom Esel, der den Leuchter niedertritt, hat später sprichwörtlichen Charakter, s. pJoma 1, 38c, 46; SNu 25, 12 § 131 (48b); Pesiq 123a; 177a; LvR 21 (120c).
Die Ersatztheologie geht ebenfalls davon aus, dass Jeschua bei seinem ersten Kommen die Tora erfüllte, so dass wir dies nicht tun müssen (die Logik, die zu dieser Schlussfolgerung führt, ist unklar); und dass er alle alttestamentlichen Prophezeiungen erfüllte, so dass wiederum keine für die Juden übrig bleibt.
David H. Stern – Das Judentum des Evangeliums wiederherstellen – Eine Botschaft für Christen
Aber das Wort, das gewöhnlich mit „erfüllen“ übersetzt wird, griechisch pleroô, vermittelt nicht unbedingt diesen speziellen Sinn. Vielmehr ist es ein sehr gebräuchliches Wort, das einfach „füllen“, „auffüllen“, „voll machen“ bedeutet, wie beim Füllen eines Bechers oder eines Lochs. Es sollte klar sein, dass die eigentliche Bedeutung so ist, wie sie im jüdischen Neuen Testament wiedergegeben wird: „Denkt nicht, dass ich gekommen bin, um die Tora oder die Propheten abzuschaffen. Ich bin nicht gekommen, um sie abzuschaffen, sondern um sie zu vervollständigen“ – das heißt, um die Bedeutung dessen, was die Tora und die ethischen Forderungen der Propheten verlangen, zu „vervollständigen“. In der Tat gibt dieser Vers, so verstanden, das Thema der gesamten Bergpredigt an, in der der Messias sechsmal sagt: „Ihr habt von alters her“ den unvollständigen Sinn oder eine Verzerrung gehört, „ich aber sage euch“ den vollständigen, vollen geistigen Sinn, der verstanden und befolgt werden muss.
Wie in 2. Korinther 1,20 erfüllt Jeschua die Vorhersagen der Propheten; ebenso hat er die Tora perfekt gehalten. Aber das ist nicht das, wovon Jeschua hier in der Bergpredigt spricht. Er wird in der Tat jede unerfüllte Prophezeiung über sich selbst erfüllen, und er wird auch das Mittel sein, durch das Gott, der Vater, jede noch unerfüllte Prophezeiung über die Juden in Erfüllung gehen lassen wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verheißungen der hebräischen Bibel an die Juden nicht dadurch aufgehoben werden, dass sie „in Jeschua erfüllt“ werden. Vielmehr ist die Erfüllung in Jeschua eine zusätzliche Gewissheit, dass das, was Gott den Juden versprochen hat, auch in Erfüllung gehen wird. „Denn die Gaben und der Ruf Gottes sind unwiderruflich“
Sehr sehr viele „Christen“ die behaupten, dass sie selbst das Gesetz des Mose noch einhalten wollten, haben nur wenig von den Gesetzen des Mose gelesen. Meine Erfahrung ist, dass man sich bei dem „Streitthema“ auf Sabbath und Fleischgenuß begrenzt, aber nicht die Kleiderordnung und Opfergesetze einhalten will. Man will auch nichts all den anderen Gesetzen des Mose wissen – aber streitet mit anderen Christen, weil sie den Sabbath nicht einhalten wollen. Wer von diesen Christen bläßt aber am Neumond das Horn?
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