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Free Books: The Challenge of Jesus‘ Parables and Revelation (Interpretation | INT)



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Ein deurtsches Buch als „kostenloses Buch des Monats“ Mit Gott auf dem Weg
by J. C. Ryle –

Ryle zeigt in diesem Buch, wie wichtig ein echter, von Gott gewirkter Glaube ist, der nicht aus oberflächlicher Religiosität besteht, sondern aus einem Leben in Gemeinschaft mit Gott. Das Buch enthält Themen, wie das Gebet, das Wort Gottes, wahre Frömmigkeit, Erwählung und das ewige Leben.

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Schickst die weg, die uns nerven!

Gepriesen sei der Herr! Tag für Tag trägt er unsere Last; (Eig trägt er Last für uns) Gott (El) ist unsere Rettung.
Elberfelder 1871 – Psalm 68:20

Gesegnet mein Herr!
Tagtäglich lädt er sichs für uns auf,
die Gottheit ist unsre Befreiung!
Buber & Rosenzweig – Psalm 68,20

Gesegnet sei Jehova, der täglich die Last für uns trägt,
Der [wahre] Gott unserer Rettung.
neue Welt Übersetzung – Bi12 – Ps 68,19

Nun unterbricht der Psalmist die Beschreibung der Prozession, um zu loben: „Gelobt sei der Herr“ (בָּרוּךְ אֲדֹנָי; s.v. Ps. 5:12). Und der Grund für diese Lobpreisung ist, dass „er Tag für Tag unsere Last (יַעֲמָס) trägt, nämlich der Gott, der unser Heil ist.“ Dies ist eine Beschreibung der Fürsorge, die der Herr seinem Volk zukommen lässt, das er erlöst hat und für das er da ist. Alles, was auf dem Marsch nach Zion geschah, diente ihrem Wohl; es war alles Teil seines Erlösungswerkes.

Die Aussage, dass Gott ihre Rettung ist, veranlasste den Psalmisten, seine großen Heilstaten mit Lob zu beschreiben. Er sagt: „Unser Gott ist ein Gott der Heilstaten“. Zu dieser Erklärung fügt er hinzu, dass der HERR das Mittel zur Flucht (תּוֹצָאוֹת von יָצָא, „hinausgehen“) aus dem Tod besitzt („zu Jahwe, dem Herrn, gehört“). Der Herr hat Israel aus der Knechtschaft geführt, hat es durch die Wüste und die Eroberung bewahrt und rettet es treu, wenn es im Glauben zu ihm schreit. Es liegt in seiner Natur, Menschen zu befähigen, vom Tod zum Leben zu gelangen. Im Neuen Testament lesen wir, dass unser Herr die Schlüssel des Todes hat (Offb. 1,18).

Allen P. Ross – Ein Kommentar zu den Psalmen

Ein erstes Ergebnis ist, dass er uns »Tag für Tag die Last« trägt. Damit beweist sich täglich, dass »Gott unsere Rettung« ist. Er ist uns, seinen Erlösten, Rettung; er ist uns zum Gott geworden, und wir sind sein Besitz. Und dann fährt David präzisierend fort und sagt, Gott sei »ein Gott der Rettungen«, Mehrzahl; denn der Gefahren, Widerwärtigkeiten und Versuchungen sind viele, und aus allen errettet uns der Herr (Ps 34,19; 2Tim 3,11; 4,18).

Benedikt Peters – Kommentar zu den Psalmen

Die sechste Strophe V 20–24 beginnt mit einer Baruk-Formel, mit der jemand eine Gottheit preist. Diese Form der Benediktion ist biblisch wie außerbiblisch seit vorexilischer Zeit belegt und hat im Psalter durch die Häufigkeit ihres Vorkommens einen Schwerpunkt (vgl. F.-L. Hossfeld, Art. Benediktionen, in: RGG4 1, 1998, 1295–1297). In Kontextstellung wie hier (vgl. Ps 18,47; 28,6; 31,22; 124,6) leitet sie Lob- und Dankabschnitte ein; sie kann den Einfluß der Tempelliturgie anzeigen (vgl. Ps 66,8.20). Was der Baruk-Formel nachfolgt, ist eine Durchführung des Gotteslobes: Gott ist Israels Lastenträger (seltene Übertragung auf Gott, vgl. noch Ps 81,7 und Jes 46,3); er ist »der Gott für uns«, was an den Immanuel von Jes 7 erinnert; er ist der Gott für Hilfen, vgl. Ps 65,6, der Auswege vom Tod findet (singuläre Bezeichnung für die Rettung aus Todesgefahr). JHWH packt die Feinde am Haarschopf, bevor er sie erschlägt – die Szene ist häufig Gegenstand altorientalischer Ikonographie. Der Grund für die Todesstrafe ist die Schuld der Gottesfeinde (der Plural bei Schuld zeigt die vielen Sündentaten an).

Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament

David sah in der Anwesenheit des Herrn auf dem Zion vor allem einen Segen für diejenigen, die belastet waren und sich in Gefahr befanden. Jehova, unser König, trägt unsere Lasten und besiegt unsere Feinde. Sicherlich sah David, wie der Herr große Siege für Israel errang, so dass sich die Grenzen des Königreichs stark vergrößerten.

Warren W. Wiersbe – Sei Commentary Series

nicht von dieser Welt

Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft, auf daß ich den Juden nicht überliefert würde; jetzt aber ist mein Reich nicht von hier.
Elberfelder 1871 – Johannes 18,36

Jesus sagte: »Mein Königtum stammt nicht von dieser Welt. Sonst hätten meine Leute dafür gekämpft, dass ich den Juden nicht in die Hände falle. Nein, mein Königtum ist von ganz anderer Art!«
Gute Nachricht Bibel 2018 – Johannes 18:36

Jesus antwortete: Meine Königsherrschaft ist nicht aus dieser Welt. Wenn meine Königsherrschaft aus dieser Welt wäre, (Jesus dachte offenbar nicht von ferne daran, behaupten zu wollen, daß sein Reich ein außeriridsches, rein jenseitiges Reich sei, sondern was er sagt, das ist: Meine Königsherrschaft stammt nicht aus der jetzigen sündigen Welt(zeit) und hat damit die Art des römischen Weltreiches, das auf Waffengewalt beruht, sondern die von mir beanspruchte (Gottes)herrschaft gründet sich ganz nur auf die göttliche Wahrheit. Sie ist die Herrschaft der Wahrheit.) so würden meine Diener kämpfen, daß ich den Juden nicht überliefert würde, nun aber ist meine Königsherrschaft nicht von daher.
Die vier Evangelien des Reinhardt – Joh 18,36

Jesus gab ihm die Antwort: »Meine Königsherrschaft stammt nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum seinen Ursprung in dieser Welt hätte, dann hätten meine Diener dafür gekämpft, dass ich nicht in die Hände der judäischen Führung gerate. Nun ist aber mein Königtum nicht von hier.«
Werner – das Buch – Joh 18:36

Dieser Vers wurde irrtümlicherweise so ausgelegt, als ob Christus leugnete, dass sein Reich auf Erden aufgerichtet werden würde. Neben der Unvereinbarkeit einer solchen Ansicht mit dem ganzen Zeugnis der Heiligen Schrift (vgl. 1,33; Offb 11,15) würde sie mit dem Rest des Verses in Widerspruch stehen. Irdische Reiche beginnen, sie werden aufrechterhalten und endlich durch menschliche Gewalt beendet, aber sein Reich wird herbeigeführt und erhalten durch seine persönliche Erscheinung und durch seine Allmacht.

Scofield-Bibel

»Was hast du getan?«, hatte Pilatus am Ende von V. 35 gefragt. Jesus gibt darauf die Antwort. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (V. 36). Man versteht diese Antwort nur, wenn man auf V. 33 zurückblickt, wo Pilatus aufgrund der jüdischen Anklage wissen wollte, ob Jesus »der König der Juden« sei. Wahrscheinlich überrascht Jesus den Statthalter völlig, indem er nun aussagt: Ich habe ein »Reich«. Jeder Verbrecher hätte sich herausgewunden. Jesus aber sagt: Ja, »mein Reich« existiert. Aber es ist ganz anders, als du – Pilatus – es dir vorstellst. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Man könnte auch übersetzen: »Mein Reich (meine Herrschaft, mein Königtum) stammt nicht aus dieser Welt.« So wenig übrigens, wie seine Jünger »von dieser Welt« sind (Joh 15,19; 17,14). »Von dieser Welt« sind dagegen seine Gegner (Joh 8,23) und die Verfolger seiner Jünger (Joh 15,19; 17,14). Auch Pilatus und der Kaiser in Rom sind »von dieser Welt«. Die Parallele zu Joh 3 drängt sich auf. Dort war vom »Reich Gottes« die Rede, das nur der sieht, der wiedergeboren ist (Joh 3,3.5). Mit einem Male treten sich Gottesreich und Weltreich universal gegenüber. Die Spannung zwischen beiden war ein Teil der danielischen Prophetie und des Lebensschicksals Daniels (vgl. Dan 2; 3; 4; 6; 7; 12). Sie sind völlig verschiedene Größen. Die Weltreiche vergehen mit »dieser Welt«. Denn »diese Welt« ist die vergehende, die alte, die gottvergessene, die dem Gericht entgegeneilende. Sie ist die, von der Paulus schreibt: »Das Wesen dieser Welt vergeht« (1 Kor 7,31). Aber wie kommt Jesus dazu, das Gottesreich als »mein Reich« zu bezeichnen? Die Lösung gibt wieder Daniel. Dort empfängt der göttliche Menschensohn das Gottesreich zur ewigen Herrschaft (Dan 7,13ff.; Dan 7,27; vgl. Ps 2,8ff.; Offb 12,5; 19,15 und 2Sam 7,12ff.). Deshalb spricht Jesus auch in seinen Gleichnissen vom »Reich des Menschensohnes« (Mt 13,41; 25,31ff.; vgl. 1 Kor 15,24ff.).

Den Beweis, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist, gibt Jesus auf der Stelle: »Wenn mein Reich von dieser Welt wäre, hätten meine Diener darum gekämpft, dass ich nicht den Juden ausgeliefert würde.« Stattdessen hat er seinen »Dienern« = Jüngern befohlen, das Schwert in die Scheide zu stecken (Joh 18,11; vgl. Mt 26,52). Übrigens macht die Formulierung »nicht den Juden ausgeliefert« noch einmal klar, dass das Verhaftungskommando nur aus Juden und nicht aus Römern bestand. Dass eine messianische Bewegung nicht »kämpft«, ist für Pilatus eine ganz neue Erfahrung. Sonst »kämpften« die jüdischen Messiasanwärter mit allen Mitteln (vgl. Apg 5,36ff.; Apg 21,38). Und gerade daraus ergibt sich der Schluss: »Nun aber ist mein Reich nicht von hier« = aus der hiesigen Welt. Vielleicht schwingt sogar in der Wendung »von hier« ein sehr spezieller Ton mit: »Von hier« = von diesem Lande, von dieser Judenschaft ausgehend, wie es die Römer sonst erlebten.

Gerhard Maier – Edition C

Dies ist einer der großartigen Verse, die das Volk Gottes von jeder politischen Einmischung absondert. Das Reich Gottes ist etwas ganz anderes als alle nationalen und politischen menschlichen Organisationen. Der Herr anerkannte diese und war ihnen sogar untertan (Mt 17,27), wie es die Gläubigen in der Tat auch sein sollen (Röm 13,1); aber Er beteiligte sich nicht an diesen Organisationen. Der göttliche und himmlische Botschafter bleibt dem Stand und Charakter Seines himmlischen Reiches treu und gleicht sich nicht dem Land (der Welt) an, in dem Er als Botschafter tätig ist. Wenn die Gläubigen das begriffen, dann wären sie glücklich, abgesondert von den politischen Ambitionen der Völker zu bleiben. Es wurde nicht gekämpft, da Er dem Hohenrat untertan war, wie unrecht dessen Urteil auch sein mochte. So wenig die Knechte des Herrn für Ihn kämpften, so wenig sollten Christen sich heute in Wahlkämpfe und ähnliches verstricken lassen. Der Christ hat gewiß keine Berechtigung, militärische oder politische Mittel zu gebrauchen, um damit geistliche Ziele zu erreichen.
 Der Herr machte es ganz deutlich, daß Sein Reich „nicht von dieser Welt“ war, war doch auch der Herr selbst „nicht von dieser Welt“ (8,23; 17,14.16), wie auch Seine Jünger nicht (17,14.16). Die Bibel zeigt es sehr klar, daß die Reiche der Welt einen absoluten Gegensatz bilden zum Reich Gottes in dessen gegenwärtiger wie auch zukünftiger Gestalt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Leute Ihn mit Gewalt zum König machen wollten (6,15). Aber das war nicht möglich, denn Gott selbst würde Seinen König auf Seinem Heiligen Berge einsetzen. Es ist der Gott des Himmels, der ein Reich aufrichten wird, das ewig nicht vergeht, während alle irdischen Reiche zermalmt werden (Dan 2,44). Auf geistlicher Ebene sind wir aus der Gewalt der Finsternis errettet und in „das Reich des Sohnes seiner Liebe“ versetzt worden (Kol 1,13). Gewiß, im AT bewahrte Gott das Reich Juda mit militärischen Mitteln, aber Seine Wege sind heute nicht dieselben. Mit Waffengewalt für christliche Rechte zu kämpfen, widerspricht neutestamentlicher Lehre; denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich (2Kor 10,4-5).

Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt

Nachdem die Frage geklärt war, gab Jeschua eine konkrete Antwort: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre mein Reich von dieser Welt, so würden meine Knechte kämpfen, dass ich den Juden nicht überliefert würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt (Johannes 18:36). Aus zwei Gründen war Jeschua kein Konkurrent von Caesar. Erstens sagte er: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Dies ist eine Lieblingsstelle für Ersatztheologen, besonders für die der amillennialen Schule, die diesen Vers benutzen, um ihr Argument zu stützen, dass Jeschua bei seiner Wiederkunft kein buchstäbliches, irdisches Reich aufrichten wird. Sie glauben an sein zweites Kommen, aber nicht, dass er bei seiner Wiederkunft sein irdisches Reich aufrichten wird. Stattdessen interpretieren sie Jeshuas Aussage so, dass sein Reich nicht in dieser Welt sein wird. Greg L. Bahnsen merkt an:
Die viel missbrauchte Aussage Jesu in Johannes 18,36, „Mein Reich ist nicht von [ek: aus] dieser Welt“, ist eine Aussage über die Quelle, nicht über die Natur seiner Herrschaft, wie das epexegetische Ende des Verses deutlich macht: „nun aber ist mein Reich nicht von daher [enteuthen]“ (kjv). Die Lehre ist nicht, dass das Reich Christi gänzlich jenseitig ist, sondern dass es seinen Ursprung bei Gott selbst hat, nicht bei irgendeiner Macht oder Autorität, die in der Schöpfung zu finden ist

Es gibt einen Unterschied zwischen „von der Welt“ und „in der Welt“. Jeschua machte diese Unterscheidung in Johannes 17:11, 14, 16 und 18, wo er zum Vater sagte, dass er und die Gläubigen in der Welt sind, aber nicht von der Welt. Von der Welt zu sein bedeutet, von der Natur dieser Welt zu sein, und die Gläubigen sind nicht mehr von der Natur dieser Welt. Solange die Gläubigen am Leben sind, sind sie in dieser Welt, aber nicht mehr von der Natur dieser Welt. Wenn Jeschua auf die Erde zurückkehrt, wird Er nicht den Cäsar absetzen und sich auf seinen Thron setzen. Er wird mit seinem eigenen Thron kommen, dem Thron Davids, und mit seinem eigenen Königreich, dem messianischen Königreich. Sein Reich wird eines Tages in der Welt sein, aber es wird niemals von dieser Welt sein. Zweitens sagte er: „Aber jetzt ist mein Reich nicht von jetzt an“, was „nicht von jetzt an“ bedeutet. Infolge der Ablehnung Seiner Messiasschaft würde Jeschuas Reich nicht zu dieser Zeit errichtet werden. Aus diesen beiden Gründen war Er kein Konkurrent für Caesar.

Arnold Fruchtenbaum – Jeschua – Das Leben des Messias aus einer messianisch-jüdischen Perspektive

Die jungen Männer sollen „besonnen sein“, d. h. sich unter Kontrolle haben. Dies ist eine umfassende Forderung, die jeden Aspekt ihres Lebens einschließt.

Die Jünglinge desgleichen ermahne, besonnen zu sein
Elberfelder 1871 – Titus 2,6

Die jüngern Männer ermahne ebenfalls zu einem sittsamen Betragen!
van Ess – Titus 2:6

Ebenso musst du die jungen Männer ermahnen, beherrscht und maßvoll zu leben.
Hoffnung für Alle – Tit 2,6

Ermutige in gleicher Weise immer wieder die jüngeren Männer, ausgewogen zu sein
Andreas Eichberger – Gottes Agenda – Tit 2:6

Desgleichen soll Titus die jungen Männer zur Besonnenheit ermuntern eine Tugend, die gerade jungen Leuten oft abgeht. Der Apostel gebraucht im Zusammenhang mit jeder der vier Gruppen, denen er hier Verhaltensanweisungen gibt, in irgendeiner Form das Wort „Besonnenheit“ (V. 2.5.6). Der Begriff zieht sich geradezu wie ein roter Faden durch alle Pastoralbriefe, ein Zeichen dafür, wie wichtig Mäßigung, Vernunft und Rücksichtnahme für die Christen sind.

Die Bibel erklärt und ausgelegt – Walvoord Bibelkommentar

»Desgleichen ermahne die jungen Männer – das soll Titus wieder selbst tun; er ist ja selbst noch ein junger Mann, »dass sie besonnen seien in allen Dingen« (»zuchtvoll in allen Dingen« kann auch übersetzt werden; V. 6). Das Wort für »ermahnen«, das hier steht, bedeutet »zurufen«, »herbeirufen«, »anspornen«, »einladen«, auch »anfeuern« im Sportstadion und »Seelsorge üben« in der Gemeinde Jesu. In der Verkündigung und in Einzelgesprächen soll also Titus darauf hinwirken, dass die jungen Männer »in allen Dingen«, »rundherum«, »besonnen«, beherrscht, zuchtvoll seien, sich zügeln lassen durch unseren Herrn, sein Wort und seinen Geist. Und das in allen Lebensbereichen: gegenüber dem Ehegatten, in der täglichen Zusammenarbeit, auch in sexueller Hinsicht, in der gemeinsamen Kindererziehung, in der Begegnung mit den beiderseitigen Verwandten, im Umgang mit Untergebenen, etwa den Sklaven im Haus, und auch sonst, wo die Männer tätig waren. Nie sollten sie sich gehen , nie ihrem alten Wesen »die Zügel schießen« lassen.

Auch eine nichtglaubende Frau sollte am Verhalten ihres gläubigen Mannes etwas von der verwandelnden Kraft des Evangeliums, des Geistes Gottes, erfahren, so dass sie, wenn etwa ihre Freundin über ihren Mann bitter klagte, dankbar denken konnte und vielleicht auch sagte: »Mein Mann war früher ähnlich. Aber nun ist er deutlich anders, offenkundig durch seinen neuen Glauben. Ich kann nicht mehr klagen.« Und wie mögen es auch Kinder empfunden haben, die von ihren Altersgenossen hörten, welch schreckliche Auftritte bei ihnen zu Hause an der Tagesordnung waren, wenn der Vater die Mutter unbarmherzig schlug! Was mag’s für sie bedeutet haben, wenn sie sagen konnten: »Unser Vater verhält sich ganz anders, auch bei unterschiedlicher Meinung der Eltern und selbst, wenn die Mutter einen Fehler gemacht hat; er will einfach Jesus-ähnlich leben.«

Gerhard Maier – Edition C

Die Aufgabe, auf die jungen Männer einzuwirken, ist Titus selbst vorbehalten. Er soll sie „ermahnen“ (parakaleo), eine viel energischere Weisung als das „Reden“ (2,1). Parakaleo wird manchmal mit „zureden“ (z. B. in Römer 12,1; vgl. Konkordante: „Ich spreche euch nun zu …“) wiedergegeben und bedeutet wörtlich „an seine Seite rufen“. Titus soll deshalb die jungen Männer in die Gemeinschaft zu sich rufen. Folglich soll er von ihnen nicht verlangen, geistliches Gebiet einzunehmen, das er selbst nicht betreten hat. Er soll ihr Vorbild sein (dies kommt in den V. 7-8 deutlicher zum Ausdruck).
Die jungen Männer sollen „besonnen (sophroneo) sein“, d. h. sich unter Kontrolle haben. Dies ist eine umfassende Forderung, die jeden Aspekt ihres Lebens einschließt. Das Verb wird anderswo mit „denken, daß er besonnen sei“ (Römer 12,3) und „seid nun besonnen“ (1.Petr. 4,7) wiedergegeben. Wie sehr ist Besonnenheit im Volk Gottes gefragt! Wir haben schon festgestellt, daß dieses Kennzeichen bei den Aufsehern (1,8), den alten Männern (2,2), den jungen Frauen (2,5), den älteren Frauen (Folgerung aus dem Bisherigen) und jetzt bei den jungen Männern zu sehen sein muß: keine Gruppe ist ausgenommen.

Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt

16.Nisan

ÜBER DIE AUFERSTEHUNG CHRISTI VON DEN TOTEN

DIE Geschichte des Lebens Christi auf Erden schließt mit einem Wunder, das ebenso groß ist wie das seiner Entstehung. Man kann sagen, dass das eine ein Licht auf das andere wirft. Wenn er so war, wie ihn die Evangelien darstellen, muss er von einer reinen Jungfrau ohne Sünde geboren worden sein und von den Toten auferstanden sein. Wenn die Geschichte seiner Geburt wahr ist, können wir auch die seiner Auferstehung glauben; wenn die seiner Auferstehung wahr ist, können wir auch die seiner Geburt glauben. Es liegt in der Natur der Sache, dass letztere nicht streng historisch bewiesen werden konnte; und es liegt in der Natur der Sache, dass Seine Auferstehung den vollständigsten historischen Beweis verlangte und auch liefern konnte. Wenn es einen solchen gibt, ist der Schlussstein des Bogens gegeben; die wundersame Geburt wird fast zu einem notwendigen Postulat, und Jesus ist der Christus im vollen Sinne der Evangelien. Eine weitere Parallele zwischen dem Bericht über die wundersame Geburt und dem über die Auferstehung ist das völlige Fehlen von Einzelheiten über diese Ereignisse selbst. Wenn dieser Umstand als indirekter Beweis dafür gewertet werden kann, dass es sich nicht um Legenden handelt, so erlegt er uns auch die Pflicht auf, das ehrfürchtige Schweigen zu wahren, das in diesem Fall angebracht ist, und nicht über den Weg hinauszugehen, den uns die evangelische Erzählung eröffnet hat.

Dieser Weg ist hinreichend schmal und in mancher Hinsicht schwierig, und zwar nicht in Bezug auf das große Ereignis selbst, auch nicht in Bezug auf seine Hauptmerkmale, sondern in Bezug auf die genaueren Einzelheiten. Und auch hier ergeben sich unsere Schwierigkeiten nicht so sehr aus einer tatsächlichen Unstimmigkeit, sondern aus dem Fehlen einer tatsächlichen Identität. Dies ist zum großen Teil auf die starke Komprimierung in den verschiedenen Erzählungen zurückzuführen, die teils auf den Charakter des erzählten Ereignisses, teils auf die unvollständigen Informationen der Erzähler, von denen nur einer wirklich Augenzeuge war, zurückzuführen ist, vor allem aber darauf, dass für die verschiedenen Erzähler der zentrale Punkt des Interesses in dem einen oder anderen Aspekt der mit der Auferstehung verbundenen Umstände lag. Nicht nur Matthäus,sondern auch Lukas verdichtet die Erzählung so sehr, dass die „Unterscheidung der Zeitpunkte“ fast verschwindet. Lukas scheint in die Osternacht hineinzudrängen, was er selbst vierzig Tage lang erzählt. a Er ist sozusagen der herausragende Jerusalemer Bericht über den Beweis der Auferstehung, Matthäus der herausragende galiläische Bericht darüber. Und doch impliziert und bestätigt jeder die Fakten des anderen. Im Allgemeinen sollten wir bedenken, dass es den Evangelisten und später dem heiligen Paulus nicht so sehr darum geht, die ganze Geschichte der Auferstehung zu erzählen, als vielmehr den Beweis dafür zu liefern. Und hier ist das, was jeden von ihnen auszeichnet, auch charakteristisch für seinen speziellen Blickwinkel. Matthäus schildert den Eindruck, den der volle Beweis jenes Ostermorgens auf Freund und Feind machte, und eilt dann von dem mit Christi Blut befleckten Jerusalem zurück zu dem süßen See und dem gesegneten Berg, wo er zuerst sprach. Es ist, als ob er sich danach sehnte, den auferstandenen Christus in den Szenen zu erkennen, in denen er ihn kennengelernt hatte. Markus, der sich viel kürzer fasst, gibt nicht nur eine bloße , sondern erzählt, wenn man so sagen darf, wie aus dem Schoß der Jerusalemer Familie, aus dem Haus seiner Mutter Maria. Der heilige Lukas scheint alle Tatsachen der Auferstehung gründlichst erforscht zu haben, und seine Erzählung könnte fast so lauten: Ostertag in Jerusalem“. Johannes malt solche Szenen – während der ganzen vierzig Tage, sei es in Jerusalem oder in Galiläa -, die am bedeutsamsten und lehrreichsten für diese dreifache Lektion seines Evangeliums waren: dass Jesus der Christus war, dass er der Sohn Gottes war und dass wir, die wir glauben, in seinem Namen das Leben haben. Schließlich bringt Paulus – als ein zur rechten Zeit Geborener – das Zeugnis der Hauptzeugen für die Tatsache in einer Art aufsteigendem Höhepunkt vor. Und dies umso wirkungsvoller, als er sich offensichtlich der Schwierigkeiten und der Bedeutung der Frage bewusst ist und sich bemüht hat, sich mit allen Tatsachen des Falles vertraut zu machen.

Die Frage ist sowohl für sich selbst als auch für die gesamte Geschichte von so großer Bedeutung, dass eine – wenn auch kurze und unvollständige – im Vorfeld der Betrachtung der evangelischen Erzählungen notwendig erscheint.

Welche Gedanken über den toten Christus beschäftigten Joseph von Arimathäa, Nikodemus und die anderen Jünger Jesu sowie die Apostel und die frommen Frauen? Sie hielten ihn für tot und erwarteten nicht, dass er von den Toten auferstehen würde – zumindest nicht in dem von uns angenommenen Sinn. Dafür gibt es reichlich Beweise, vom Augenblick seines Todes an, in den von Nikodemus mitgebrachten Grabbeigaben, in den von den Frauen vorbereiteten (die beide gegen den Verderb gedacht waren), in der Trauer der Frauen über das leere Grab, in ihrer Vermutung, dass der Leichnam abgenommen worden war, in der Ratlosigkeit und der Haltung der Apostel, in den Zweifeln so vieler und sogar in der ausdrücklichen Aussage: „Denn sie kannten die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsse.Und der Hinweis im Matthäus-Evangelium,b dass die Sanhedristen Vorkehrungen gegen den Diebstahl seines Leichnams getroffen hatten, um den Anschein der Erfüllung seiner Vorhersage zu erwecken, dass er nach drei Tagen auferstehen würde,2 dass sie also von einer solchen Vorhersage wussten und sie wörtlich nahmen, würde die entgegengesetzte Haltung der Jünger und ihre offenkundige Nichterwartung einer wörtlichen Auferstehung nur noch mehr unterstreichen. Was die Jünger erwarteten, vielleicht sogar wünschten, war nicht die Wiederkunft Christi in verherrlichter Gestalt, sondern seine Wiederkunft in Herrlichkeit in sein Reich.

Wenn sie ihn aber als wirklich tot und nicht als auferstanden im wörtlichen Sinne ansahen, hatte das offensichtlich keine praktische Auswirkung, nicht nur auf ihre früheren Gefühle ihm gegenüber, sondern sogar auf ihren Glauben an ihn als den verheißenen Messias. Das geht aus dem Verhalten von Joseph und Nikodemus, aus der Sprache der Frauen und aus dem ganzen Verhalten der Apostel und Jünger hervor. All dies hätte ganz anders aussehen müssen, wenn sie den Tod Christi, selbst am Kreuz, als eine Entkräftung seines messianischen Anspruchs angesehen hätten. 4 Im Gegenteil, wir haben den Eindruck, dass sie zwar tief über den Verlust ihres Meisters und den scheinbaren Triumph seiner Feinde trauerten, aber sein Tod für sie nicht unerwartet kam, sondern als innere Notwendigkeit und als Erfüllung seiner oft wiederholten Vorhersage. Wir können uns darüber auch nicht wundern, denn seit der Verklärung hatte er sich gegen all ihren Widerstand und ihr Widerstreben bemüht, ihnen die Tatsache seines Verrats und seines Todes einzuprägen. Er hatte auch – wenn auch keineswegs so häufig und deutlich – auf seine Auferstehung hingewiesen. Aber davon konnten sie sich nach ihren jüdischen Vorstellungen eine ganz andere Vorstellung machen als von einer buchstäblichen Auferstehung des gekreuzigten Leibes in einem verherrlichten Zustand und doch fähig zu einem solchen irdischen Verkehr, wie ihn der auferstandene Christus mit ihnen hatte. Und wenn man einwendet, dass Christus sie in einem solchen Fall all dies klar hätte lehren müssen, so genügt es zu antworten, dass eine solche klare Belehrung in diesem Punkt zu jener Zeit nicht nötig war; dass das Ereignis selbst sie bald und am besten belehren würde; dass es unmöglich gewesen wäre, es wirklich zu lehren, außer durch das Ereignis; und dass jeder Versuch dazu eine viel umfassendere Mitteilung über dieses geheimnisvolle Thema bedeutet hätte, als es nach dem, was uns in der Schrift gesagt wird, die Absicht Christi war, in unserem gegenwärtigen Zustand des Glaubens und der Erwartung zu vermitteln. Dementsprechend konnte sich die Vorhersage Christi aus ihrer Sicht auf die Fortsetzung seines Werkes, auf seine Rechtfertigung oder auf irgendeine Erscheinung von ihm beziehen, sei es vom Himmel oder auf der Erde – wie die der Heiligen in Jerusalem nach der Auferstehung oder die des Elias im jüdischen Glauben -, aber vor allem auf seine Wiederkunft in Herrlichkeit; sicherlich nicht auf die Auferstehung, wie sie tatsächlich stattgefunden hat. Die Tatsache selbst wäre den jüdischen Vorstellungen völlig fremd, die zwar das Weiterleben der Seele nach dem Tod und die endgültige Auferstehung des Leibes, nicht aber einen Zustand geistiger Körperlichkeit, geschweige denn unter Bedingungen, wie sie in den Evangelien beschrieben werden, umfassten. 1 Elia, der in der jüdischen Überlieferung immer wieder erwähnt wird, wird nie als jemand dargestellt, der an den Mahlzeiten teilnimmt oder seinen Körper zur Berührung anbietet; ja, die Engel, die Abraham besuchten, werden als jemand dargestellt, der nur zum Schein und nicht wirklich isst. Es ist klar, dass die Apostel die Auferstehung Christi weder aus der Heiligen Schrift – was beweist, dass die Erzählung davon nicht als Erfüllung früherer Erwartungen gedacht war – noch aus den diesbezüglichen Voraussagen Christi kannten; obwohl ohne das eine und besonders ohne das andere das leere Grab kaum die sichere Überzeugung von der Auferstehung Christi in ihnen bewirkt hätte.

Dies bringt uns zu der eigentlichen Frage, um die es geht. Da die Apostel und andere ihn offensichtlich für tot hielten und nicht mit seiner Auferstehung rechneten, und da die Tatsache seines Todes für sie keinen oder keinen nennenswerten Einwand gegen seinen messianischen Charakter darstellte, der sie hätte veranlassen können, eine Auferstehung zu erfinden oder sich einzubilden, wie sollen wir dann die Geschichte der Auferstehung mit all ihren Einzelheiten in allen vier Evangelien und bei Paulus erklären? Die Einzelheiten oder „Zeichen“ sind eindeutig als Beweise für die Realität der Auferstehung gedacht, ohne die sie nicht geglaubt worden wäre; und ihre Vervielfältigung und Vielfalt muss daher als Hinweis auf das angesehen werden, was sonst nicht nur zahlreiche, sondern unüberwindliche Schwierigkeiten gewesen wären. In ähnlicher Weise lässt die Sprache des heiligen Paulus auf eine sorgfältige und gründliche Untersuchung seinerseits schließen, die umso vernünftiger ist, als die Einwände gegen die Tatsache, abgesehen von den inneren Schwierigkeiten und den jüdischen Vorurteilen, die dagegen sprechen, ihm so oft und grob aufgedrängt worden sein müssen, sei es in Disputationen oder durch die Sticheleien der griechischen Gelehrten und Studenten, die seine Predigt verspotteten.

Die Frage, die sich stellt, ist also folgende: Wie ist der Sinneswandel der Jünger in Bezug auf die Auferstehung zu erklären, wenn man ihren früheren Geisteszustand und das Fehlen jeglicher Beweggründe berücksichtigt? Es steht zumindest außer Frage, dass sie mit absoluter Gewissheit an die Auferstehung als geschichtliche Tatsache glaubten; auch nicht, dass sie die Grundlage und den Inhalt ihrer gesamten Verkündigung des Reiches Gottes bildete; auch nicht, dass der heilige Paulus, bis zu seiner Bekehrung ein erbitterter Feind Christi, voll und ganz davon überzeugt war; auch nicht – um einen Schritt zurückzugehen – dass Jesus selbst sie erwartete. In der Tat hätte sich die Welt nicht zu einem toten jüdischen Christus bekehrt, wie sehr auch seine engsten Jünger sein Andenken weiterhin geliebt haben mögen. Aber sie predigten überall und zuallererst die Auferstehung von den Toten! In der Sprache des heiligen Paulus: „Ist Christus nicht auferweckt worden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Ja, und wir werden als falsche Zeugen Gottes befunden … ihr seid noch in euren Sünden.’Hier müssen wir das zurückweisen, was wahrscheinlich dem Haupteinwand gegen die Auferstehung zugrunde liegt: ihr wunderbarer Charakter. Der Einwand gegen das Wunder als solches geht von jenem falschen Supranaturalismus aus, der ein Wunder auf den unmittelbaren Willen des Allmächtigen zurückführt, ohne dass es dazwischen liegende Glieder gibt.Und wie bereits gezeigt, beinhaltet er eine bösartige petitio principii. Aber schließlich ist das Wunderbare für uns nur beispiellos und unerkennbar – eine sehr schmale Basis, auf der man die historische Untersuchung ablehnen kann. Und der Historiker muss die unzweifelhafte Tatsache berücksichtigen, dass die Auferstehung die grundlegende persönliche Überzeugung der Apostel und Jünger war, die Grundlage ihrer Predigt und die letzte Stütze ihres Martyriums. Welche Erklärung kann man also dafür anbieten?

Wir können hier zwei Hypothesen beiseite lassen, die heute selbst in Deutschland allgemein verworfen werden und die hierzulande wahrscheinlich nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurden. Es handelt sich um den groben Betrug der Jünger, die den Leichnam Jesu gestohlen haben – wozu sogar Strauss bemerkt, dass eine solche Lüge mit ihrem Nachleben, ihrem Heldentum und ihrem Martyrium völlig unvereinbar ist -, und um die, dass Christus nicht wirklich tot war, als er vom Kreuz genommen wurde, und dass er allmählich wieder auferstand. Ganz abgesehen von den vielen Absurditäten, die diese Theorie mit sich bringt,verlagert sie – wenn wir die Jünger von ihrer Mitschuld freisprechen – den Betrug tatsächlich auf Christus selbst.

Die einzige andere Erklärung, die Aufmerksamkeit verdient, ist die so genannte „Visionshypothese“: dass die Apostel wirklich an die Auferstehung glaubten, aber dass bloße Visionen von Christus diesen Glauben in ihnen hervorgerufen hatten. Diese Hypothese wurde auf verschiedene Weise modifiziert. Einigen zufolge waren diese Visionen das Ergebnis einer erregten Phantasie, eines krankhaften Zustands des Nervensystems. Dagegen ist natürlich zunächst einzuwenden, dass solche Visionen eine vorherige Erwartung des Ereignisses voraussetzen, was, wie wir wissen, das Gegenteil der Tatsache ist. Außerdem stimmt eine solche „Visionshypothese“ in keiner Weise mit den vielen Einzelheiten und Umständen überein, die im Zusammenhang mit dem Auferstandenen berichtet werden, der nicht nur dem einen oder anderen in der Zurückgezogenheit der Kammer erschienen ist, sondern vielen, und zwar in einer Weise und unter Umständen, die die Vorstellung einer bloßen Vision unmöglich machen. Außerdem hätten die Visionen einer erregten Phantasie nicht durchgehalten und zu solchen Ergebnissen geführt; wahrscheinlich wären sie bald einer entsprechenden Depression gewichen.

Die „Visionen-Hypothese“ wird nicht viel besser, wenn wir die angeblichen Visionen als das Ergebnis von Überlegungen betrachten – dass die Jünger in der Überzeugung, der Messias könne nicht tot bleiben (was wiederum den Tatsachen widerspricht), sich zuerst die Überzeugung erarbeitet hatten, dass er auferstehen müsse, und dann Visionen des Auferstandenen1 hatten. Es wäre auch nicht sinnvoller, anzunehmen, dass diese Visionen direkt von Gott selbst gesandt wurden,um die Tatsache zu bestätigen, dass Christus lebte. Denn wir haben es hier mit einer Reihe von Tatsachen zu tun, die so nicht erklärt werden können, wie z. B. das Zeigen seiner heiligen Wunden, das Angebot, sie zu berühren, die Aufforderung, ihn anzufassen, um sich von seiner wirklichen Körperlichkeit zu überzeugen, das Essen mit den Jüngern, die Erscheinung am See von Galiläa und andere. Außerdem muss die „Visionshypothese“ die Ereignisse des Ostermorgens erklären, vor allem das leere Grab, von dem der große Stein weggewälzt worden war und in dem diejenigen, die es betraten, die Gerüche1 des Todes sahen. In der Tat scheint eine solche Erzählung, wie sie der heilige Lukas überliefert, geradezu darauf angelegt zu sein, die „Visionshypothese“ unmöglich zu machen. Es wird ausdrücklich gesagt, dass die Erscheinung des auferstandenen Christus, die weit davon entfernt war, ihre Erwartungen zu erfüllen, sie erschreckt hatte und dass sie sie für ein Gespenst hielten, woraufhin Christus sie beruhigte und sie aufforderte, mit ihm umzugehen, denn „ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr mich seht“. Und schließlich: Wer hat den Leib Christi aus dem Grab genommen? Sechs Wochen später verkündete Petrus in Jerusalem die Auferstehung Christi. Hätten die Feinde Christi den Leichnam entfernt, hätten sie Petrus leicht zum Schweigen bringen können; hätten seine Freunde den Leichnam entfernt, hätten sie sich eines solchen Betrugs schuldig gemacht, den nicht einmal Strauss unter diesen Umständen für möglich hält. Da die Theorien der Täuschung, der und der Visionen somit unmöglich sind und der Einwand gegen die Tatsache, dass es sich um ein Wunder handelt, eine petitio principii ist, bleibt dem Geschichtsstudenten nichts anderes übrig, als die Erzählung zu akzeptieren. Die Unvorbereitetheit der Jünger, ihre früheren Meinungen, ihr neues Zeugnis bis zum Martyrium, die Gründung der christlichen Kirche, das Zeugnis so vieler, einzeln und in Gemeinschaft, und die Reihe der aufgezeichneten Erscheinungen während vierzig Tagen und unter so unterschiedlichen Umständen, dass ein Irrtum unmöglich war, hatten bereits mit unfehlbarer Sicherheit auf diese Schlussfolgerung hingewiesen. Und selbst wenn in den Berichten, die nicht von Augenzeugen stammen, geringfügige Abweichungen, ja sogar einige nicht streng historische Einzelheiten nachgewiesen werden könnten, die das Ergebnis frühester Überlieferungen in der apostolischen Kirche gewesen sein könnten, so würde dies die große Tatsache selbst, die ohne Zögern als die am besten belegte in der Geschichte bezeichnet werden kann, gewiss nicht entkräften. Gleichzeitig würden wir uns sorgfältig davor hüten, zuzugeben, dass diese hypothetischen Fehler in den Erzählungen wirklich existieren. Im Gegenteil, wir sind der Meinung, dass sie, sofern sie nicht unter dem Druck der Hyperkritik stehen, zu einer höchst zufriedenstellenden Anordnung fähig sind.

Die Bedeutung all dessen lässt sich nicht angemessen in Worte fassen. Ein toter Christus wäre vielleicht ein Lehrer und ein Wundertäter gewesen und als solcher in Erinnerung geblieben und geliebt worden. Aber nur ein auferstandener und lebendiger Christus konnte der Retter, das Leben und der Lebensspender sein – und als solcher allen Menschen gepredigt werden. Und für diese höchst gesegnete Wahrheit haben wir den umfassendsten und unanfechtbarsten Beweis. Wir können uns daher dem Eindruck dieser Erzählungen und noch mehr der Verwirklichung dieser heiligsten und gesegnetsten Tatsache vorbehaltlos hingeben. Sie ist das Fundament der Kirche, die Inschrift auf der Fahne ihrer Armeen, die Kraft und der Trost eines jeden christlichen Herzens und die große Hoffnung der Menschheit:

Der Herr ist wahrhaftig auferstanden.‘

Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
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    (Mt 28,1-10; Mk 16,1-11; Lk 24,1-12; Joh 20,1-18; Mt 28,11-15; Mk 16,12.13; Lk 24,13-35; 1 Kor 15,5; Mk 16,14; Lk 24,36-43; Joh 20,19-25; Joh 20,26-29; Mt 28,16; Joh 21,1-24; Mt 28,17-20; Mk 16,15-18; 1. Johannes 20,19-25; Johannes 20,26-29; Matthäus 28,16; Johannes 21,1-24; Matthäus 28,17-20; Markus 16,15-18; 1. Korinther 15,6; Lukas 24,44-53; Markus 16,19.20; Apostelgeschichte 1,3-12).

    Die GRAUE Morgendämmerung überzog den Himmel, als sie, die ihn so liebevoll zu seinem Begräbnis begleitet hatten, ihren einsamen Weg zu dem in Felsen gehauenen Grab im Garten machten. So beträchtlich die Schwierigkeiten auch sind, die Einzelheiten in den verschiedenen Erzählungen genau aufeinander abzustimmen – wenn man solchen Versuchen überhaupt Bedeutung beimisst -, so sind wir doch dankbar zu wissen, dass sich jegliches Zögern nur auf die Anordnung winziger Einzelheiten bezieht und nicht auf die großen Fakten des Falles. Und selbst diese winzigen Details würden, wie wir noch zeigen werden, harmonisch sein, wenn wir nur alle Umstände kennen würden.

    Der Unterschied in den Namen der Frauen, die am frühen Morgen zum Grab gingen, bedarf kaum einer ausführlichen Diskussion. Es könnte sein, dass es zwei Gruppen waren, die von verschiedenen Orten aus zum Grab aufbrachen, und dass dies auch den leichten Unterschied in den Einzelheiten dessen erklärt, was sie am Grab gesehen und gehört haben. Jedenfalls wird die Erwähnung der beiden Marias und der Johanna bei Lukasa durch die Erwähnung „der anderen Frauen, die bei ihnen waren“ ergänzt, während Johannes, wenn er nur von Maria Magdalena spricht,ihrem Bericht an Petrus und Johannes: „Wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben“, andeutet, dass sie nicht allein zum Grab gegangen war. Es war der erste Tag der Woche3 – nach jüdischer Zählung der dritte Tag nach seinem Tod. 1 Die Erzählung hinterlässt den Eindruck, dass die Sabbatruhe ihren Besuch am Grab verzögert hatte; aber es ist zumindest ein merkwürdiger Zufall, dass die Verwandten und Freunde des Verstorbenen die Gewohnheit hatten, bis zum dritten Tag (an dem vermutlich die Verwesung beginnen sollte) zum Grab zu gehen, um sich zu vergewissern, dass die dort Aufgebahrten auch wirklich tot waren. In ihrem Kommentar dazu, dass Abraham am dritten Tag auf den Berg Morija hinabstieg,b betonen die Rabbiner die Bedeutung des „dritten Tages“ bei verschiedenen Ereignissen im Zusammenhang mit Israel und sprechen besonders im Zusammenhang mit der Auferstehung der Toten davon, wobei sie sich zum Beweis auf Hos. 6,2.An anderer Stelle leiten sie unter Berufung auf dasselbe prophetische Wort aus 1. Mose 42,17 ab, dass Gott den Gerechten niemals länger als drei Tage in der Qual lässt. Auch in der Trauer bildete der dritte Tag eine Art Frist, denn man glaubte, dass die Seele bis zum dritten Tag um den Körper schwebte, wenn sie sich endlich von ihrer irdischen Behausung trennte.

    Obwohl diese Dinge hier erwähnt werden, brauchen wir kaum zu sagen, dass solche Gedanken nicht bei den heiligen Trauernden vorhanden waren, die im Grau jenes zum Grab gingen. Unabhängig davon, ob es zwei Gruppen von Frauen waren, die sich von verschiedenen Orten aus aufmachten, um sich am Grab zu versammeln, war die prominenteste unter ihnen Maria Magdalena – so prominent unter den frommen Frauen, wie Petrus unter den Aposteln war. Sie scheint als Erste das Grab erreicht zu haben, und als sie den großen Stein, der den Eingang des Grabes verdeckte, weggerollt sah, urteilte sie eilig, dass der Leib des Herrn weggenommen worden war. Ohne weitere Nachforschungen abzuwarten, eilte sie zurück, um Petrus und Johannes von dieser Tatsache zu unterrichten. Der Evangelist erklärt hier, dass es ein großes Erdbeben gegeben habe und dass der Engel des Herrn, der den Menschen wie ein Blitz und in einem strahlend weißen Gewand erschien, den Stein weggerollt und sich darauf gesetzt habe, als die Wächter, erschrocken über das, was sie hörten und sahen, und besonders über den Blick und die Haltung der himmlischen Macht des Engels, von tödlicher Ohnmacht ergriffen wurden. Wenn man sich an die Ereignisse im Zusammenhang mit der Kreuzigung erinnert, über die zweifellos unter den Soldaten gesprochen worden war, und wenn man sich vor Augen hält, welchen Eindruck ein solcher Anblick auf solche Gemüter macht, kann man die Wirkung auf die beiden Wachen, die in dieser langen Nacht das einsame Grab bewacht hatten, leicht verstehen. Das Ereignis selbst (wir meinen: das Wegrollen des Steins) soll sich nach der Auferstehung Christi in der frühen Morgendämmerung ereignet haben, als die heiligen Frauen auf dem Weg zum Grab waren. Es kann sich nicht um ein Erdbeben im gewöhnlichen Sinne gehandelt haben, sondern um eine Erschütterung des Ortes, als der Herr des Lebens die Pforten des Hades durchbrach, um seinen verherrlichten Leib wieder zu bewohnen, und der blitzartige Engel vom Himmel herabstieg, um den Stein wegzuwälzen. Ihn dort zu belassen, wo das Grab leer war, hätte bedeutet, was nicht mehr wahr ist. Aber es liegt eine erhabene Ironie in dem Kontrast zwischen den ausgeklügelten Vorsichtsmaßnahmen des Menschen und der Leichtigkeit, mit der die göttliche Hand sie beiseite fegen kann, und die, wie in der gesamten Geschichte Christi und seiner Kirche, an die prophetische Erklärung erinnert: „Der im Himmel sitzt, wird über sie lachen“.

    Während die Magdalena, wahrscheinlich auf einem anderen Weg, zum Aufenthaltsort von Petrus und Johannes eilte, hatten auch die anderen Frauen das Grab erreicht, entweder in einer Gruppe oder, wie es scheint, in zwei Gruppen. Sie hatten sich gefragt und gefürchtet, wie sie ihr frommes Vorhaben verwirklichen könnten – denn wer sollte den Stein für sie wegrollen? Aber wie so oft, bestand die befürchtete Schwierigkeit nicht mehr. Vielleicht dachten sie, dass die jetzt abwesende Maria Magdalena dafür Hilfe bekommen hatte. Jedenfalls betraten sie nun die Vorhalle des Grabes. Hier erfüllte die Erscheinung des Engels sie mit Furcht. Aber der himmlische Bote gebot ihnen, sich nicht zu fürchten; er sagte ihnen, Christus sei nicht dort und auch nicht mehr tot, sondern auferstanden, wie er es seinen Jüngern in Galiläa vorausgesagt hatte; schließlich befahl er ihnen, mit der Ankündigung an die Jünger zu eilen, und zwar mit der Botschaft, dass sie ihn in Galiläa treffen sollten, wie Christus es ihnen zuvor aufgetragen hatte. Nicht nur, dass dies sozusagen die wundersame Gegenwart mit der vertrauten Vergangenheit verband und ihnen zu der Erkenntnis verhalf, dass es sich um ihren eigenen Meister handelte, sondern auch, dass in der Zurückgezogenheit, Ruhe und Sicherheit Galiläas die beste Gelegenheit für eine umfassende Offenbarung an die fünfhundert Menschen und für ein abschließendes Gespräch und eine Belehrung gegeben sein würde. Aber der Hauptgrund und die Erklärung für die ansonsten seltsame, fast ausschließliche Hervorhebung der Anweisung, Ihn in Galiläa zu treffen, zu einem solchen Zeitpunkt wurde bereits in einem früheren Kapitel angegeben. Mit der Zerstreuung der Elf in Gethsemane in der Nacht, in der Christus verraten wurde, war das Apostolische Kollegium vorübergehend aufgelöst. Sie trafen sich zwar weiterhin als einzelne Jünger, aber das Band des Apostolats war für den Augenblick aufgelöst. Der apostolische Kreis sollte sich in Galiläa neu formieren und der apostolische Auftrag erneuert und erweitert werden, und zwar nicht am See, wo nur sieben der Elf anwesend gewesen zu sein scheinen,a sondern auf dem Berg, auf dem er sie angewiesen hatte, ihm zu begegnen. So sollte das Ende wie der Anfang sein. Dort, wo er sie zuerst berufen und für ihr Werk angewiesen hatte, würde er sie erneut berufen, ihnen die umfassendsten Anweisungen geben und neue und umfassende Vollmachten verleihen. Seine Erscheinungen in Jerusalem sollten sie auf all das vorbereiten, sie vollständig und freudig der Tatsache seiner Auferstehung versichern, die in Galiläa vollständig gelehrt werden sollte. Und als die Frauen, verwirrt und kaum bei Bewusstsein, dem Befehl gehorchten, hineinzugehen und die nun leere Grabnische selbst zu untersuchen, sahen sie zwei Engel1 – wahrscheinlich so, wie die Magdalena sie später sah – einen am Kopf, den anderen zu den Füßen, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Sie warteten nicht länger, sondern eilten, ohne mit jemandem zu sprechen, zu den Jüngern, um ihnen die Nachricht zu überbringen, deren volle Bedeutung sie noch nicht erfassen konnten.

    Doch so sehr die Erzählungen der Synoptiker aufgrund ihrer starken Verdichtung auch von Unklarheiten geprägt sein mögen, so deutlich wird alles, wenn wir den Schritten der Magdalena folgen, wie sie im Vierten Evangelium beschrieben werden. Vom Grab aus eilte sie zur Herberge des Petrus und zu der des Johannes – die Wiederholung der Präposition „zu“ deutet wahrscheinlich darauf hin, dass die beiden verschiedene, wenn auch vielleicht nahe beieinander liegende Quartiere bewohnten. Ihre erschreckende Nachricht veranlasste sie, sofort zu gehen – „und sie gingen zum Grab. Aber sie begannen zu laufen, die beiden zusammen“ – wahrscheinlich, sobald sie außerhalb der Stadt und in der Nähe des „Gartens“ waren. Johannes, der Jüngere, war schneller als Petrus. 3 Als er das Grab zuerst erreichte und sich bückte, „sah“ (βλέπει) er die Leinentücher, aber aufgrund seiner Position nicht die Serviette, die für sich allein lag. Wenn Ehrfurcht und Ehrfurcht Johannes daran hinderten, das Grab zu betreten, so dachte sein impulsiver Begleiter, der unmittelbar nach ihm eintraf, an nichts anderes als an die sofortige und vollständige Klärung des Geheimnisses. Als er das Grab betrat, erblickte er an einer Stelle die Leinentücher, mit denen die heiligen Gliedmaßen umwickelt waren, und an einer anderen die Serviette, die um sein Haupt lag. Es gab kein Anzeichen von Eile, sondern alles war geordnet und hinterließ den Eindruck, als hätte Er sich in aller Ruhe dessen entledigt, was nicht mehr zu Ihm passte. Bald folgte der andere Jünger“ dem Petrus. Die Wirkung dessen, was er sah, war, dass er nun in seinem Herzen glaubte, dass der Meister auferstanden war – bis dahin hatten sie aus der Heiligen Schrift noch nicht die Erkenntnis gewonnen, dass er auferstehen müsse. Und auch das ist sehr lehrreich. Nicht der zuvor aus der Heiligen Schrift abgeleitete Glaube, dass Christus auferstehen würde, führte zur Erwartung dessen, sondern der Beweis, dass er auferstanden war, führte sie zur Erkenntnis dessen, was die Heilige Schrift zu diesem Thema lehrte. Doch welches Licht auch immer im innersten Heiligtum des Herzens von Johannes aufgegangen war, er teilte seine Gedanken der Magdalena nicht mit, ob sie das Grab erreicht hatte, bevor die beiden es verließen, oder ob sie ihnen auf dem Weg begegnete. Die beiden Apostel kehrten nach Hause zurück, weil sie entweder glaubten, am Grab nichts mehr erfahren zu können, oder weil sie auf weitere Belehrung und Führung warten wollten. Vielleicht war es aber auch der Wunsch, nicht unnötig auf das leere Grab aufmerksam zu machen. Aber die Liebe der Magdalena konnte nicht zufriedengestellt werden, solange Zweifel über das Schicksal seines heiligen Leibes schwebten. Es sei daran erinnert, dass sie nur von dem leeren Grab wusste. Eine Zeit lang gab sie sich dem Schmerz ihres Kummers hin; dann, als sie sich die Tränen abwischte, beugte sie sich vor, um noch einmal einen Blick in das Grab zu werfen, das sie für leer hielt, und als sie es „aufmerksam betrachtete“ (θεωρεῖ), schien das Grab nicht mehr leer zu sein. Am Kopf und zu den Füßen, wo der Heilige Leib gelegen hatte, saßen zwei Engel in Weiß. Ihre Frage, die aus ihrem Wissen, dass Christus auferstanden war, so zutiefst zutreffend war: „Frau, warum weinst du?“, scheint die Magdalena mit solch überwältigender Plötzlichkeit getroffen zu haben, dass sie, ohne – vielleicht im Halbdunkel – erkennen zu können, wer es war, der sie gefragt hatte, sprach, nur darauf bedacht, die gesuchte Information zu erhalten: „Weil sie meinen Herrn weggenommen haben, und ich weiß nicht , wo sie ihn hingelegt haben. So ergeht es uns oft, dass wir weinend die Frage des Zweifels oder der Furcht stellen, die, wenn wir sie nur wüssten, niemals über unsere Lippen gekommen wäre; ja, dass das dem Himmel eigene „Warum?“ uns nicht zu beeindrucken vermag, selbst wenn die Stimme seiner Boten uns sanft von dem Irrtum unserer Ungeduld zurückrufen würde.

    Aber schon sollte die Magdalena eine andere Antwort erhalten. Während sie sprach, wurde sie sich einer anderen Gegenwart nahe bei ihr bewusst. Rasch drehte sie sich um und „blickte“ (θεωρεῖ) auf Einen, den sie nicht erkannte, sondern als den Gärtner ansah, aufgrund Seiner Anwesenheit und Seiner Frage: „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?‘ Die Hoffnung, dass sie nun erfahren würde, was sie suchte, beflügelte ihre Worte – mit Intensität und Pathos. Wenn der vermeintliche Gärtner den heiligen Leib an einen anderen Ort getragen hätte, würde sie ihn mitnehmen, wenn sie nur wüsste, wo er hingelegt wurde. Diese tiefe und qualvolle Liebe, die die Magdalena sogar die Beschränkungen des Verkehrs einer jüdischen Frau mit einem Fremden vergessen ließ, war der Schlüssel, der die Lippen Jesu öffnete. Ein kurzer Moment des Innehaltens, und Er sprach ihren Namen in jenen wohlbekannten Akzenten aus, die sie zuerst von der siebenfachen dämonischen Macht befreit und sie in ein neues Leben gerufen hatten. Es war wie eine weitere Bindung, ein weiterer Ruf in ein neues Leben. Sie kannte seine Erscheinung nicht, so wie die anderen ihn zuerst nicht kannten, so anders und doch so ähnlich war der verherrlichte Leib dem, den sie gekannt hatten. Aber sie konnte die Stimme nicht verkennen, besonders als sie zu ihr sprach und ihren Namen nannte. So erkennen auch wir den Herrn oft nicht, wenn er in einer anderen Gestalt zu uns kommt, als wir ihn kannten. Aber wir können ihn nicht verkennen, wenn er zu uns spricht und unseren Namen ausspricht.

    Vielleicht dürfen wir hier innehalten und aus dem Nicht-Erkennen des Auferstandenen, bis er sprach, diese Frage stellen: Mit welchem Körper werden wir auferstehen? Gleich oder ungleich der Vergangenheit? Ganz gewiss ähnlich. Unsere Leiber werden dann wahrhaftig sein; denn die Seele wird sich gemäß ihrer vergangenen Geschichte verkörpern – sich nicht nur, wie jetzt, in die Gesichtszüge einprägen, sondern sich ausdrücken, so dass ein Mensch an dem erkannt werden kann, was er ist, und als das, was er ist. So hat auch in dieser Hinsicht die Auferstehung einen moralischen Aspekt und ist die Vollendung der Geschichte der Menschheit und eines jeden Menschen. Und auch der Christus muss in seinem verherrlichten Leib all das getragen haben, was er war, all das, was selbst seine engsten Jünger nicht wussten und nicht verstanden, als er bei ihnen war, was sie jetzt nicht erkannten, aber sofort wussten, als er zu ihnen sprach.

    Genau das war es, was nun die Magdalena zu ihrem Handeln veranlasste – und was auch die Antwort des Herrn erklärt. Als sie in ihrem Namen Seinen Namen erkannte, überkam sie das alte Gefühl, und mit dem vertrauten „Rabboni!“Meister – hätte sie Ihn am liebsten ergriffen. War es der unbewusste Impuls, den kostbaren Schatz zu ergreifen, den sie für immer verloren geglaubt hatte; der unbewusste Versuch, sich zu vergewissern, dass es sich nicht nur um eine Erscheinung Jesu aus dem Himmel handelte, sondern um den wirklichen Christus in Seiner Leiblichkeit auf Erden; oder eine Geste der Verehrung, der Beginn solcher Akte der Anbetung, wie sie ihr Herz verlangte? Wahrscheinlich all das; und doch war sie sich in diesem Augenblick wahrscheinlich keines dieser Gefühle bewusst. Aber auf sie alle gab es eine Antwort, und darin eine höhere Richtung, die durch die Worte des Herrn gegeben wurde: „Rührt mich nicht an, denn ich bin noch nicht zum Vater aufgefahren“. Nicht der vom Himmel erscheinende Jesus – er war noch nicht zum Vater aufgefahren; nicht der frühere Verkehr, nicht die frühere Huldigung und Anbetung. Es gab noch eine Zukunft der Vollendung vor ihm in der Himmelfahrt, von der Maria nichts wusste. Zwischen dieser Zukunft der Vollendung und der Vergangenheit der Arbeit war die Gegenwart eine Lücke, die teils der Vergangenheit, teils der Zukunft angehörte. An die Vergangenheit konnte man sich nicht erinnern, die Zukunft konnte man nicht vorhersehen. Die Gegenwart diente der Beruhigung, dem Trost, der Vorbereitung und der Belehrung. Lass die Magdalena gehen und seinen „Brüdern“ von der Himmelfahrt erzählen. So würde sie ihnen am besten und wahrhaftigsten sagen, dass sie Ihn gesehen hatte; so würden sie auch am besten erfahren, wie die Auferstehung die Vergangenheit Seines Liebeswerkes für sie mit der Zukunft verband: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem Gott und eurem Gott. So kam die vollste Lehre der Vergangenheit, die klarste Offenbarung der Gegenwart und die hellste Lehre der Zukunft – alles in der Auferstehung zusammengefasst – zu den Aposteln durch den Mund der Liebe derjenigen, aus der er sieben Teufel ausgetrieben hatte.

    Noch eine andere Szene an jenem Ostermorgen schildert Matthäus, um zu erklären, wie die bekannte jüdische Verleumdung aufkam, die Jünger hätten den Leichnam Jesu weggestohlen. Er erzählt, wie der Wächter den Hohenpriestern berichtete, was geschehen war, und wie diese ihrerseits den Wächter bestachen, damit er dieses Gerücht verbreite, und gleichzeitig versprachen, dass sie sich für Pilatus einsetzen würden, falls die erfundene Geschichte, sie hätten geschlafen, während die Jünger das Grab raubten, zu ihm gelangen würde. Was auch immer sonst noch gesagt werden mag, wir wissen, dass dies seit der Zeit von Justin Martyra jüdische Erklärung war. In jüngster Zeit ist sie jedoch bei den nachdenklichen jüdischen Schriftstellern durch die so genannte „Visionshypothese“ ersetzt worden, auf die bereits ausführlich eingegangen wurde.

    Es war am frühen Nachmittag jenes Frühlingstages, vielleicht kurz nach dem Frühmahl, als zwei Männer aus diesem Kreis der Jünger die Stadt verließen. Ihre Erzählung gibt einen höchst interessanten Einblick in den Kreis der Kirche in jenen ersten Tagen. Der Eindruck, der uns vermittelt wird, ist der einer völligen Verwirrung, in der nur einige Dinge unerschüttert und fest standen: die Liebe zur Person Jesu, die Liebe unter den Brüdern, das gegenseitige Vertrauen und die Gemeinschaft, zusammen mit einer schwachen Hoffnung auf etwas, das noch kommen wird – wenn nicht Christus in seinem Reich, so doch irgendeine Manifestation davon oder eine Annäherung an es. Das Apostelkollegium scheint in Einzelteile zerbrochen zu sein; selbst die beiden Hauptapostel Petrus und Johannes sind nur „einige von denen, die mit uns waren“. Und das ist kein Wunder, denn sie sind nicht mehr „Apostel“ – ausgesandt. Wer soll sie denn aussenden? Nicht ein toter Christus! Und was wird ihr Auftrag sein, und zu wem und wohin? Und über allem schwebte eine Wolke völliger Ungewissheit und Verwirrung. Jesus war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk. Aber ihre Herrscher hatten ihn gekreuzigt. Wie sollte ihre neue Beziehung zu Jesus aussehen, wie zu ihren Herrschern? Und was ist mit der großen Hoffnung auf das Reich Gottes, die sie mit ihm verbunden hatten?

    So waren sie an jenem Ostertag selbst über seine Mission und sein Werk im Unklaren: im Unklaren über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Welch ein Bedürfnis nach der Auferstehung und nach der Lehre, die nur der Auferstandene bringen konnte! Diese beiden Männer hatten sich an jenem Tag mit Petrus und Johannes unterhalten. Und es hinterlässt bei uns den Eindruck, dass inmitten der allgemeinen Verwirrung alle solche Nachrichten gebracht hatten, wie sie sie hatten, oder gekommen waren, um sie zu hören, und versucht hatten, aber gescheitert waren, alles zu ordnen oder ein Licht darum herum zu sehen. Die Frauen“ waren gekommen, um von dem leeren Grab zu berichten und von ihrer Vision von Engeln, die sagten, dass er lebe. Aber die Apostel hatten noch keine Erklärung anzubieten. Petrus und Johannes waren gegangen, um sich selbst ein Bild zu machen. Sie brachten die Bestätigung des Berichts, dass das Grab leer war, zurück, aber sie hatten weder Engel noch den gesehen, den sie für lebendig erklärt haben sollten. Und obwohl die beiden offensichtlich den Kreis der Jünger, wenn nicht sogar Jerusalem, verlassen hatten, bevor die Magdalena kam, wissen wir, dass selbst ihr Bericht nicht zur Überzeugung derer beitrug, die ihn hörten.

    Von den beiden, die an jenem frühen Frühlingsnachmittag die Stadt in Begleitung verließen, wissen wir, dass der eine den Namen Kleopas trug. Der andere, der keinen Namen trägt, wurde aus diesem Grund und weil die Erzählung dieses Werkes in ihrer Lebendigkeit den Charakter einer persönlichen Erinnerung trägt, mit dem heiligen Lukas selbst identifiziert. Wenn dem so wäre, dann würde jedes der Evangelien wie ein Bild in irgendeinem dunklen Winkel den Hinweis auf seinen Autor tragen: das erste, das des „Zöllners“; das des Markus, das des jungen Mannes, der in der Nacht des Verrats vor seinen Entführern floh; das des Lukas, in dem Begleiter des Kleopas; und das des Johannes, in dem Jünger, den Jesus liebte. Die Ungewissheit über die Identifizierung dieses Ortes ist fast genauso groß wie die über den zweiten Emmausreisenden. Aber wenn auch nicht der genaue Ort, so doch die Örtlichkeit oder vielmehr das Tal ist so wahrscheinlich, dass wir in der Vorstellung den beiden Gefährten auf ihrem Weg folgen können.

    Wir verlassen die Stadt durch das Westtor. Nach etwa fünfundzwanzig Minuten zügigen Vorankommens haben wir den Rand des Plateaus erreicht. Die blutbefleckte Stadt und der wolken- und düsterbedeckte Aufenthaltsort der Anhänger Jesu liegen hinter uns, und mit jedem Schritt vorwärts und aufwärts scheint die Luft frischer und freier, als ob wir in ihr den Duft der Berge oder sogar die ferne Brise des Meeres spürten. Weitere fünfundzwanzig oder dreißig Minuten – vielleicht ein wenig mehr, da wir hier und da an Landhäusern vorbeikommen – und wir halten inne, um zurückzublicken, jetzt auf die weite Aussicht bis nach Bethlehem. Wieder setzen wir unseren Weg fort. Wir verlassen nun die trostlose, felsige Gegend und kommen in ein Tal. Zu unserer Rechten befindet sich der angenehme Ort, der das alte Nephtoah an der Grenze zu Juda markiert und heute von dem Dorf Lifta eingenommen wird. Nach einer knappen Viertelstunde haben wir die gut befestigte Römerstraße verlassen und steigen in ein schönes Tal hinauf. Der Weg steigt sanft in nordwestlicher Richtung an, wobei die Höhe, auf der Emmaus steht, deutlich vor uns liegt. Etwa in gleicher Entfernung liegen rechts Lifta und links Kolonieh. Die Straßen von diesen beiden, die fast einen Halbkreis beschreiben (die eine nach Nordwesten, die andere nach Nordosten), treffen sich etwa eine Viertelmeile südlich von Emmaus (Hammoza, Belt Mizza). Was für eine Oase in dieser hügeligen Gegend! Entlang des plätschernden Baches, der tief im Tal von einer Brücke überquert wird, liegen duftende Orangen- und Zitronengärten, Olivenhaine, üppige Obstbäume, angenehme Einfriedungen, schattige Winkel, helle Wohnhäuser und auf der Höhe das liebliche Emmaus. Ein schönes Fleckchen, zu dem man an diesem Frühlingsnachmittag spazieren gehen konnte; ein sehr geeigneter Ort, um eine solche Gemeinschaft zu treffen und eine solche Lehre zu finden, wie an diesem Ostertag.

    Es mag dort gewesen sein, wo sich die beiden Straßen von Lifta und Kolonieh treffen, wo der geheimnisvolle Fremde, den sie nicht kannten, weil sie ihn nicht sahen, zu den beiden Freunden stieß. Doch während der ganzen sechs oder sieben Meilen2 hatten sie sich über ihn unterhalten, und selbst jetzt trugen ihre erröteten Gesichter die Spuren der Traurigkeit3 wegen der Ereignisse, von denen sie gesprochen hatten – enttäuschte Hoffnungen, umso bitterer wegen der verwirrenden Nachricht vom leeren Grab und dem fehlenden Leib Christi. So ist uns Christus oft nahe, wenn wir ihn nicht kennen, und so erfüllen Unwissenheit und Unglaube unsere Herzen oft mit Traurigkeit, selbst wenn uns die wahrhaftigste Freude zuteil würde. Auf die Frage des Fremden nach dem Thema eines Gesprächs, das sie so sichtlich berührt hatte,antworteten sie in einer Sprache, die zeigt, dass sie selbst so sehr davon eingenommen waren, dass sie kaum verstehen konnten, wie selbst ein festlicher Pilger und Fremder in Jerusalem es nicht kennen oder seine höchste Bedeutung nicht wahrnehmen konnte. Doch so seltsam unsympathisch er mit seiner Frage auch erscheinen mochte, in seiner Erscheinung lag etwas, das ihnen das Innerste ihres Herzens öffnete. Sie erzählten ihm, was sie über diesen Jesus dachten, wie er sich als ein in Tat und Wort mächtiger Prophet vor Gott und dem ganzen Volk erwiesen hatte, dann, wie ihre Herrscher ihn gekreuzigt hatten, und schließlich, wie sie durch die Nachricht, die die Frauen gebracht hatten und die Petrus und Johannes zwar bestätigt hatten, aber nicht erklären konnten, in neue Verwirrung geraten waren. Ihre Worte waren fast kindlich in ihrer Einfachheit, zutiefst wahrheitsgetreu und mit einem Pathos und einer ernsthaften Sehnsucht nach Führung und Trost, die direkt ins Herz gehen. Solchen Seelen wollte der auferstandene Heiland seine erste Lehre erteilen. Gerade die Zurechtweisung, mit der Er sie eröffnete, muss ihnen Trost gebracht haben. Auch wir sind in unserer Schwachheit manchmal sehr beunruhigt, wenn wir hören, dass gegen eine der großen Wahrheiten unseres heiligen Glaubens scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten aufgeworfen werden, und fühlen uns in vielleicht gleicher Schwachheit getröstet und gestärkt, wenn ein „Großer“ sie beiseite schiebt oder sich angesichts dieser Schwierigkeiten als gläubiger Jünger Christi bekennt. Als ob die mickrige Größe des Menschen bis zu den Geheimnissen des Himmels reichen könnte oder die Kraft eines großen Kindes nötig wäre, um das Gebäude zu halten, das Gott auf dem großen Eckstein errichtet hat! Aber die Zurechtweisung Christi war nicht von dieser Art. Ihr Kummer rührte von ihrer Torheit her, nur auf das Gesehene zu schauen, und zwar aus ihrer Langsamkeit, dem zu glauben, was die Propheten gesagt hatten. Hätten sie darauf geachtet, anstatt sich vom Äußeren verschlingen zu lassen, hätten sie alles verstanden. Hat die Heilige Schrift nicht mit einer Stimme diese doppelte Wahrheit über den Messias gelehrt, dass er leiden und in seine Herrlichkeit eingehen sollte? Warum sollten sie sich dann wundern – warum sollten sie nicht vielmehr erwarten, dass er gelitten hat und dass die Engel ihn wieder lebendig verkündet haben?

    Er sprach es, und neue Hoffnung keimte in ihren Herzen auf, neue Gedanken stiegen in ihren Köpfen auf. Ihr sehnsüchtiger Blick war auf Ihn gerichtet, als Er nun eine nach der anderen die Heilige Schrift von Mose und allen Propheten aufschlug und ihnen in jedem wohlbekannten Abschnitt die Dinge erklärte, die sich auf Ihn bezogen. Ach, wären wir doch dabei gewesen, um zu hören – wenn auch in der Stille unseres Herzens, wenn wir uns nur danach sehnen, und wenn wir mit Ihm wandeln, erschließt Er manchmal so aus der Schrift – ja, aus der ganzen Schrift, was uns durch kritisches Studium nicht zugänglich wird: ‚die Dinge, die sich selbst betreffen‘. Allzu schnell verflogen die Augenblicke. Die kurze Zeitspanne war vorüber, und der Fremde schien im Begriff zu sein, Emmaus zu verlassen – nicht zum Schein, sondern wirklich; denn Christus bleibt nur bei uns, wenn unsere Sehnsucht und unsere Liebe ihn dazu zwingen. Aber sie konnten sich nicht von ihm trennen. Sie drängten Ihn. Die Liebe machte sie erfinderisch. Es ging auf den Abend zu; der Tag war schon weit fortgeschritten; Er musste noch bei ihnen bleiben. Welch ein Ansturm von Gedanken und Gefühlen kommt in uns auf, wenn wir an all das denken und versuchen, uns Zeiten, Szenen und Umstände in unserer Erfahrung vorzustellen, die dem gesegneterweise ähnlich sind.

    Der Meister ließ sich fesseln. Er ging hinein, um, wie sie dachten, für die Nacht ihr Gast zu sein. Das einfache Abendmahl wurde aufgetragen. Er setzte sich zu ihnen an die schlichte Tafel. Und nun war er nicht mehr der Fremde, sondern der Meister. Keiner fragte oder stellte Fragen, als Er das Brot nahm, die Segensworte sprach und es dann brach und ihnen gab. Aber in diesem Moment war es, als wäre eine Hand von ihren Augenlidern genommen worden, als wäre plötzlich der Film von ihren Augen verschwunden. Und so wie sie Ihn kannten, verschwand Er aus ihrem Blickfeld – denn das, was Er zu tun gekommen war, war getan worden. Sie waren nun unsagbar reich und glücklich. Aber inmitten all dessen drängte sich ihnen eines immer wieder neu auf: Noch während ihre Augen gehalten wurden, brannte ihr Herz in ihnen, während Er zu ihnen sprach und ihnen die Schriften öffnete. So hatten sie also die Auferstehungslektion in vollem Umfang gelernt – nicht nur, dass Er tatsächlich auferstanden war, sondern dass es nicht seiner sichtbaren körperlichen Gegenwart bedurfte, wenn Er ihnen nur alle Schriften über sich selbst in Herz und Verstand eröffnete. Und dies, was die anderen Worte über das „Halten“ und „Berühren“ von Ihm betrifft – über das Gespräch und die Gemeinschaft mit Ihm als dem Auferstandenen – war auch die Lektion, die der Magdalena erteilt wurde, als Er ihre liebevolle, verehrende Berührung nicht dulden wollte und sie auf die Himmelfahrt vor Ihm hinwies. Dies ist die große Lektion über den Auferstandenen, die die Kirche am Pfingsttag vollständig gelernt hat.

    Am selben Nachmittag war der Herr unter uns unbekannten Umständen und auf eine uns unbekannte Weise dem Petrus erschienen. Wir können vielleicht annehmen, dass dies nach seiner Offenbarung in Emmaus geschah. Damit würde sich der Kreislauf der Barmherzigkeit schließen: zuerst dem liebevollen Kummer der Frau, dann der liebevollen Ratlosigkeit der Jünger, dann dem ängstlichen Herzen des erschütterten Petrus – und zuletzt dem Kreis der Apostel, der sich wieder um die sichere Tatsache seiner Auferstehung scharte.

    Die beiden in Emmaus hätten die frohe Botschaft nicht für sich behalten können. Selbst wenn sie sich nicht an den Kummer und die Verwirrung erinnert hätten, in denen sie ihre Mitjünger in Jerusalem an jenem Vormittag zurückgelassen hatten, hätten sie es nicht für sich behalten können, hätten nicht in Emmaus bleiben können, sondern hätten zu ihren Brüdern in der Stadt gehen müssen. So ließen sie das nicht gegessene Mahl stehen und eilten den Weg zurück, den sie mit dem nun bekannten Fremden zurückgelegt hatten – aber, ach, mit welch leichteren Herzen und Schritten!

    Sie kannten den Ort, an dem sie „die Zwölf“ – nein, jetzt nicht mehr die Zwölf, sondern „die Elf“ – antrafen, sehr gut, und auch so war ihr Kreis nicht vollständig, denn, wie schon gesagt, war er zersplittert, und zumindest Thomas war an jenem Osterabend des ersten „Herrentags“ nicht bei den anderen. Aber, wie uns Lukas sorgfältig mitteilt,waren die anderen, die sich damals mit ihnen verbanden, bei ihnen. Das ist äußerst wichtig, denn es zeigt, dass die Worte, die der auferstandene Christus bei dieser Gelegenheit sprach, nicht an die Apostel als solche gerichtet waren – ein Gedanke, den auch die Abwesenheit von Thomas verbietet -, sondern an die Kirche, auch wenn sie durch diejenigen der „Zwölf“ oder besser „Elf“, die bei dieser Gelegenheit anwesend waren, personifiziert und repräsentiert sein mag.

    Als die beiden aus Emmaus ankamen, fanden sie die kleine Gruppe wie Schafe vor, die sich vor dem Sturm in der Herde versteckten. Ob sie nun als Jünger Verfolgung befürchteten oder weil die Nachricht vom leeren Grab, die die Obrigkeit erreicht hatte, die Sanhedristen in Angst und Schrecken versetzen würde, es waren besondere Vorkehrungen getroffen worden. Die äußeren und inneren Türen wurden verschlossen, um die Versammlung zu verbergen und eine Überraschung zu verhindern. Aber die Versammelten waren sich nun zumindest einer Sache sicher. Christus war auferstanden. Und als sie von Emmaus aus ihre wundersame Geschichte erzählten, konnten die anderen antiphonisch antworten, indem sie berichteten, wie er nicht nur der Magdalena, sondern auch Petrus erschienen war. Und doch scheinen sie seine Auferstehung noch nicht verstanden zu haben; sie betrachteten sie eher als eine Himmelfahrt, von der aus er sich offenbart hatte, denn als das Wiedererscheinen seiner wirklichen, wenn auch verherrlichten Körperlichkeit.

    Sie saßen bei Tisch – wenn wir aus der Notiz des Markus und aus dem, was unmittelbar danach geschah, schließen dürfen – und diskutierten, nicht ohne erhebliche Zweifel und Bedenken, über die wahre Bedeutung dieser Erscheinungen Christi. Die Erscheinung bei der Magdalena scheint beiseite gelassen worden zu sein – jedenfalls wird sie nicht erwähnt, und auch bei den anderen scheinen sie, jedenfalls von einigen, eher als das angesehen worden zu sein, was wir als geisterhafte Erscheinungen bezeichnen würden. Doch mit einem Mal stand Er mitten unter ihnen. Der gewöhnliche Gruß – auf Seinen Lippen nicht gewöhnlich, sondern eine Realität – erfüllte ihre Herzen zunächst eher mit Schrecken als mit Freude. Sie hatten von Gespenstererscheinungen gesprochen, und nun glaubten sie, „einen Geist zu sehen“ (θεωρεῖν). Dies berichtigte der Heiland zuerst und ein für allemal, indem er ihnen die verherrlichten Wundmale Seiner Heiligen Wunden zeigte und sie aufforderte, Ihn zu berühren, um sich davon zu überzeugen, dass Sein Leib wirklich war und das, was sie sahen, nicht ein körperloser Geist. Der Unglaube des Zweifels wich nun dem Unglauben, alles zu glauben, was es bedeutete, der Freude und der Frage, ob zwischen diesem auferstandenen Christus und ihnen in ihren Leibern nun noch eine Gemeinschaft oder ein Band bestehen könne. Um auch dies zu beseitigen, was, wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt, ebenfalls Unglaube war, nahm der Heiland nun vor ihnen an ihrem Abendmahl aus gebratenen Fischen2 teil und hielt so mit ihnen wahre menschliche Gemeinschaft wie in alten Zeiten.

    Es war diese Lektion Seiner Kontinuität – im strengsten Sinne – mit der Vergangenheit, die erforderlich war, damit die Kirche jetzt sozusagen im Namen, in der Kraft und im Geist des Auferstandenen, der gelebt hatte und gestorben war, wiederhergestellt werden konnte. Noch einmal sprach Er das „Friede sei mit euch!“, und jetzt war es für sie kein Anlass zum Zweifel oder zur Furcht, sondern der bekannte Gruß ihres alten Herrn und Meisters. Danach wurde die Kirche als die Kirche Jesu Christi, des Auferstandenen, neu versammelt und konstituiert. Die Kirche des Auferstandenen sollte die Botschafterin Christi sein, so wie er der Beauftragte des Vaters gewesen war. Die Apostel hatten den Auftrag, das Werk Christi fortzusetzen und nicht ein neues zu beginnen. „“Wie mich der Vater gesandt hat [in der Vergangenheit, denn seine Sendung war vollendet], so sende2 ich euch [in der ständigen Gegenwart, bis zu seiner Wiederkunft]“. Dies kennzeichnet die dreifache Beziehung der Kirche zum Sohn, zum Vater und zur Welt und ihre Stellung in ihr. In der gleichen Weise, zu dem gleichen Zweck, ja, soweit möglich, mit der gleichen Qualifikation und der gleichen Autorität, wie der Vater Christus gesandt hatte, beauftragt er seine Kirche. Und so machte er es zu einem sehr realen Auftrag, als er sie nicht einzeln, sondern als Gemeinde anhauchte und sagte: „Nehmt den Heiligen Geist“, und dies offensichtlich nicht im absoluten Sinne, da der Heilige Geist noch nicht gegeben war, sondern als Bindeglied und Qualifikation für die der Kirche verliehene Vollmacht. Oder, um einen anderen Aspekt zu verdeutlichen, indem wir die Reihenfolge der Worte etwas umkehren: Sowohl die Sendung der Kirche als auch ihre Vollmacht, Sünden zu vergeben oder zu behalten, sind mit einer persönlichen Qualifikation verbunden: „Nehmt ihr den Heiligen Geist“, wobei das Wort „nehmen“ ebenfalls hervorzuheben ist. Dies ist die Vollmacht, die die Kirche besitzt, nicht ex opere operato, sondern in Verbindung mit dem Nehmen und der Einwohnung des Heiligen Geistes in der Kirche.

    Es bleibt noch, diese beiden Punkte zu erklären, soweit wir es können: worin diese Macht, Sünden zu vergeben und zu behalten, besteht, und in welcher Weise sie der Kirche innewohnt. Was den ersten Punkt betrifft, so müssen wir uns zunächst fragen, welche Vorstellung er denjenigen vermittelt, zu denen Christus die Worte gesprochen hat. Es wurde bereits erklärt,dass sich die Macht des „Lösens“ und „Bindens“ auf die gesetzgebende Gewalt bezog, die vom Rabbinerkollegium beansprucht und ihm zugestanden wurde. In ähnlicher Weise bezog sich die hier erwähnte Macht auf ihre juristische oder richterliche Macht, nach der sie eine Person entweder „Zakkai“, unschuldig oder „frei“, „freigesprochen“, „Patur“, oder aber „schuldig“, „Chayyabh“ (ob zur Strafe oder zum Opfer) erklärten. Im eigentlichen Sinne handelt es sich also eher um eine administrative, disziplinarische Macht, „die Macht der Schlüssel“, wie Paulus sie in der korinthischen Kirche in Kraft gesetzt hätte, die Macht der Aufnahme und des Ausschlusses, der autoritativen Erklärung der Vergebung der Sünden, in deren Ausübung (so scheint es dem Verfasser) auch die Autorität zur Verwaltung der heiligen Sakramente enthalten ist. Und doch ist es nicht, wie manchmal dargestellt wird, die „Absolution von den Sünden“, die allein Gott und Christus als Haupt der Kirche zukommt, sondern die Absolution des Sünders, die er seiner Kirche übertragen hat: „Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben. Diese Worte lehren uns auch, dass das, was die Rabbiner aufgrund ihres Amtes beanspruchten, der Herr seiner Kirche aufgrund des Empfangs und der Innewohnung des Heiligen Geistes geschenkt hat.

    Bei der Beantwortung der zweiten vorgeschlagenen Frage müssen wir einen wichtigen Punkt berücksichtigen. Die Macht des „Bindens“ und „Lösens“ war in erster Linie den Aposteln übertragen worden,und wurde von ihnen in Bezug auf die Kirche ausgeübt. c Die Macht der Sündenvergebung und des Behaltens der Sünden hingegen war in erster Linie der Kirche übertragen worden und wurde von ihr durch ihre Vertreter, die Apostel, und diejenigen, denen sie die Herrschaft übertragen hatten, ausgeübt. Obwohl also der Herr in jener Nacht diese Macht seiner Kirche übertragen hat, geschah dies in der Person ihrer Vertreter und Leiter. Die Apostel allein konnten gesetzgebende Funktionen ausüben, aber die Kirche hat bis ans Ende der Zeiten „die Macht der Schlüssel“.

    Einer der Apostel, Thomas, war an jenem Osterabend im Kreis der Jünger abwesend gewesen. Selbst als man ihm von den wunderbaren Ereignissen jener Versammlung erzählte, weigerte er sich zu glauben, es sei denn, er hätte einen persönlichen und sinnlichen Beweis für die Wahrheit des Berichts. Es kann kaum sein, dass Thomas nicht an die Tatsache glaubte, dass der Leib Christi das Grab verlassen hatte, oder dass er wirklich erschienen war. Aber er hielt an dem fest, was wir die Visionshypothese, oder in diesem Fall eher die Gespenstertheorie, nennen können. Solange aber auch dieser Apostel nicht zur Überzeugung von der Auferstehung im einzig wahren Sinne – von der identischen, wenn auch verklärten Leiblichkeit des Herrn und damit von der Kontinuität der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft – gelangt war, war es unmöglich, den apostolischen Kreis neu zu bilden oder den apostolischen Auftrag zu erneuern, da dessen ursprüngliche Botschaft das Zeugnis über den Auferstandenen war. Dies scheint, wenn man so will, der Grund zu sein, warum die Apostel noch in Jerusalem blieben, anstatt, wie befohlen, dem Meister nach Galiläa zu folgen.

    Eine ruhige Woche war vergangen, in der – und auch das mag für unsere doppelte Lehre sein – die Apostel Thomas nicht ausschlossen,und Thomas sich auch nicht von den Aposteln zurückzog. Wieder einmal war der Tag der Tage gekommen – die Oktav des Festes. Von diesem Ostertag an mußte die Kirche, auch ohne besondere Einsetzung, das wöchentlich wiederkehrende Gedenken an seine Auferstehung feiern, als den Tag, an dem er der Kirche den Hauch eines neuen Lebens einhauchte und sie zu seiner Stellvertreterin weihte. Es war also nicht nur das Gedächtnis seiner Auferstehung, sondern auch der Geburtstag der Kirche, so wie Pfingsten der Tag ihrer Taufe war. In dieser Oktav waren die Jünger also wieder versammelt, und zwar unter ganz ähnlichen Umständen wie an Ostern, aber jetzt war auch Thomas dabei. Erneut – und wieder wird besonders darauf hingewiesen: „die Türen waren verschlossen “ – erschien auferstandene Heiland inmitten der Jünger mit der bekannten Begrüßung. Er bot Thomas nun den geforderten Beweis an; aber er wurde nicht mehr gebraucht oder gesucht. Voller Gefühlsausbruch gab er sich der gesegneten Überzeugung hin, die, einmal gebildet, sofort in einen Akt der Anbetung übergegangen sein muss: „Mein Herr und mein Gott! Dies war das vollste Bekenntnis, das er bis dahin abgelegt hatte, und es umfasste wahrhaftig das ganze Ergebnis der neuen Überzeugung von der Wirklichkeit der Auferstehung Christi. Wir erinnern uns, wie Nathanael unter ähnlichen Umständen als Erster das vollste Bekenntnis ablegte. Wir erinnern uns auch an die analoge Antwort des Erlösers. Wie damals, so wies er auch jetzt auf das Höhere hin: auf einen Glauben, der nicht das Ergebnis des Sehens war und daher durch das Sehen, sei es durch die Sinne oder durch die Erkenntnis des Verstandes, begrenzt und begrenzt wurde. Wie jemand sehr treffend bemerkt hat: „Diese letzte und größte der Seligpreisungen ist das eigentümliche Erbe der späteren Kirche „damit das treffendste Weihegeschenk dieser Kirche.

    Die nächste Szene, die uns präsentiert wird, spielt wieder am See Genezareth. Die Offenbarung an Thomas und damit die Wiederherstellung der Einheit des apostolischen Kreises hatte ursprünglich das Johannesevangelium abgeschlossen. Aber die in der frühen Kirche verbreitete Nachricht, dass der Jünger, den Jesus liebte, nicht sterben würde, veranlasste ihn, seinem Evangelium als Anhang einen Bericht über die Ereignisse hinzuzufügen, mit denen sich diese Erwartung verbunden hatte. Es ist für den Kritiker sehr lehrreich, wenn er auf Schritt und Tritt aufgefordert wird zu erklären, warum diese oder jene Tatsache nicht oder nur in einem Evangelium erwähnt wird, festzustellen, dass das vierte Evangelium ohne die Korrektur eines möglichen Missverständnisses in Bezug auf den greisen Apostel keinen Hinweis auf die Erscheinung Christi in Galiläa, ja nicht einmal auf die Anwesenheit der Jünger dort vor der Himmelfahrt enthalten hätte. Dennoch hatte der heilige Johannes sie im Sinn. Und sollten wir daraus nicht lernen, dass das, was uns als seltsame Auslassungen erscheint, die, wenn man sie mit den anderen Berichten der Evangelien vergleicht, Unstimmigkeiten zu beinhalten scheinen, der befriedigendsten Erklärung fähig sein können, wenn wir nur alle Umstände kennen würden?

    Die Geschichte selbst funkelt wie ein Edelstein in ihrer besonderen Umgebung. Sie handelt vom grünen Galiläa und vom blauen See und erinnert an die ersten Tage und Szenen dieser Geschichte. Nach dem Bericht des Matthäus gingen „die elf Jünger nach Galiläa“ – wahrscheinlich unmittelbar nach der Osteroktav. Es kann kaum bezweifelt werden, dass sie nicht nur die Tatsache der Auferstehung bekannt machten, sondern auch das Stelldichein, das der Auferstandene ihnen gegeben hatte – vielleicht auf jenem Berg, wo er seine erste „Predigt“ gehalten hatte. Und so kam es, dass „einige zweifelten “ und dass er danach den fünfhundert auf einmal erschien. Aber an jenem Morgen waren am See von Tiberias nur sieben der Jünger. Nur fünf von ihnen werden genannt. Es sind diejenigen, die am engsten mit ihm zusammen waren – vielleicht auch diejenigen, die am nächsten am See wohnten

    Die Szene wird durch Peters Vorschlag eingeleitet, angeln zu gehen. Es scheint, als ob die alten Gewohnheiten mit den alten Assoziationen zu ihnen zurückgekehrt wären. Petrus‘ Gefährten schlugen natürlich vor, sich ihm anzuschließen. In jener stillen, klaren Nacht waren sie auf dem See, aber sie fingen nichts. Erinnert sie das nicht an das frühere Ereignis, als Jakobus und Johannes sowie Petrus und Andreas zu Aposteln berufen wurden, und erinnert es Petrus nicht besonders an das Erforschen und Ausloten seines Herzens am darauffolgenden Morgen? a Aber sie waren sich ihrer selbst so wenig bewusst, und, fügen wir hinzu, diese Geschichte ist so weit entfernt von jeder Spur eines legendären Entwurfs,dass nicht der geringste Hinweis darauf zu finden ist. Der frühe Morgen brach an, und unter dem rosigen Schein des Himmels lagen die kühlen Schatten noch auf dem kieseligen „Strand“. Dort stand die Gestalt des Einen, den sie nicht erkannten, ja nicht einmal, als Er sprach. Doch Seine Worte sollten ihnen diese Erkenntnis bringen. Die Anweisung, das Netz auf der rechten Seite des Schiffes auszuwerfen, brachte ihnen, wie Er gesagt hatte, den Fang, für den sie sich die ganze Nacht vergeblich abgemüht hatten. Und mehr als das: eine solche Menge von Fischen, dass sie nicht in der Lage waren, das Netz ins Schiff zu ziehen. Das war genug für den Jünger, den Jesus liebte“, und dessen Herz ihn vielleicht vorher verraten hatte. Er flüsterte Petrus zu: „Es ist der Herr“, und Simon, der nur ehrfürchtig sein Fischerobergewand um sich schlang,2 warf sich ins Meer. Doch auch so scheint Petrus durch seine Eile nichts gewonnen zu haben, außer, dass er früher an der Seite Christi war. Die anderen verließen das Schiff und stiegen in ein kleines Boot um, das an das Schiff angehängt gewesen sein muss; sie folgten ihm, ruderten die kurze Strecke von etwa hundert und zogen das mit Fischen beladene Netz hinter sich her.


    Sie betraten den Strand, der von Seiner Gegenwart geweiht war, schweigend, als ob sie eine Kirche oder einen Tempel betreten hätten. Sie wagten es nicht einmal, das Netz mit den Fischen, das sie ans Ufer gezogen hatten, zu entsorgen, bis Er ihnen sagte, was sie tun sollten. Das einzige, was sie bemerkten, war, dass eine unsichtbare Hand das Morgenmahl zubereitet hatte, von dem sie auf die Frage des Meisters hin zugaben, dass sie es nicht selbst zubereitet hatten. Und nun wies Jesus sie an, die gefangenen Fische zu bringen. Als Petrus das beschwerte Netz heraufzog, fand er es voll mit großen Fischen, nicht weniger als hundertdreiundfünfzig an der Zahl. Es ist nicht nötig, dieser Zahl irgendeine symbolische Bedeutung beizumessen, wie es die Väter und die späteren Autoren getan haben. Wir können durchaus verstehen – ja, es scheint geradezu natürlich, dass sie unter den besonderen Umständen die großen Fische in jenem wundersamen Zug zählten, der das Netz noch unversehrt ließ. Es mag sein, dass ihnen gesagt wurde, sie sollten die Fische zählen – zum Teil auch, um die Realität des Geschehenen zu zeigen. Aber auf dem Kohlenfeuer scheint nur ein einziger Fisch gewesen zu sein, und daneben nur ein einziges Brot. 2 Zu diesem Mahl lud er sie nun ein, denn sie scheinen sich noch immer in ehrfürchtiger Furcht zurückgehalten zu haben und wagten nicht, ihn zu fragen, wer er sei, obwohl sie wussten, dass es der Herr war. Dies war, wie der heilige Johannes bemerkt, die dritte Erscheinung Christi vor den Jüngern als Körper.

    Und doch war dieser Morgen des Segens noch nicht zu Ende. Das genügsame Mahl war vorbei, mit all seiner bedeutsamen Lehre von der gerade ausreichenden Versorgung seiner Diener und dem reichlichen Vorrat in dem ungebrochenen Netz neben ihnen. Aber es bedurfte noch einer besonderen Belehrung, mehr noch als die für Thomas, für den, dessen Werk unter den Aposteln so herausragend sein sollte, dessen Liebe so glühend war und doch in ihrer Glut so voller Gefahren für ihn selbst. Denn unsere Gefahren rühren nicht nur von einem Mangel her, sondern vielleicht auch von einem Übermaß an Gefühl, wenn dieses Gefühl nicht mit der inneren Kraft übereinstimmt. Hatte Petrus nicht aufrichtig, aber, wie sich herausstellte, im Irrtum gestanden, dass seine Liebe zu Christus selbst einer Prüfung standhalten würde, die alle anderen zerstreuen würde? Und hatte er nicht fast unmittelbar danach, obwohl prophetisch davor gewarnt, seinen Herrn dreimal verleugnet? In der Tat war Jesus dem Petrus seitdem besonders als der Auferstandene erschienen. Aber diese dreimalige Verleugnung stand noch immer sozusagen unaufgehoben vor den anderen Jüngern, ja vor Petrus selbst. Darauf bezog sich nun die dreifache Frage nach dem auferstandenen Herrn. Indem er sich an Petrus wandte, wies er ihn auf die Gefahr des Selbstbewusstseins hin – eines Selbstbewusstseins, das nur aus einem Gefühl der persönlichen Zuneigung erwächst, auch wenn es echt ist – und fragte: „Simon, Sohn Jenas“ – sozusagen mit vollem Bezug auf das, was er von Natur aus war – „liebst du mich mehr als diese? Petrus hat das alles verstanden. Nicht mehr im Vertrauen auf sich selbst, die frühere Bezugnahme auf die anderen vermeidend, und sogar mit deutlicher Wahl eines anderen Wortes, um seine Zuneigung auszudrücken4 als das, das der Heiland benutzt hatte, antwortete er, eher an das Bewusstsein seines Herrn als an sein eigenes appellierend: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Und auch hier ist die Antwort Christi charakteristisch. Sie bestand darin, ihm die bescheidenste Arbeit zu übertragen, die die größte Sorgfalt und Geduld erforderte: „Weide Meine Lämmer.

    Doch ein zweites Mal kam dieselbe Frage, wenn auch jetzt ohne den Hinweis auf die anderen, und mit derselben Antwort des Petrus der nun veränderte und erweiterte Auftrag: „Weide (ποίμαινε) Meine Schafe“. Noch ein drittes Mal wiederholte Jesus dieselbe Frage, wobei er nun genau das Wort benutzte, mit dem Petrus seine Zuneigung ausgedrückt hatte. Petrus war betrübt über diese dreimalige Wiederholung. Sie erinnerte ihn nur zu bitter an seine dreimalige Verleugnung. Und doch zweifelte der Herr nicht an der Liebe des Petrus, denn jedes Mal schloss Er seine Frage mit einem neuen apostolischen Auftrag an; aber jetzt, wo Er sie zum dritten Mal stellte, wollte Petrus, dass der Herr den Tonfall ganz in die tiefste Tiefe seines Herzens hinabschickt: „Herr, Du weißt alles – Du erkennst , dass ich Dich liebe! Und nun sprach der Heiland: „Weide Meine Schafe. Seine Lämmer, Seine Schafe, die versorgt werden sollen, die als solche gehütet werden sollen! Und nur die Liebe kann einen solchen Dienst leisten.

    Ja, und Petrus hat den Herrn Jesus geliebt. Er hatte ihn geliebt, als er es sagte, nur zu sicher in der Stärke seiner Gefühle, dass er dem Meister bis in den Tod folgen würde. Und Jesus sah alles – ja, und wie diese Liebe des glühenden Temperaments, die ihn einst in wilder Freiheit umherstreifen ließ, einem geduldigen Werk der Liebe Platz machen und mit jenem Martyrium gekrönt werden würde, das, als der geliebte Jünger schrieb, bereits der Vergangenheit angehörte. Und gerade die Art des Todes, durch den er Gott verherrlichen sollte, wurde in den Worten Jesu angedeutet.

    Als er sie aussprach, verband er die symbolische Handlung mit seinem „Folge mir nach“. Dieser Befehl und die Ermutigung, im Tod buchstäblich wie er gemacht zu werden – ihm zu folgen -, waren Petrus‘ beste Kraft. Er gehorchte; doch als er sich umdrehte, sah er einen anderen folgen. Wie Johannes es selbst ausdrückt, scheint es fast zu vermitteln, dass er sich danach gesehnt hatte, den Ruf des Petrus zu teilen, mit allem, was er mit sich brachte. Denn Johannes spricht von sich selbst als dem Jünger, den Jesus liebte, und er erinnert uns daran, dass er in jener Nacht des Verrats in besonderer Weise mit Petrus geteilt hatte, ja, dass er gesprochen hatte, was der andere im Stillen von ihm verlangt hatte. War es Ungeduld, war es ein Hauch des alten Petrus, oder war es ein einfaches Erkundigen aus brüderlichem Interesse, das ihn zu der Frage veranlasste, als er auf Johannes deutete: „Herr, und dieser Mann, was? Was auch immer das Motiv war, für ihn wie für uns alle, wenn wir, verwirrt über diejenigen, die Christus nachzufolgen scheinen, danach fragen – manchmal in bigotter Engstirnigkeit, manchmal in Unwissenheit, Torheit oder Eifersucht – ist dies die Antwort: „Was geht dich das an? Denn auch Johannes hatte sein Lebenswerk für Christus. Er sollte „ausharren“, während er kam – diese vielen Jahre in geduldiger Arbeit ausharren, während Christus kam.

    Aber was bedeutete das? Unter den Brüdern verbreitete sich das Gerücht, Johannes solle nicht sterben, sondern ausharren, bis Jesus wiederkomme, um zu herrschen, und der Tod in den Sieg verschlungen werde. Aber Jesus hatte das nicht gesagt, sondern nur: „Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme“. Was dieses ‚Kommen‘ war, hatte Jesus nicht gesagt, und Johannes wusste es nicht. Es gibt also Dinge, die mit seinem Kommen zusammenhängen, über die Jesus den Schleier belassen hat, der erst durch seine eigene Hand gelüftet werden soll, und von denen er will, dass wir sie nicht kennen, und wir sollten uns damit begnügen, sie so zu lassen, wie er sie gelassen hat.

    Über diese Erzählung hinaus haben wir nur kurze Notizen: vom heiligen Paulus über die Offenbarung Christi an Jakobus, die ihn wahrscheinlich endgültig für Christus entschied, und über seine gleichzeitige Offenbarung an die fünfhundert Jünger; vom heiligen Matthäus über die Begegnung der Elf mit ihm auf dem Berg, wo er sie hingestellt hatte; vom heiligen Lukas über die Belehrung in der Heiligen Schrift während der vierzigtägigen Kommunikation zwischen dem auferstandenen Christus und den Jüngern.

    Aber dieses zweifache Zeugnis kommt uns von Matthäus und Markus, dass die anbetenden Jünger nun wieder zum apostolischen Kreis – nun zu Aposteln des auferstandenen Christus – geformt wurden. Und das war die Begründung für ihren neuen Auftrag: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Und das war ihr neuer Auftrag: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Und das war ihre Aufgabe: „Lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe“. Und dies ist seine endgültige und sichere Verheißung: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“.

    Wir befinden uns wieder in Jerusalem, wohin er sie gebeten hatte, auf die Erfüllung der großen Verheißung zu warten. Das Pfingstfest rückte näher. Und an diesem letzten Tag, dem Tag seiner Himmelfahrt, führte er sie in das wohlbekannte Bethanien. Von dort aus, wo Er das letzte Mal vor Seiner Kreuzigung triumphal in Jerusalem eingezogen war, würde Er sichtbar in den Himmel einziehen. Noch einmal hätten sie Ihn nach dem gefragt, was ihnen als die endgültige Vollendung erschien – die Wiederherstellung des Königreichs Israel. Aber solche Fragen wurden ihnen nicht gestellt. Sie sollten arbeiten, nicht ruhen; leiden, nicht triumphieren. Die große Verheißung, die vor ihnen lag, war geistliche, nicht äußere Macht: der Heilige Geist – und ihre Berufung, noch nicht mit ihm zu regieren, sondern für ihn Zeugnis abzulegen. Und während er so sprach, hob er seine Hände segnend über sie, und als er sichtbar emporgehoben wurde, nahm ihn eine Wolke auf. Und noch immer blickten sie mit aufgeworfenen Gesichtern auf die leuchtende Wolke, die ihn aufgenommen hatte, und zwei Engel sprachen zu ihnen diese letzte Botschaft von ihm, dass er so kommen solle, wie sie ihn in den Himmel hatten gehen sehen.

    Und so wurde auch ihre letzte Frage an ihn, bevor er sich von ihnen trennte, beantwortet, und zwar mit seliger Gewissheit. Sie beteten ihn ehrfürchtig an und kehrten dann mit großer Freude nach Jerusalem zurück. Es war also alles wahr, alles echt – und Christus „setzte sich zur Rechten Gottes“. Von nun an, ohne zu zweifeln, ohne sich zu schämen und ohne sich zu fürchten, „waren sie beständig im Tempel und priesen Gott“. „Und sie gingen hinaus und predigten überall, und der Herr wirkte mit ihnen und bestätigte das Wort durch die Zeichen die folgten. Amen.

    Amen! Es ist so. Lasst die Glocken des Himmels läuten, singt den engelhaften Willkommensgruß der Anbetung, tragt ihn bis an die äußersten Grenzen der Erde! Scheine aus Bethanien, du Sonne der Gerechtigkeit, und vertreibe den Nebel und die Finsternis der Erde, denn der goldene Tag des Himmels ist angebrochen!

    Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten

                    15.Nisan

                    Am nächsten Tag aber, der nach der Vorbereitung [dem Freitag] ist, versammelten sich die Hohenpriester und die Pharisäer bei Pilatus und sprachen: Herr, wir erinnern uns, dass dieser Verführer sagte, als er noch lebte: Nach drei Tagen werde ich auferstehen. Darum befiehl, dass das Grab gesichert werde bis zum dritten Tag, damit nicht seine Jünger kommen und ihn stehlen und zum Volk sagen: Er ist auferstanden von den Toten; so wird der letzte Irrtum schlimmer sein als der erste. Pilatus sprach zu ihnen: Nehmt eine Wache, geht hin und macht es so sicher, wie ihr könnt. Da gingen sie hin und verschlossen das Grab und versiegelten den Stein, während die Wache bei ihnen war.

                    Aber war das wirklich nötig? Erwarteten sie, die den Rest des Tages damit verbracht hatten, die Spezereien für die Salbung des toten Christus vorzubereiten, dass sein Leib weggenommen würde, oder erwarteten sie – vielleicht dachten sie in ihrer Trauer sogar an sein Wort: „Ich bin auferstanden“? Aber was dachten Josef von Arimathäa und Nikodemus, Petrus und Johannes, die anderen Jünger und vor allem die liebenden Frauen, die nur auf das erste Osterlicht warteten, um ihren letzten Liebesdienst zu tun, an jenem heiligen Sabbat, als die Sanhedristen darüber nachdachten, wie sie sich des toten Christus versichern könnten? Was dachten sie über Gott – was über Christus – was über die Worte, die er gesprochen hatte, die Taten, die er vollbracht hatte, das Heil, das er zu bringen gekommen war, und das Himmelreich, das er allen Gläubigen eröffnen sollte?

                    Hinter Ihm hatten sich die Pforten des Hades geschlossen; aber auf sie und nicht auf Ihn waren die Schatten des Todes gefallen. Dennoch liebten sie ihn – und die Liebe war stärker als der Tod.

                    Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
                    https://www.freebibleimages.org/photos/

                    14.Nisan – The End ??

                    (Matthäus 27:1, 2, 11-14; Markus 15:1-5; Lukas 23:1-5; Johannes 18:28-38; Lukas 23:6-12; Matthäus 27:3-10; Matthäus 27:15-18; Markus 15:6-10; Lukas 23:13-17; Johannes 18:39, 40; Matthäus 27:19; Matthäus 27:20-31 Markus 15,6-10; Lukas 23,13-17; Johannes 18,39.40; Matthäus 27,19; Matthäus 27,20-31; Markus 15,11-20; Lukas 23,18-25; Johannes 19,1-16).

                    DAS fahle graue Licht war in das des frühen Morgens übergegangen, als sich die Sanhedristen erneut im Palast des Kaiphas versammelten. Ein Vergleich mit der Beschreibung derjenigen, die in der vorangegangenen Nacht zusammengekommen waren, vermittelt den Eindruck, dass die Zahl der Anwesenden jetzt größer war und dass die, die jetzt kamen, zu den weisesten und einflussreichsten Mitgliedern des Rates gehörten. Es ist nicht unvernünftig anzunehmen, dass einige, die nicht an Beratungen teilnahmen, die praktisch einen Justizmord darstellten, sich, sobald der Beschluss gefasst war, in jüdischer Kasuistik von der Schuld freigesprochen fühlten, indem sie berieten, wie das informelle Urteil am besten in die Tat umgesetzt werden könnte. Dies und nicht die Frage nach der Schuld Christi war der Gegenstand der Beratungen an jenem frühen Morgen. Das Ergebnis war, Jesus zu „binden“ und ihn als Übeltäter an Pilatus zu übergeben, mit dem Entschluss, möglichst keine konkrete Anklage zu formulieren; a aber, falls dies notwendig werden sollte, den ganzen Nachdruck auf den rein politischen, nicht den religiösen Aspekt der Ansprüche Jesu zu legen.

                    Uns mag es seltsam erscheinen, dass sie, die, wenn man es genau nimmt, so grob unrechtmäßig gehandelt hatten und nun zu einer so grausamen und blutigen Tat schritten, durch religiöse Skrupel daran gehindert wurden, das „Prætorium“ zu betreten. Und doch wird der Student der jüdischen Kasuistik es verstehen; nein, ach, die Geschichte und sogar die gewöhnliche Beobachtung liefern nur zu viele parallele Beispiele von skrupelloser Skrupellosigkeit und ungerechter Gewissenhaftigkeit. Gewissen und Religiosität sind nur moralische Tendenzen, die dem Menschen natürlich sind; wohin sie tendieren, muss durch Erwägungen entschieden werden, die außerhalb von ihnen liegen: durch Aufklärung und Wahrheit. Das „Prätorium“, in das die jüdischen Führer, oder zumindest diejenigen von ihnen, die die Führer vertraten – weder Hannas noch Kaiphas scheinen persönlich anwesend gewesen zu sein -, den gefesselten Christus brachten, war (wie immer in den Provinzen) das Quartier des römischen Statthalters. In Cäsarea war dies der Palast des Herodes, und dort wurde Paulus später gefangen gehalten. In Jerusalem aber gab es zwei solche Quartiere: die Festung Antonia und den prächtigen Palast des Herodes am nordwestlichen Ende der Oberstadt. Obwohl es unmöglich ist, mit Gewissheit zu sprechen, spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Pilatus, als er mit seiner Frau in Jerusalem war, die wahrhaft königliche Residenz des Herodes bewohnte und nicht die befestigten Kasernen der Antonia. Vom östlichen Abhang gegenüber dem Tempelberg, wo der Palast des Kaiphas stand, schlängelte sich die melancholische Prozession durch die engen Gassen der Oberstadt bis zu den Portalen des großen Palastes des Herodes. Es ist überliefert, dass die, die ihn brachten, selbst nicht die Pforte des Palastes betreten wollten, „damit sie nicht verunreinigt würden, sondern das Passah essen könnten“.

                    Wenige Ausdrücke haben zu ernsthafteren Kontroversen Anlass gegeben als dieser. Zumindest über zwei Dinge können wir mit Gewissheit sprechen. Der Eintritt in ein heidnisches Haus machte levitisch gesehen für diesen Tag unrein – das heißt, bis zum Abend. Die Tatsache einer solchen Verunreinigung ist sowohl im Neuen Testament als auch in der Mischna eindeutig bezeugt, auch wenn die Gründe dafür unterschiedlich sein mögen. Eine Person, die auf diese Weise levitisch unrein geworden war, wurde technisch gesehen Tebhul Yom („gebadet am Tag“) genannt. Der andere Punkt ist, dass eine Person, die auf diese Weise für den Tag „unrein“ geworden war, sich nicht für das Essen des Osterlammes disqualifiziert hätte, da dieses Mahl nach dem Abend eingenommen wurde und ein neuer Tag begonnen hatte. Es ist sogar eindeutig festgelegt, dass der „Gebadete des Tages“, d. h. derjenige, der für den Tag unrein war und am Abend gebadet hatte, am Ostermahl teilnahm, und es wird ein Beispiel berichtet, in dem einige Soldaten, die die Tore Jerusalems bewachten, „untertauchten“ und das Osterlamm aßen. Daraus folgt, dass diese Sanhedristen den Palast des Pilatus nicht hätten betreten können, weil sie dadurch für das Ostermahl disqualifiziert worden wären.

                    Dieser Punkt ist von Bedeutung, weil viele Autoren den Ausdruck „Passah“ so interpretiert haben, dass er sich auf das Ostermahl bezieht, und argumentiert haben, dass unser Herr nach dem Vierten Evangelium am Vorabend nicht am Osterlamm teilgenommen hat oder dass der Bericht des Vierten Evangeliums in dieser Hinsicht nicht mit dem der Synoptiker übereinstimmt. Da es aber aus dem eben genannten Grund unmöglich ist, den Ausdruck „Passah“ auf das Ostermahl zu beziehen, bleibt nur zu fragen, ob der Begriff nicht auch auf andere Opfergaben angewandt wird. Und hier zeigen sowohl die alttestamentlichen als auch die jüdischen Schriften1 , dass der Begriff Pesach oder „Passah“ nicht nur auf das Osterlamm, sondern auf alle Passahopfer angewandt wurde, insbesondere auf das, was Chagigah oder Festopfer genannt wurde (von Chag. oder Chagag, das festliche Opfer bringen, das bei jedem der drei großen Feste üblich ist)‘. Nach der ausdrücklichen Regel (Chag. 1. 3) wurde die Chagigah am ersten Osterfest gebracht. Sie wurde unmittelbar nach dem Morgengottesdienst dargebracht und an diesem Tag gegessen – wahrscheinlich einige Zeit vor dem Abend, als, wie wir nach und nach sehen werden, eine andere Zeremonie die öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchte. Wir können daher durchaus verstehen, dass die Sanhedristen nicht am Vorabend des Passahfestes, sondern am ersten Ostertag eine Verunreinigung vermeiden wollten, die, da sie bis zum Abend andauerte, sie nicht nur in die Unannehmlichkeiten der levitischen Verunreinigung am ersten Festtag verwickelt hätte, sondern sie sogar daran gehindert hätte, an diesem Tag das Passah, das Festopfer oder die Chagigah darzubringen. Denn wir haben diese beiden ausdrücklichen Regeln: dass eine Person in levitischer Verunreinigung die Chagigah nicht darbringen konnte; und dass die Chagigah nicht für eine Person von jemand anderem dargebracht werden konnte, der ihren Platz einnahm (Jer. Chag. 76 a, Zeilen 16 bis 14 von unten). Diese Überlegungen und Kanones scheinen entscheidend für die oben dargelegten Ansichten zu sein. Es hätte keinen Grund gegeben, am Morgen des Osteropfers eine „Verunreinigung“ zu befürchten; aber das Betreten des Prätoriums am Morgen des ersten Pessachtages hätte es ihnen unmöglich gemacht, die Chagigah darzubringen, die auch mit dem Begriff Pessach bezeichnet wird.

                    Es mag gegen sieben Uhr morgens gewesen sein, wahrscheinlich sogar noch früher,als Pilatus zu denen ging, die ihn gerufen hatten, um Recht zu sprechen. Die Frage, die er an sie richtete, scheint sie aufgeschreckt und verunsichert zu haben. Ihr Verfahren war privat gewesen; es gehörte zum Wesen des römischen Rechts, dass es öffentlich war. Auch das Verfahren vor den Sanhedristen hatte die Form einer strafrechtlichen Untersuchung, während es zum Wesen des römischen Verfahrens gehörte, nur auf konkrete Anschuldigungen einzugehen. Dementsprechend lautete die erste Frage des Pilatus, welche Anklage sie gegen Jesus erhoben hätten. Die Frage kam umso unerwarteter, als Pilatus am Vorabend seine Zustimmung zum Einsatz der römischen Wache gegeben haben musste, die die Verhaftung Jesu bewirkte. Ihre Antwort zeugt von Demütigung, schlechter Laune und einem Versuch der Ausflucht. Wäre er nicht „ein Übeltäter“ gewesen, hätten sie ihn nicht „ausgeliefert „! Bei dieser vagen Anschuldigung weigerte sich Pilatus, bei dem wir durchweg eine merkwürdige Zurückhaltung feststellen – vielleicht aus Unwillen, den Juden zu gefallen, vielleicht aus dem Wunsch heraus, ihre Gefühle im zartesten Punkt zu verletzen, vielleicht weil er von einer höheren Hand zurückgehalten wurde -, weiterzumachen. Er schlug vor, dass die Sanhedristen Jesus nach dem jüdischen Gesetz verurteilen sollten. Das ist ein weiteres wichtiges Merkmal, denn es deutet darauf hin, dass Pilatus zuvor sowohl von den besonderen Ansprüchen Jesu wusste als auch davon, dass das Vorgehen der jüdischen Behörden von „Neid“ bestimmt war. a Aber unter normalen Umständen hätte Pilatus nicht gewollt, dass eine Person, die einer so schwerwiegenden Beschuldigung wie der, messianische Ansprüche zu erheben, angeklagt ist, den jüdischen Behörden übergeben wird, damit diese den Fall als rein religiöse Frage behandeln. In Verbindung mit der anderen, scheinbar damit unvereinbaren Tatsache, dass der Statthalter am Vorabend eine römische Wache für die Verhaftung des Gefangenen bestellt hatte, und mit dieser anderen Tatsache des Traums und der Warnung der Frau des Pilatus, entsteht ein eigenartiger Eindruck auf uns. Wir können das alles verstehen, wenn Pilatus am Abend zuvor, nachdem die römische Wache bewilligt worden war, mit seiner Frau darüber gesprochen hat, sei es, weil er sie kannte, sei es, weil sie an der Sache interessiert sein könnte. Die Überlieferung hat ihr den Namen Procula gegeben; ein apokryphes Evangelium beschreibt sie als Konvertitin zum Judentum; d während die griechische Kirche sie tatsächlich in den Katalog der Heiligen aufgenommen hat. Was wäre, wenn die Wahrheit zwischen diesen Aussagen läge und Procula nicht nur eine Proselytin gewesen wäre, wie die Frau eines früheren römischen Statthalters,sondern auch von Jesus gewusst und an jenem Abend mit Pilatus über ihn gesprochen hätte? Dies würde am besten sein Zögern bei der Verurteilung Jesu sowie ihren Traum von ihm erklären.

                    Da die jüdischen Behörden das Angebot des Statthalters, gegen Jesus vor ihrem eigenen Gericht zu verhandeln, mit der erklärten Begründung ablehnen mussten, dass sie nicht befugt seien, ein Todesurteil zu fällen,mussten sie nun eine Anklage formulieren. Dies wird nur von Lukas überliefert. a Es ging darum, dass Jesus gesagt hatte, er selbst sei Christus, der König. Man wird feststellen, dass sie mit dieser Aussage Jesus fälschlicherweise ihre eigenen politischen Erwartungen an den Messias unterstellten. Aber selbst das ist noch nicht alles. Sie fügten noch hinzu, dass er die Nation verderbe und es verbiete, Cäsar Tribut zu zahlen. Die letztgenannte Anklage war so unbegründet, dass wir sie nur als eine notwendige Schlussfolgerung aus der Tatsache betrachten können, dass er den Anspruch erhob, König zu sein. Und da sie am meisten gegen ihn sagten, setzten sie dies an die erste Stelle und behandelten die Schlussfolgerung, als ob sie eine Tatsache wäre – eine Praxis, die in politischen, religiösen oder privaten Kontroversen nur allzu häufig vorkommt.

                    Diese Anklage der Sanhedristen erklärt, was sich nach Aussage aller Evangelisten im Prätorium abgespielt hat. Wir nehmen an, dass Christus sich dort aufhielt, wahrscheinlich unter der Aufsicht einiger Wachen. Die Worte der Sanhedristen brachten Pilatus auf merkwürdige Gedanken. Er rief nun Jesus und fragte ihn: „Bist du der König der Juden? In dieser Frage steckt jene Mischung aus Verachtung, Zynismus und Ehrfurcht, die wir in der Haltung und den Worten des Pilatus durchweg bemerken. Es war, als ob zwei Kräfte um die Herrschaft in seinem Herzen rangen. Neben der einheitlichen Verachtung für alles Jüdische und dem allgemeinen Zynismus, der nicht an die Existenz von etwas Höherem glauben konnte, ist ein Gefühl der Ehrfurcht vor Christus zu erkennen, auch wenn es sich dabei teilweise um Aberglauben handeln mag. Von allem, was die Sanhedristen gesagt hatten, nahm Pilatus nur dies auf, dass Jesus behauptete, ein König zu sein. Christus, der die Anklage seiner Ankläger nicht gehört hatte, ignorierte sie nun in seinem Wunsch, das Heil auch einem Pilatus zu bringen. Er beachtete die angedeutete Ironie nicht und stellte Pilatus zuerst die Frage, ob die Frage – ob es sich um eine strafrechtliche Anklage oder eine Untersuchung handelte – seine eigene sei oder lediglich die Wiederholung dessen, was seine jüdischen Ankläger Pilatus über ihn berichtet hatten. Der Statthalter wies schnell jede persönliche Anfrage zurück. Wie konnte er eine solche Frage stellen? Er war kein Jude, und das Thema war nicht von allgemeinem Interesse. Jesu eigenes Volk und seine Führer hatten ihn als Verbrecher ausgeliefert: Was hatte er getan?

                    Die Antwort des Pilatus ließ Ihm, der selbst in dieser höchsten Stunde nur an andere und nicht an sich selbst dachte, nichts anderes übrig, als die Wahrheit, für die seine Worte den Anstoß gegeben hatten, direkt vor den Römer zu bringen. Es handelte sich nicht, wie Pilatus angedeutet hatte, um eine jüdische Frage: Es war eine Frage der absoluten Wahrheit; sie betraf alle Menschen. Das Reich Christi war nicht von dieser Welt, weder jüdisch noch heidnisch. Wäre es anders, hätte er seine Anhänger zu einem Wettstreit um seine Ansprüche und Ziele geführt und wäre nicht ein Gefangener der Juden geworden. In all dem fiel Pilatus nur ein Wort auf. ‚Du bist also ein König!‘ Er war nicht fähig, den höheren Gedanken und die Wahrheit zu begreifen. Wir erkennen in seinen Worten dieselbe Mischung aus Spott und Misstrauen. Pilatus zweifelte nun nicht mehr an der Natur des Königreichs; sein Ausruf und seine Frage bezogen sich auf das Königtum. Diese Tatsache würde Christus nun in der Herrlichkeit Seiner Erniedrigung betonen. Er akzeptierte, was Pilatus sagte, er nahm seine Worte an. Aber er fügte ihnen einen Appell oder vielmehr eine Erklärung seiner Ansprüche hinzu, die ein Heide und ein Pilatus verstehen konnten. Sein Reich war nicht von dieser Welt, sondern von jener anderen Welt, die zu offenbaren er gekommen war, um sie allen Gläubigen zu eröffnen. Hier war die Wahrheit! Seine Geburt oder Inkarnation als Gesandter des Vaters und sein eigenes freiwilliges Kommen in diese Welt – beides wird in seinen Worten erwähnt – hatten zum Ziel, die Wahrheit über jene andere Welt zu bezeugen, in der sein Reich war. Dies war kein jüdisch-messianisches Reich, sondern eines, das sich an alle Menschen richtete. Und alle, die eine moralische Affinität zur „Wahrheit“ hatten, hörten auf sein Zeugnis und erkannten ihn so als „König“ an.

                    Aber diese Worte trafen nur eine leere Stelle, als sie auf Pilatus fielen. Es war nicht nur Zynismus, sondern völlige Verzweiflung an allem Höheren – ein moralischer Selbstmord -, der in seiner Frage zum Ausdruck kam: „Was ist Wahrheit?“ Er hatte Christus verstanden, aber es lag nicht in ihm, auf seinen Aufruf zu antworten. Er, dessen Herz und Leben so wenig mit der „Wahrheit“ verwandt war, konnte das große Ziel des Lebens und des Werkes Jesu nicht nachempfinden, obwohl er es nur schemenhaft wahrnahm. Aber selbst die Frage des Pilatus scheint ein Eingeständnis, eine stillschweigende Huldigung an Christus zu sein. Einem der priesterlichen Ankläger Jesu hätte er sein Inneres sicher nicht so geöffnet.

                    Dieser Mann war kein Rebell, kein Verbrecher! Die, die ihn brachten, waren von den niedrigsten Leidenschaften bewegt. Und so sagte er ihnen beim Hinausgehen, dass er keine Schuld an ihm finde. Daraufhin hagelte es von den versammelten Sanhedristen ein wahres Feuerwerk an Anschuldigungen. Wir stellen uns das so vor, dass Christus die ganze Zeit in der Nähe stand, vielleicht hinter Pilatus, direkt an der Pforte des Prätoriums. Und auf all dieses Geschrei der Anklagen gab er keine Antwort. Es war, als ob sich die wilden Wogen weit unten am Fuß des Felsens brechen würden, der, unberührt, sein Haupt weit in den Himmel reckt. Aber als er in der ruhigen Stille der Majestät stand, wunderte sich Pilatus sehr. Fürchtete dieser Mensch nicht einmal den Tod; war er sich seiner Unschuld so sehr bewusst, dass er denen, die um ihn herum und gegen ihn waren, so unendlich überlegen war, oder hatte er den Tod so weit besiegt, dass er sich nicht zu ihren Worten herablassen wollte? Und warum hatte Er dann zu ihm von Seinem Reich und von dieser Wahrheit gesprochen?

                    Am liebsten hätte er sich dem Ganzen entzogen; nicht, weil ihn die absolute Wahrheit oder die persönliche Unschuld des Leidenden bewegte, sondern weil es etwas in dem Christus gab, das ihn vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben davor zurückschrecken ließ, ungerecht zu sein und Unrecht zu tun. Und als er inmitten dieser verwirrten Rufe den Namen Galiläa als Schauplatz von Jesu Wirken hörte, griff er gerne zu, was die Aussicht bot, die Verantwortung auf einen anderen abzuwälzen. Jesus war ein Galiläer und gehörte daher zur Gerichtsbarkeit des Königs Herodes. Zu Herodes, der zum Fest nach Jerusalem gekommen war und dort den alten Makkabäerpalast in der Nähe des Hohepriesters bewohnte, wurde Jesus nun geschickt.

                    Allein dem heiligen Lukas verdanken wir die Schilderung dessen, was dort geschah, wie überhaupt so viele Züge in dieser letzten Szene des schrecklichen Dramas. Die Gelegenheit, die sich nun bot, war für Herodes willkommen. Es war ein Zeichen der Versöhnung (oder könnte als solches angesehen werden) zwischen ihm und dem Römer, und in gewisser Weise schmeichelhaft für ihn selbst, da der erste Schritt vom Statthalter getan worden war, und zwar durch eine fast ostentative Anerkennung der Rechte des Tetrarchen, um die sich möglicherweise ihre frühere Fehde gedreht hatte. Außerdem hatte Herodes seit langem den Wunsch, Jesus zu sehen, von dem er so viel gehört hatte. b In dieser Stunde war grobe Neugier, die Hoffnung, einige magische Darbietungen zu sehen, das einzige Gefühl, das den Tetrarchen bewegte. Aber vergeblich bedrängte er Christus mit Fragen. Er war ihm gegenüber so schweigsam wie früher gegenüber den heftigen Anklagen der Sanhedristen. Aber ein Christus, der keine Zeichen tun wollte oder konnte, ja nicht einmal zu denselben Anklagen wie der Täufer ansetzte, war für den groben Realismus des Antipas nur eine hilflose Gestalt, die man beschimpfen und verhöhnen konnte, wie es der Tetrarch und seine Kriegsmänner taten. Und so wurde Jesus noch einmal ins Prätorium zurückgeschickt.

                    In die Zeit, in der Jesus bei Herodes war, oder wahrscheinlich bald danach, fällt die letzte unheimliche Szene im Leben des Judas, die Matthäus berichtet. Wir schließen dies aus dem Umstand, dass bei der Rückkehr Jesu von Herodes die Sanhedristen nicht anwesend gewesen zu sein scheinen, da Pilatus sie zusammenrufen musste,b vermutlich aus dem Tempel. Und hier sei daran erinnert, dass der Tempel in der Nähe des Makkabäerpalastes lag. Schließlich haben wir den Eindruck, dass die Hauptrolle vor Pilatus fortan vom „Volk“ übernommen wurde, wobei die Priester und Schriftgelehrten sie eher anstifteten, als dass sie den Prozess gegen Jesus führten. Es kann daher gut sein, dass, als die Sanhedristen vom Makkabäerpalast in den Tempel gingen, wie es an diesem Tag zu erwarten war, nur ein Teil von ihnen auf die Vorladung des Pilatus hin zum Prätorium zurückkehrte.

                    Aber wie dem auch sei, es war bereits genug geschehen, um Judas zu überzeugen, was das Ende sein würde. Es ist in der Tat schwer zu glauben, dass er sich in diesem Punkt von Anfang an getäuscht haben könnte, auch wenn er die Tatsache in ihrer schrecklichen Tragweite erst nach seiner Tat erkannt hatte. Die Worte, die Jesus im Garten zu ihm gesprochen hatte, müssen sich in seine Seele eingebrannt haben. Er gehörte zu den Soldaten, die bei seinem Anblick zurückwichen. Seitdem war Jesus gefesselt zu Hannas, zu Kaiphas, zum Prätorium und zu Herodes geführt worden. Selbst wenn Judas bei keiner dieser Gelegenheiten anwesend gewesen wäre, und wir nehmen nicht an, dass sein Gewissen dies zugelassen hätte, so muss doch ganz Jerusalem zu dieser Zeit voll von dem Bericht gewesen sein, wahrscheinlich sogar in übertriebener Form. Eines hat er gesehen: dass Jesus verurteilt wurde. Judas tat nicht „Buße“ im biblischen Sinne; aber „ein Wandel des Sinnes und der Gefühle“ kam über ihn. Selbst wenn Jesus ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre und die Beziehung des Judas zu ihm eine gewöhnliche gewesen wäre, könnten wir seine Gefühle verstehen, vor allem in Anbetracht seines feurigen Temperaments. Der Augenblick vor und nach der Sünde stellt den Unterschied der Gefühle dar, wie er in der Geschichte des Sündenfalls unserer ersten Eltern geschildert wird. Mit dem Begehen der Sünde ist all der betörende, berauschende Einfluss, der dazu verleitet hat, verschwunden, und es bleibt nur die nackte Tatsache. Der ganze Glanz ist verflogen, die ganze Wirklichkeit bleibt bestehen. Wenn wir es wüssten, würde wohl kaum einer von vielen Verbrechern nicht alles geben, ja sogar sein Leben, wenn er sich an die Tat erinnern könnte oder aus ihr erwachen würde, um festzustellen, dass sie nur ein böser Traum war. Aber das ist nicht möglich, und das Schrecklichste ist, dass es geschehen ist, und zwar für immer. Doch das ist keine „Reue“, oder zumindest weiß Gott allein, ob es eine solche ist; es kann, und im Fall von Judas war es nur eine „Sinnes- und Gefühlsänderung“ gegenüber Jesus sein. Ob dies in Reue hätte übergehen können, ob es so gewesen wäre, wenn er sich Jesus zu Füßen geworfen hätte, was er zweifellos hätte tun können, brauchen wir hier nicht zu fragen. Die Gedanken und Gefühle des Judas in Bezug auf die Tat, die er begangen hatte, und in Bezug auf Jesus waren nun ganz andere; sie wurden immer stärker und immer intensiver. Die Straße, die Straßen, die Gesichter der Menschen – alles schien nun gegen ihn und für Jesus zu zeugen. Er las es überall; er fühlte es immer; er stellte es sich vor, bis sein ganzes Wesen in Flammen stand. Was war gewesen, was war, was würde sein! Himmel und Erde wichen vor ihm zurück; es gab Stimmen in der Luft und Schmerzen in der Seele – und nirgendwo gab es ein Entkommen, Hilfe, Rat oder Hoffnung.

                    Es war Verzweiflung, und sein verzweifelter Entschluss. Er muss diese dreißig Silberstücke loswerden, die sich wie dreißig Schlangen mit einem schrecklichen Zischen des Todes um seine Seele winden. Dann hätte seine Tat wenigstens nichts Selbstsüchtiges an sich: nur einen schrecklichen Irrtum, einen Fehler, zu dem er von diesen Sanhedristen angestiftet worden war. Zurück zu ihnen mit dem Geld, und sie sollen es wieder haben! Und so drängte er sich weiter durch die staunende Menge, die vor dem hageren Gesicht mit den wilden Augen zurückwich, das das Verbrechen in diesen wenigen Stunden alt gemacht hatte, bis er auf den Haufen von Priestern und Sanhedristen stieß, die vielleicht gerade in diesem Augenblick über alles sprachen. Ein höchst unwillkommener Anblick und eine unangenehme Störung für sie, diese notwendige, aber verhasste Figur in dem Drama, die zu seiner Vergangenheit gehörte und die in seiner Dunkelheit ruhen sollte. Aber er würde gehört werden; ja, seine Worte würden ihnen die Last aufbürden, sie mit ihm zu teilen, denn mit heiserem Schrei brach er in dies ein: „Ich habe gesündigt – ich habe unschuldiges Blut verraten! Sie wandten sich von ihm ab mit Ungeduld, mit Verachtung, wie sich so oft der Verführer von dem Verführten abwendet – und, Gott helfe solchen, mit derselben teuflischen Höllenschuld: „Was geht uns das an? Sieh es dir an!‘ Und schon waren sie wieder in ein Gespräch oder eine Beratung vertieft. Er starrte einen Augenblick lang wild vor sich hin, die dreißig Silberstücke, die ihm abgewogen worden waren und die er nun zurückgebracht hatte und ihnen gerne gegeben hätte, noch immer in der Hand. Nur einen Augenblick lang, dann stürzte er wild vorwärts, auf das Heiligtum selbst zu,wahrscheinlich dorthin, wo der Hof Israels an den der Priester grenzte, wo gewöhnlich die Büßer warteten, während im Hof der Priester das Opfer für sie dargebracht wurde. Er beugte sich vor und schleuderte mit aller Kraft2 die dreißig Silberstücke von sich, so dass jedes einzelne auf das Marmorpflaster fiel und widerhallte.

                    Er stürzte aus dem Tempel, aus Jerusalem, „in die Einsamkeit“.Wohin soll es gehen? Hinab in die schreckliche Einsamkeit des Tals von Hinnom, das „Tophet“ der Vergangenheit mit seinen grausigen Erinnerungen, das Gehenna der Zukunft mit seinen gespenstischen Assoziationen. Aber es war keine Einsamkeit, denn es schien jetzt von Gestalten, Gesichtern und Geräuschen bevölkert zu sein. Durch das Tal und die steilen Hänge des Berges hinauf! Wir befinden uns jetzt auf dem „Töpferfeld“ des Jeremia – etwas westlich oberhalb der Stelle, wo die Täler Kidron und Hinnom zusammenfließen. Es ist ein kalter, weicher Lehmboden, auf dem die Schritte ausrutschen oder in klammen Fesseln stecken bleiben. Hier ragen zerklüftete Felsen senkrecht empor; vielleicht stand dort ein knorriger, gebogener, verkümmerter Baum. Dort oben kletterte er auf die Spitze des Felsens. Langsam und bedächtig löste er den langen Gürtel, der sein Gewand hielt. Es war der Gürtel, in dem er die dreißig Silberstücke getragen hatte. Er war jetzt ganz ruhig und gefasst. Mit diesem Gürtel wird er sich an dem Baum in der Nähe aufhängen3 , und wenn er ihn befestigt hat, wird er sich von dem zerklüfteten Felsen stürzen.

                    Es ist vollbracht; aber als er sich bewusstlos, vielleicht noch nicht tot, schwer an dem Ast schwang, gab der Gürtel unter der ungewohnten Last nach, oder vielleicht löste sich der Knoten, den seine zitternden Hände gemacht hatten, und er fiel schwer nach vorn zwischen die zerklüfteten Felsen darunter und kam auf die Weise um, an die der heilige Petrus seine Mitjünger in den Tagen vor Pfingsten erinnerte. Aber im Tempel wussten die Priester nicht, was sie mit diesen dreißig Geldstücken anfangen sollten. Ihre skrupellose Skrupellosigkeit brach wieder über sie herein. Es war nicht erlaubt, Geld, das unrechtmäßig erworben worden war, in den Tempelschatz zu nehmen, um heilige Dinge zu kaufen. In solchen Fällen sah das jüdische Gesetz vor, dass das Geld dem Spender zurückgegeben werden musste, und wenn er darauf bestand, es zu geben, sollte er dazu gebracht werden, es für etwas zum Wohle der Allgemeinheit auszugeben. Dies erklärt die scheinbare Diskrepanz zwischen den Berichten in der Apostelgeschichte und bei Matthäus. Aufgrund einer Gesetzesfiktion wurde das Geld immer noch als Judas‘ Geld angesehen und von ihmb für den Kauf des bekannten „Töpferfeldes“ verwendet, um Fremde auf ihm zu begraben. Aber von nun an wurde der alte Name „Töpferfeld“ im Volksmund in „Feld des Blutes“ (Haqal Dema) umgewandelt. Und doch war es die Tat Israels durch seine Führer: „Sie nahmen die dreißig Silberstücke – den Preis dessen, der geschätzt wurde, den sie von den Kindern Israel schätzten – und gaben sie für den Töpferacker! Es gehörte alles ihnen, obwohl sie es am liebsten ganz Judas überlassen hätten: das Schätzen, das Verkaufen und das Kaufen. Und „der Töpferacker“ – genau der Ort, an dem Jeremia göttlich angewiesen worden war, gegen Jerusalem und gegen Israel zu prophezeien:wie erfüllte sich nun alles im Licht der vollendeten Sünde und des Abfalls des Volkes, wie sie von Sacharja prophetisch beschrieben wurden! Dieses Tophet des Jeremia, nachdem sie Israels Messias, den Hirten, geschätzt und für dreißig Schekel verkauft hatten – wahrhaftig ein Tophet, und ein Feld des Blutes geworden! Sicherlich ist es kein Zufall, dass dies der Ort der Gerichtsankündigung Jeremias sein sollte: kein Zufall, sondern wahrhaftig eine Erfüllung seiner Prophezeiung! Und so stellt Matthäus, der diese Prophezeiung sowohl in der Form1 als auch in ihrem Geist aufgreift und in wahrhaft jüdischer Manier die prophetische Beschreibung von Sacharja daran knüpft, das Ereignis als die Erfüllung von Jeremias Prophezeiung dar.

                    Wir befinden uns wieder vor dem Prätorium, zu dem Pilatus die Sanhedristen und das Volk aus dem Tempel gerufen hatte. Die Menschenmenge aus der Stadt wuchs augenblicklich an. Nicht nur, um zu sehen, was geschehen würde, sondern auch, um einem anderen Schauspiel beizuwohnen, nämlich der Freilassung eines Gefangenen. Denn es scheint Brauch gewesen zu sein, dass der römische Statthalter am Passahfest4 einen berüchtigten Gefangenen, der zum Tode verurteilt war, an die jüdische Bevölkerung freigab. Dies ist ein sehr bezeichnender Brauch der Freilassung, für den sie nun zu schreien begannen. Es mag sein, dass sie dazu auch von den Sanhedristen angestachelt wurden, die sich unter sie mischten. Denn wenn es gelänge, den Strom der Sympathie des Volkes auf Bar-Abbas zu lenken, wäre das Verhängnis Jesu umso sicherer besiegelt. Bei dieser Gelegenheit war es vielleicht um so leichter, das Volk zu beeinflussen, als Bar-Abbas zu jener damals nicht unüblichen Klasse gehörte, die unter dem Vorwand politischer Bestrebungen Raub und andere Verbrechen beging. Aber diese Bewegungen hatten sich tief in die Sympathie des Volkes eingegraben. Ein seltsamer Name und eine seltsame Gestalt, Bar-Abbas. Das kann kaum sein richtiger Name gewesen sein. Er bedeutet „Sohn des Vaters“.1 War er ein politischer Anti-Christ? Und warum hätte Pilatus, wenn es nicht eine Verbindung zwischen ihnen gegeben hätte, die Alternative Jesus oder Bar-Abbas vorschlagen sollen und nicht eher die eines der beiden Übeltäter, die tatsächlich mit Jesus gekreuzigt wurden?

                    Aber als der Statthalter, in der Hoffnung, die Sympathie des Volkes zu gewinnen, ihnen diese Alternative vorschlug – ja, sie sogar forderte, mit der Begründung, dass weder er noch Herodes ein Verbrechen an Ihm gefunden hätten, und dass er sogar ihren Rachedurst beschwichtigt hätte, indem er anbot, Jesus der grausamen Strafe der Geißelung zu unterwerfen, war das vergeblich. Nun setzte sich Pilatus auf den „Richterstuhl“. Doch bevor er fortfahren konnte, kam die Nachricht von seiner Frau über ihren Traum und die warnende Bitte, nichts mit „diesem Gerechten“ zu tun zu haben. Ein Omen wie ein Traum und ein damit verbundener Appell, besonders unter den Umständen dieses Prozesses, würde einen Römer stark beeindrucken. Und für einige Augenblicke sah es so aus, als ob der Appell an das Volksempfinden zugunsten Jesu erfolgreich gewesen wäre. Aber wieder einmal setzten sich die Sanhedristen durch. Offenbar hatten sich alle Anhänger Jesu zerstreut. Keiner von ihnen scheint anwesend gewesen zu sein, und wenn sich die eine oder andere schwache Stimme für ihn erhob, wurde sie aus Angst vor den Sanhedristen zum Schweigen gebracht. Es war Bar-Abbas, für den die Bevölkerung, angestachelt durch die Priesterschaft, nun mit zunehmender Vehemenz schrie. Auf die halb bittere, halb spöttische Frage, was sie mit dem zu tun wünschten, den ihre eigenen Führer in ihrer Anklage als „König der Juden“ bezeichnet hatten, ertönte immer lauter der furchtbare Schrei: „Kreuzige ihn! Dass ein solcher Schrei erhoben wurde, und zwar von Juden und vor den Römern und gegen Jesus, sind an sich fast unfassbare Tatsachen, denen die Geschichte dieser achtzehn Jahrhunderte ein schreckliches Echo verliehen hat. Vergeblich hat Pilatus argumentiert, argumentiert, appelliert. Die Volkswut wuchs nur, je mehr man sich ihr entgegenstellte.

                    Da alle Überlegungen fehlgeschlagen waren, griff Pilatus zu einem weiteren Mittel, das unter normalen Umständen wirksam gewesen wäre. Wenn ein Richter, nachdem er die Unschuld des Angeklagten erklärt hat, sich tatsächlich vom Richterstuhl erhebt und durch einen symbolischen Akt die Hinrichtung des Angeklagten zu einem Justizmord erklärt, von dessen Beteiligung er sich feierlich reinwaschen will, würde sicherlich kein Geschworener darauf bestehen, das Todesurteil zu fordern. Aber im vorliegenden Fall kam noch mehr hinzu. Obwohl wir Anspielungen auf einen solchen Brauch bei den Heiden finden,1 war das, was hier geschah, ein im Wesentlichen jüdischer Ritus, der den Juden umso mehr gefallen haben muss, als er von Pilatus durchgeführt wurde. Und nicht nur der Ritus, sondern auch die Worte selbst waren jüdisch. Sie erinnern nicht nur an den Ritus, der in Dtn 21,6 usw. vorgeschrieben ist, um die Schuldfreiheit der Ältesten einer Stadt zu kennzeichnen, in der ein unaufgeklärter Mord begangen worden war, sondern auch an die Worte solcher alttestamentlichen Ausdrücke wie in 2 Sam. 3:28, und Ps. 26:6, 73:13,und in späteren Zeiten in Sus. ver. 46. Die Mischna bezeugt, dass dieser Ritus beibehalten wurde. Da Pilatus in Israel Recht sprach, muss er von diesem Ritus gewusst haben. 3 Es berührt nicht die Frage, ob sich ein Richter, insbesondere unter den geschilderten Umständen, von seiner Schuld freisprechen konnte oder nicht. Sicherlich konnte er das nicht; aber ein solches Verhalten eines Pilatus erscheint so völlig ungewöhnlich, wie überhaupt sein ganzes Verhalten Christus gegenüber, dass wir es nur durch den tiefen Eindruck erklären können, den Jesus auf ihn gemacht hatte. Umso schrecklicher wäre die Schuld des jüdischen Widerstands. Es hat etwas Überwältigendes, wenn Pilatus sagt: „Seht zu“ – eine Antwort auf das „Seht zu“ der Sanhedristen an Judas, und zwar mit denselben Worten. Es scheint fast so, als würde die Szene der gegenseitigen Schuldzuweisung im Garten Eden nachgespielt werden. Die Mischna berichtet uns, dass die Priester nach der feierlichen Handwaschung der Ältesten und ihrem Schuldbekenntnis mit diesem Gebet antworteten: „Vergib deinem Volk Israel, das du erlöst hast, Herr, und lass kein unschuldiges Blut auf dein Volk Israel kommen! Aber hier, als Antwort auf Pilatus‘ Worte, kam der tiefe, heisere Schrei zurück: „Sein Blut komme über uns“ und – Gott helfe uns – „über unsere Kinder“. Etwa dreißig Jahre später wurde genau an dieser Stelle das Urteil über einige der Besten Jerusalems gesprochen; und unter den 3.600 Opfern des Zorns des Statthalters, von denen nicht wenige direkt gegenüber dem Prätorium gegeißelt und gekreuzigt wurden, befanden sich viele der edelsten Bürger Jerusalems. Ein paar Jahre später trugen Hunderte von Kreuzen jüdische verstümmelte Körper in Sichtweite Jerusalems. Und immer noch scheinen diese Wanderer von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Land zu Land diese Blutlast zu tragen; und immer noch scheint sie „auf uns und unseren Kindern“ zu lasten.

                    Die Evangelisten haben die letzten Szenen der Demütigung und des Grauens so schnell wie möglich hinter sich gelassen, und wir sind zu dankbar, um ihrem Beispiel zu folgen. Bar-Abbas wurde sofort freigelassen. Jesus wurde den Soldaten übergeben, um gegeißelt und gekreuzigt zu werden, obwohl das endgültige und förmliche Urteil noch nicht gesprochen worden war. In der Tat scheint Pilatus gehofft zu haben, dass die Schrecken der Geißelung das Volk noch dazu bewegen würden, von dem wilden Schrei nach dem Kreuz abzulassen. b Aus demselben Grund dürfen wir auch hoffen, dass die Geißelung nicht mit derselben Grausamkeit durchgeführt wurde wie bei den christlichen Märtyrern, bei denen die Geißel aus Lederriemen mit Blei geladen oder mit Stacheln und Knochen bestückt war, um andere zum Geständnis oder zum Widerruf zu bewegen, und die Rücken, Brust und Gesicht zerfetzte, bis das Opfer manchmal als blutende Masse zerrissenen Fleisches vor dem Richter niederfiel. Doch ohne den erschütternden Realismus eines Cicero wiederholen zu wollen, war die Geißelung die schreckliche Einleitung zur Kreuzigung – „der Zwischentod“. Entkleidet, mit gefesselten Händen und gebeugtem Rücken, wurde das Opfer vor dem Prätorium an eine Säule oder einen Pfahl gebunden. Nach Beendigung der Geißelung warfen ihm die Soldaten eilig seine Obergewänder über und führten ihn zurück ins Prätorium. Hier riefen sie die ganze Kohorte zusammen, und der schweigsame, ohnmächtige Leidende wurde zum Gegenstand ihres schelmischen Spotts. Von seinem blutenden Leib zerrissen sie die Kleider und kleideten ihn zum Spott in Scharlach und Purpur. Als Krone wickelten sie Dornen zusammen, und als Zepter legten sie ein Rohr in seine Hand. Dann riefen sie Ihn abwechselnd als König aus oder verehrten Ihn als Gott und schlugen Ihn oder überhäuften Ihn mit anderen Schandtaten.

                    Ein solches Schauspiel hätte wohl die Feindschaft entwaffnen und die Ängste der Welt für immer zerstreuen können. So hatte Pilatus gehofft, als Jesus auf sein Geheiß hin aus dem Prätorium kam, als Scheinkönig gekleidet, und der Statthalter ihn dem Volk mit den Worten vorstellte, die die Kirche seither bewahrt hat: „Seht den Menschen! Aber dieser Anblick war alles andere als beruhigend, sondern stachelte die „Hohenpriester“ und ihre Untergebenen nur noch mehr an. Dieser Mann vor ihnen war der Anlass, dass ein Heide es an diesem Ostertag wagte, in Jerusalem selbst ihre tiefsten Gefühle zu beleidigen, ihre am meisten gehegten messianischen Hoffnungen zu verhöhnen! Kreuzige!“, schallte es von allen Seiten. Noch einmal appellierte Pilatus an sie, als er dem Volk unwissentlich und ungewollt entlockte, dass Jesus behauptet hatte, der Sohn Gottes zu sein.

                    Was für ein Licht wirft es auf die Art und Weise, wie Jesus sich inmitten jener Folterungen und Beleidigungen verhalten hatte, dass diese Aussage der Juden Pilatus mit Furcht erfüllte und ihn dazu brachte, erneut das Gespräch mit Jesus im Prätorium zu suchen. Der Eindruck, der beim ersten Mal entstanden war und sich immer weiter vertieft hatte, war nun in den Schrecken des Aberglaubens übergegangen. Seine erste Frage an Jesus lautete: „Woher ist er? Und als Jesus, wie es sich gehörte – denn er konnte es nicht verstehen -, keine Antwort gab, wurden die Gefühle des Römers nur noch intensiver. Wollte er nicht sprechen; wusste er nicht, dass er die absolute Macht hatte, ihn freizulassen oder zu kreuzigen“? Nein, nicht die absolute Macht – alle Macht kam von oben; aber die Schuld am Missbrauch der Macht war viel größer auf Seiten des abgefallenen Israels und seiner Führer, die wussten, woher die Macht kam und wem gegenüber sie für ihre Ausübung verantwortlich waren.

                    So sprach kein Hochstapler, so sprach kein gewöhnlicher Mensch – nach solchen Leiden und unter solchen Umständen – zu einem, der die Macht über Leben und Tod über ihn hatte, wenn er sie auch hatte. Und Pilatus spürte es umso mehr, als er zynisch und ungläubig war gegenüber allem, was höher war. Und umso ernsthafter versuchte er nun, ihn freizulassen. Aber im Verhältnis dazu wurde der Schrei der Juden nach Seinem Blut immer lauter und heftiger, bis sie drohten, den Statthalter selbst in die Anklage der Rebellion gegen Cäsar zu verwickeln, wenn er in der ungewohnten Gnade verharrte.

                    Einer solchen Gefahr würde sich ein Pilatus niemals aussetzen. Er setzte sich erneut auf den Richterstuhl, der sich außerhalb des Prätoriums befand, an einem Ort, der „Pflaster“ genannt wurde, und von dem aus man die Stadt überblicken konnte, „Gabbatha „, „die runde Höhe“. Der Vorgang ist so feierlich, dass der Evangelist innehält, um noch einmal den Tag – ja sogar die Stunde – zu erwähnen, an dem der Prozess begonnen hatte. Es war ein Freitag in der Passahwoche,1 und zwar zwischen sechs und sieben Uhr morgens. Und zum Schluss stellte Pilatus ihnen Jesus noch einmal zum Spott vor: „Seht euren König!“3 Noch einmal forderten sie seine Kreuzigung – und als sie erneut herausgefordert wurden, brachen die Hohenpriester in den Schrei aus, der dem endgültigen Urteil des Pilatus vorausging, das gleich vollstreckt werden sollte: „Wir haben keinen König außer Cæsar!

                    Mit diesem Schrei machte sich das Judentum in der Person seiner Vertreter der Gottesleugnung, der Gotteslästerung und des Glaubensabfalls schuldig. Es beging Selbstmord, und seither wird sein toter Körper in Scharen von Land zu Land und von Jahrhundert zu Jahrhundert getragen: um tot zu sein und tot zu bleiben, bis Er ein zweites Mal kommt, der die Auferstehung und das Leben ist!

                    Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
                    https://www.freebibleimages.org/photos/

                    (St. Matt. 27:31-43; St. Mark 15:20-32a; St. Luke 23:26-38; St. John 19:16-24; St. Matt. 27:44; St. Mark 15:32b; St. Luke 23:39-43; St. John 19:25-27; St. Matt. 27:45-56; St. Markus 15,33-41; Lukas 23,44-49; Johannes 19,28-30; Johannes 19,31-37; Matthäus 27,57-61; Markus 15,42-47; Lukas 23,50-56; Johannes 19,38-42; Matthäus 27,62-66).

                    Für ihre Schuld ist ES unerheblich, ob wir unter dem Druck der Sprache des Johannes verstehen sollen, dass Pilatus Jesus den Juden zur Kreuzigung übergab oder, wie wir eher annehmen, seinen eigenen Soldaten. Dies war die übliche Praxis, und es stimmt sowohl mit dem früheren Spott des Statthalters gegenüber den Juden b als auch mit der Nachbemerkung der Synoptiker überein. Sie, denen er „ausgeliefert“ wurde, „führten ihn ab, um gekreuzigt zu werden“, und sie, die ihn so abführten, „zwangen“ den Kyrenäer Simon, das Kreuz zu tragen. Wir können uns kaum vorstellen, dass die Juden, noch weniger die Sanhedristen, dies getan hätten. Aber ob formell oder nicht, das schreckliche Verbrechen, ihren Messias-König mit böser Hand zu töten, lastet leider auf Israel.

                    Noch einmal wurde Er entkleidet und bekleidet. Das Purpurgewand wurde von Seinem verwundeten Körper gerissen, die Dornenkrone von Seiner blutenden Stirn. Wieder in seine eigenen, nun blutbefleckten Gewänder gekleidet, wurde Er zur Hinrichtung geführt. Es waren nur etwa zweieinhalb Stunden vergangen,c seit Er das erste Mal vor Pilatus gestanden hatte (etwa um halb sieben),als die melancholische Prozession Golgatha erreichte (um neun Uhr MORGENS). In Rom lagen zwischen dem Urteil und seiner Vollstreckung normalerweise zwei Tage; aber diese Regel scheint in den Provinzen nicht gegolten zu haben,wenn überhaupt die formalen Regeln des römischen Verfahrens in diesem Fall eingehalten wurden.

                    Bald wurden die schrecklichen Vorbereitungen getroffen: der Hammer, die Nägel, das Kreuz, die Nahrung für die Soldaten, die unter jedem Kreuz wachen sollten. Für jedes Kreuz wurden vier Soldaten abgestellt, die alle unter dem Kommando eines Hauptmannes standen. Wie immer wurde das Kreuz von demjenigen, der daran leiden sollte, zur Hinrichtung getragen – vielleicht waren seine Arme mit Stricken daran gebunden. Aber es gibt glücklicherweise keinen Beweis – im Gegenteil, alles deutet darauf hin -, dass der Hals des Leidenden nach altem Brauch im Patibulum befestigt wurde, zwei horizontalen Holzstücken, die am Ende befestigt waren und an denen die Hände gefesselt wurden. Gewöhnlich wurde die Prozession vom angeführt, oder besser gesagt, es ging einer voraus, der die Art des Verbrechens verkündete2 und eine weiße Holztafel trug, auf die es geschrieben wurde. Gewöhnlich nahm sie auch den längsten Weg zur Hinrichtungsstätte und führte durch die am stärksten bevölkerten Straßen, um die größte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wir vermuten jedoch, dass sowohl dieser lange Weg als auch die Verkündigung durch den Herold im vorliegenden Fall entbehrlich waren. Sie werden im Text nicht angedeutet und scheinen nicht zur festlichen Jahreszeit und zu den anderen Umständen der Geschichte zu passen.

                    Lassen wir alle späteren legendären als nur störend beiseite, so wollen wir versuchen, uns die Szene so vorzustellen, wie sie in den Evangelien beschrieben wird. Unter der Führung des Hauptmanns, ob in Begleitung desjenigen, der die Tafel mit der Inschrift trug, oder nur umgeben von den vier Soldaten, von denen einer diese Tafel tragen konnte, ging Jesus mit seinem Kreuz voran. Ihm folgten zwei Übeltäter – „Räuber“ -, die wahrscheinlich zu der damals so zahlreichen Klasse gehörten, die ihre Verbrechen mit dem Vorwand politischer Motive verschleierte. Auch diese beiden trugen jeweils ihr Kreuz und wurden wahrscheinlich von jeweils vier Soldaten begleitet. Die Kreuzigung war keine jüdische Bestrafungsmethode, obwohl der Makkabäerkönig Jannäus die Ansprüche der Menschlichkeit und der Religion so weit vergessen hatte, dass er bei einer Gelegenheit nicht weniger als 800 Personen in Jerusalem selbst kreuzigen ließ. a Aber selbst Herodes griff bei all seiner Grausamkeit nicht zu dieser Hinrichtungsmethode. Sie wurde auch von den Römern erst nach der Zeit Cäsars angewandt, als sie mit der schnell zunehmenden Grausamkeit der Strafen in den Provinzen furchtbar üblich wurde. Besonders scheint sie die Herrschaft Roms in Judäa unter jedem Statthalter zu kennzeichnen. Während der letzten Belagerung Jerusalems entstanden täglich Hunderte von Kreuzen, bis weder Platz noch Holz dafür vorhanden zu sein schienen, und die Soldaten vergnügten sich mit immer neuen Kreuzigungsarten auf grausame Weise. So kam der jüdische Appell an Rom, den König Israels zu kreuzigen, in hundertfachem Widerhall zurück. Aber besser als eine solche Vergeltung hat das Kreuz des Gottmenschen der Bestrafung durch das Kreuz ein Ende gesetzt und stattdessen das Kreuz zum Symbol der Menschlichkeit, der Zivilisation, des Fortschritts, des Friedens und der Liebe gemacht.

                    Wie die meisten Abscheulichkeiten der antiken Welt, sei es in der Religion oder im Leben, war die Kreuzigung phönizischen Ursprungs, obwohl Rom sie übernahm und verbesserte. Die Hinrichtungsarten bei den Juden waren: Strangulation, Enthauptung, Verbrennung und Steinigung. Die Rabbiner zögerten am meisten, unter gewöhnlichen Umständen ein Todesurteil auszusprechen. Dies geht sogar aus der Anordnung hervor, dass die Richter am Tag eines solchen Urteils fasten sollten. Zwei der führenden Rabbiner geben sogar zu Protokoll, dass ein solches Urteil in einem Sanhedrin, dem sie angehörten, niemals ausgesprochen worden wäre. Die Demütigung des Hängens – und dies erst, nachdem der Verbrecher auf andere Weise hingerichtet worden war – war den Verbrechen des Götzendienstes und der Gotteslästerung vorbehalten. b Der Ort, an dem Verbrecher gesteinigt wurden (Beth haSeqilah), befand sich auf einer etwa elf Fuß hohen Anhöhe, von der der Verbrecher vom ersten Zeugen hinuntergeworfen wurde. Wenn er durch den Sturz nicht gestorben war, warf der zweite Zeuge einen großen Stein auf sein Herz, während er lag. Wenn er noch nicht tot war, wurde er vom ganzen Volk gesteinigt. In einer Entfernung von sechs Fuß von der Hinrichtungsstätte wurde der Verbrecher entkleidet, wobei nur die für den Anstand absolut notwendige Bedeckung zurückblieb. c Im Falle Jesu haben wir Grund zu der Annahme, dass, obwohl die Art der Bestrafung, der er unterworfen wurde, unjüdisch war, jedes Zugeständnis an die jüdische Sitte gemacht wurde, und daher glauben wir dankbar, dass ihm am Kreuz die Demütigung der Entblößung erspart blieb. Das wäre wirklich unjüdisch gewesen.

                    Drei Arten von Kreuzen waren in Gebrauch: das sogenannte Andreaskreuz (×, Crux decussata), das Kreuz in Form eines T (Crux commissa) und das gewöhnliche lateinische Kreuz (+, Crux immissa). Wir glauben, dass Jesus das letzte dieser Kreuze trug. Dies würde auch am ehesten die Anbringung der Tafel mit der dreifachen Inschrift erlauben, von der wir wissen, dass sein Kreuz sie trug. Außerdem spricht das allgemeine Zeugnis derjenigen, die am nächsten an der Zeit lebten (Justin Martyr, Irenäus und andere), und die leider nur zu oft Gelegenheit hatten, zu erfahren, was Kreuzigung bedeutet, für diese Ansicht. Dieses Kreuz trug Jesus, wie der heilige Johannes ausdrücklich sagt, zu Beginn selbst. Und so bewegte sich die Prozession weiter in Richtung Golgatha. Nicht nur der Ort, sondern sogar der Name dieses Ortes, der jedes christliche Herz so sehr anspricht, ist umstritten. Der Name kann nicht von den herumliegenden Schädeln abgeleitet werden, da eine solche Enthüllung ungesetzlich gewesen wäre, und muss daher auf die schädelartige Form und das Aussehen des Ortes zurückzuführen sein. Dementsprechend wird der Name gemeinhin als die griechische Form des aramäischen Gulgalta oder des hebräischen Gulgoleth erklärt, was Schädel bedeutet.

                    Eine solche Beschreibung würde nicht nur den Erfordernissen der Erzählung, sondern auch dem Aussehen des Ortes, der, soweit wir es beurteilen können, Golgatha darstellt, voll entsprechen. Wir können hier nicht auf die verschiedenen Gründe eingehen, aus denen der traditionelle Ort aufgegeben werden muss. Sicher ist, dass Golgatha „außerhalb des Tores „und „in der Nähe der Stadt „b lag und höchstwahrscheinlich die übliche Hinrichtungsstätte war. Schließlich wissen wir, dass es in der Nähe von Gärten lag, wo es Gräber gab, und in der Nähe der Landstraße. Die drei letzten Bedingungen deuten auf den Norden Jerusalems hin. Es sei daran erinnert, dass die dritte Mauer, die Jerusalem später umgab, erst einige Jahre nach der Kreuzigung gebaut wurde. Die neue Vorstadt Bezetha erstreckte sich zu dieser Zeit außerhalb der zweiten Mauer. Hier verlief die große Straße nach Norden; in der Nähe befanden sich Villen und Gärten; und hier wurden auch in Fels gehauene Gräber entdeckt, die aus dieser Zeit stammen. Aber das ist noch nicht alles. Das heutige Damaskustor im Norden der Stadt scheint in der ältesten Überlieferung den Namen Stephanstor getragen zu haben, weil man glaubte, der Ur-Märtyrer sei durch dieses Tor zu seiner Steinigung gegangen. Der Ort der Hinrichtung muss also ganz in der Nähe gewesen sein. Und zumindest eine jüdische Überlieferung nennt genau diesen Ort, in der Nähe der so genannten Grotte des Jeremia, als den antiken „Ort der Steinigung“ (Beth haSeqilah). Und die Beschreibung des Ortes erfüllt alle Anforderungen. Es ist ein unheimlicher, trostloser Ort, zwei oder drei Minuten von der Hauptstraße entfernt, mit einem hohen, abgerundeten, schädelartigen Felsplateau und einer plötzlichen Vertiefung oder Höhle darunter, als ob sich die Kiefer dieses Schädels geöffnet hätten. Ob das „Grab aus der herodianischen Zeit in der Felskuppe westlich von Jeremias Grotte“ der heiligste Ort auf Erden war – das „Grab im Garten“ -, wagen wir nicht mit Sicherheit zu behaupten, obwohl jede Wahrscheinlichkeit dafür spricht.

                    Dorthin bewegte sich also diese melancholische Prozession an jenem Freitag in der Pessachwoche zwischen acht und neun Uhr. Vom alten Palast des Herodes stieg sie hinab und ging wahrscheinlich durch das Tor in der ersten Mauer und damit in das geschäftige Viertel von Akra. Je weiter er ging, desto mehr Menschen folgten ihm aus dem Tempel und aus dem dichten Geschäftsviertel, durch das er zog. Die Geschäfte, Basare und Märkte waren an diesem heiligen Festtag zwar geschlossen. Aber eine ziemliche Menschenmenge säumte die Straßen und folgte dem Zug; und vor allem die Frauen, die ihre Festvorbereitungen verließen, stießen laute Wehklagen aus, nicht in geistiger Anerkennung der Ansprüche Christi, sondern aus Mitleid und Sympathie. 2 Und wer hätte ein solches Schauspiel ungerührt betrachten können, wenn nicht fanatischer Hass alles Menschliche aus seinem Schoß verbrannt hätte? Seit dem Ostermahl hatte Jesus weder Essen noch Trinken zu sich genommen. Nach der tiefen Ergriffenheit jenes Festes mit all den heiligen Institutionen, die es beinhaltete, nach dem vorweggenommenen Verrat des Judas und nach dem Abschied von seinen Jüngern war er nach Gethsemane gegangen. Dort war er stundenlang allein – denn seine engsten Jünger konnten nicht einmal eine Stunde mit ihm wachen -, und die tiefen Wasser waren bis zu seiner Seele hinaufgerollt. Er hatte von ihnen getrunken, war darin eingetaucht und fast darin umgekommen. Dort hatte Er sich in einem tödlichen Kampf gequält, bis die großen Blutstropfen sich auf Seine Stirn drückten. Dort war Er ausgeliefert worden, während sie alle geflohen waren. Zu Hannas, zu Kaiphas, zu Pilatus, zu Herodes und wieder zu Pilatus; von Demütigung zu Demütigung, von Folter zu Folter wurde Er die ganze lange Nacht und den ganzen Morgen gejagt. Die ganze Zeit über hatte Er sich mit einer göttlichen Majestät getragen, die sowohl die tiefen Gefühle des Pilatus als auch den wütenden Hass der Juden erweckt hatte. Aber wenn Seine Göttlichkeit Seiner Menschlichkeit die wahre Bedeutung gab, so gab diese Menschlichkeit Seinem freiwilligen Opfer die wahre Bedeutung. Die Evangelisten sind also weit davon entfernt, ihre Erscheinungsformen zu verbergen, und stellen sie nicht unnötig, sondern ohne zu zögern in den Vordergrund. Nach den schrecklichen Ereignissen jener Nacht und jenes Morgens, als sein bleiches Gesicht die Blutspuren der Dornenkrone trug, war sein geschundener Körper weder durch Nahrung noch durch Schlaf erfrischt und konnte die Last des Kreuzes nicht tragen. Kein Wunder, dass das Mitleid der Frauen von Jerusalem erregt war. Aber unser Mitleid ist kein Mitleid, es ist Anbetung bei diesem Anblick. Denn hinter Seiner menschlichen Schwäche lag die göttliche Stärke, die Ihn zu dieser freiwilligen Selbsthingabe und Selbstauslöschung führte. Es war die göttliche Kraft Seines Mitleids und Seiner Liebe, die in Seiner menschlichen Schwäche zum Ausdruck kam.

                    Bis zu diesem letzten Tor, das von der „Vorstadt“ zur Hinrichtungsstätte führte, trug Jesus sein Kreuz. Dann, so folgern wir, wich seine Kraft unter ihm. Ein Mann kam aus der entgegengesetzten Richtung, einer aus der großen jüdischen Kolonie, die sich, wie wir wissen, in Kyrene niedergelassen hatte. Er würde besonders auffallen; denn nur wenige würden zu dieser Stunde, am Festtag, „aus dem Lande“ kommen,2 obwohl dies nicht gegen das Gesetz verstieß. Es ist so viel daraus gemacht worden, dass man genau wissen sollte, dass das Reisen, das an Sabbaten verboten war, an Festtagen nicht verboten war. Außerdem könnte der Ort, von dem er kam – vielleicht sein Haus -, innerhalb der kirchlichen Grenzen Jerusalems gelegen haben. Auf jeden Fall scheint er zumindest später in der Kirche gut bekannt gewesen zu sein – und seine Söhne Alexander und Rufus noch besser als er. a Nur so viel können wir mit Sicherheit sagen; sie mit Personen gleichen Namens zu identifizieren, die an anderen Stellen des Neuen Testaments erwähnt werden, kann nur Gegenstand von Spekulationen sein. Aber wir können uns des Gedankens kaum erwehren, dass Simon von Kyrene vor jenem Tag noch kein Jünger war; er hatte erst gelernt, Christus nachzufolgen, als ihn an jenem Tag, als er durch das Tor kam, die Soldaten festhielten und ihn gegen seinen Willen zwangen, das Kreuz nach Christus zu tragen. Einen weiteren Hinweis auf die Notwendigkeit einer solchen Hilfe gibt uns der heilige Markus,b der einen Ausdruck5 verwendet, der zwar nicht unbedingt ausdrückt, dass der Heiland getragen werden musste, aber doch, dass er von dem Ort, an dem sie Simon trafen, nach Golgatha getragen werden musste.

                    Hier, wo der Heiland zwar nicht unter seiner Last zusammenbrach, sie aber dennoch auf den Zyrenäer übertragen werden musste, während er selbst von nun an der körperlichen Unterstützung bedurfte, platzieren wir den nächsten Vorfall in dieser Geschichte. Während das Kreuz auf den unwilligen Simon gelegt wurde, schlossen sich die Frauen, die mit dem Volk gefolgt waren, um den Leidenden und erhoben ihre Klagen. 1 Bei seinem Einzug in Jerusalem hatte Jesus über die Töchter Jerusalems geweint; als er es zum letzten Mal verließ, weinten sie über ihn. Aber die Gründe für seine Tränen waren ganz andere als die des bloßen Mitleids. Und wenn man einen Beweis für Seine göttliche Stärke selbst in der tiefsten Tiefe Seiner menschlichen Schwäche bräuchte – wie Er, der Besiegte, der Eroberer war -, so würde man ihn sicherlich in den Worten finden, mit denen Er sie aufforderte, ihre Gedanken des Mitleids dorthin zu richten, wo Mitleid erforderlich sein würde, sogar zu sich selbst und ihren Kindern in dem nahen Gericht über Jerusalem. Die Zeit würde kommen, in der der alttestamentliche Fluch der Unfruchtbarkeit als Segen begehrt werden würde. Um die Erfüllung dieser prophetischen Klage Jesu zu zeigen, ist es nicht nötig, an die erschütternden Einzelheiten zu erinnern, die Josephus aufzeichnete,als eine rasende Mutter ihr eigenes Kind röstete und in der Verhöhnung der Verzweiflung die Hälfte der schrecklichen Mahlzeit für die Mörder aufbewahrte, die täglich bei ihr einbrachen, um ihr die spärliche Nahrung zu rauben, die ihr noch geblieben war; auch nicht an andere jener Vorfälle, die der Geschichtsschreiber der letzten Belagerung Jerusalems berichtet und die zu abscheulich sind, um sie unnötig zu wiederholen. Aber wie oft müssen die Frauen Israels in diesen vielen Jahrhunderten diese schreckliche Sehnsucht nach Kinderlosigkeit empfunden haben, und wie oft muss das Gebet der Verzweiflung für einen schnellen Tod durch herabstürzende Berge und begrabende Hügel statt langer Qualen über die Lippen der Leidenden Israels gekommen sein! Und doch waren diese Worte auch eine Prophezeiung für eine noch schrecklichere Zukunft! f Denn wenn Israel seinen „grünen Baum“ so angezündet hatte, wie schrecklich würde das göttliche Gericht unter dem trockenen Holz eines abtrünnigen und rebellischen Volkes brennen, das seinen göttlichen König so ausgeliefert und das Urteil über sich selbst ausgesprochen hatte, indem es es über ihn aussprach!

                    So natürlich und in mancher Hinsicht echt die Tränen der „Töchter Jerusalems“ auch waren, die bloße Sympathie mit Christus bringt fast eine Schuld mit sich, denn sie impliziert eine Sichtweise von ihm, die im Grunde das Gegenteil von dem ist, was seine Ansprüche verlangen. Diese Tränen waren das Sinnbild jener modernen Einstellung zu Christus, die in ihrer Überschwänglichkeit eher eine Beleidigung als eine Huldigung darstellt und eher eine Ablehnung als eine Anerkennung seiner Person impliziert. Wir schrecken vor der Anmaßung eines höheren Standpunktes zurück, die in so vielen der modernen so genannten Kritiken über den Christus enthalten ist. Aber auch darüber hinaus ist jeder bloße Sentimentalismus hier das Ergebnis der Unkenntnis unseres wirklichen Zustandes. Wenn das Gefühl der Sünde in uns geweckt ist, werden wir nicht über das trauern, was Christus gelitten hat, sondern über das, was er für uns gelitten hat. Die Überschwänglichkeit des bloßen Gefühls ist eine Unverschämtheit oder eine Torheit: Unverschämtheit, wenn er der Sohn Gottes war; Torheit, wenn er nur ein Mensch war. Und auch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt gibt es hier eine Lektion zu lernen. Es ist eine Besonderheit des Romanismus, Christus immer in seiner menschlichen Schwäche darzustellen. Es ist die Eigenart eines extremen Teils auf der anderen Seite, ihn nur in seiner Göttlichkeit zu sehen. Wir sollten uns immer vor Augen halten und verehren, wenn wir uns daran erinnern, dass Christus der Retter und Gottmensch ist.

                    Es war neun Uhr morgens, als die melancholische Prozession Golgatha erreichte und die noch melancholischeren Vorbereitungen für die Kreuzigung begannen. Es wurde erklärt, dass die Strafe erfunden wurde, um den Tod so schmerzhaft und langwierig zu machen, wie es die menschliche Kraft ertragen konnte. Zuerst wurde das aufrechte Holz in den Boden gepflanzt. Es war nicht hoch, und wahrscheinlich waren die Füße des Leidenden nicht höher als ein oder zwei Fuß vom Boden entfernt. So konnte die in den Evangelien beschriebene Kommunikation zwischen Ihm und den anderen stattfinden; so konnten auch Seine Heiligen Lippen mit dem Schwamm, der an einem kurzen Ysopstängel befestigt war, befeuchtet werden. Als Nächstes wurde das Querholz (Antenne) auf den Boden gelegt, und der Leidende wurde darauf gelegt, während Seine Arme ausgebreitet, hochgezogen und daran gebunden wurden. Dann wurde (nicht in Ägypten, sondern in Karthago und in Rom) ein starker, scharfer Nagel zuerst in die rechte, dann in die linke Hand (die clavi trabales) geschlagen. Dann wurde der Leidende mit Hilfe von Seilen, vielleicht auch Leitern, hochgezogen; das Querholz wurde entweder festgebunden oder an den Pfosten genagelt, und eine Auflage oder Stütze für den Körper (das cornu oder sedile) wurde daran befestigt. Schließlich wurden die Füße verlängert und entweder ein Nagel in jeden Fuß geschlagen oder ein größeres Eisenstück durch die beiden Füße geschlagen. Wir haben bereits unsere Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die Demütigung der Entblößung bei einer solchen jüdischen Hinrichtung nicht vorgesehen war. Und so konnte der Gekreuzigte stundenlang, ja sogar tagelang, in unsagbaren Qualen hängen, bis er endlich das Bewusstsein verlor.

                    Es war ein barmherziger jüdischer Brauch, denen, die zur Hinrichtung geführt wurden, einen Schluck starken, mit Myrrhe vermischten Weines zu geben, um das Bewusstsein zu betäuben. Dieses wohltätige Amt wurde auf Kosten, wenn nicht sogar von einer Vereinigung von Frauen in Jerusalem ausgeführt. Dieser Schluck wurde Jesus angeboten, als er Golgatha erreichte. Aber nachdem er ihn gekostet und sich von seinem Charakter und Zweck überzeugt hatte, wollte er ihn nicht trinken. Es war so, wie er zuvor das Mitleid der „Töchter Jerusalems“ abgelehnt hatte. Niemand konnte Ihm das Leben nehmen; Er hatte die Macht, es hinzulegen und wieder aufzunehmen. Er würde hier auch nicht der gewöhnlichen Schwäche unserer menschlichen Natur nachgeben, nicht leiden und sterben, als wäre es eine Notwendigkeit und nicht eine freiwillige Selbstaufgabe gewesen. Er würde dem Tod selbst in seiner strengsten und grimmigsten Stimmung begegnen und ihn besiegen, indem er sich voll und ganz unterwirft. Auch dies ist eine, wenn auch schwierige, Lektion für den leidenden Christen.

                    Und so wurde er an sein Kreuz genagelt, das zwischen den Kreuzen der beiden mit ihm gekreuzigten Übeltäter stand, wahrscheinlich etwas höher als diese. blieb nur noch eines übrig: das Anbringen des so genannten „Titulus“ an Seinem Kreuz, auf dem die Anklage stand, wegen der Er verurteilt worden war. Wie bereits erwähnt, war es üblich, diese Tafel vor dem Gefangenen zu tragen, und es gibt keinen Grund, in dieser Hinsicht eine Ausnahme anzunehmen. In der Tat scheint der Umstand, dass der „Titel“ offensichtlich unter der Leitung von Pilatus verfasst worden war, darauf hinzuweisen. Er war – wie zu erwarten war, und doch höchst bezeichnend3 – dreisprachig: in Latein, Griechisch und Aramäisch. Wir nehmen an, dass es in dieser Reihenfolge geschrieben und dass die Worte die von den Evangelisten aufgezeichneten waren (mit Ausnahme von Lukas5 , der eine Abänderung des ursprünglichen oder aramäischen Textes wiedergibt). Die von Matthäus überlieferte Inschrift stimmt genau mit der überein, die Eusebiusc als lateinischen Titulus auf dem Kreuz eines der frühen Märtyrer überliefert. Wir schließen daraus, dass es sich um die lateinischen Worte handelt. Auch scheint es nur natürlich, dass die ausführlichste und für die Juden anstößigste Beschreibung in aramäischer Sprache verfasst wurde, die alle lesen konnten. Sehr bezeichnend ist, dass dies vom heiligen Johannes berichtet wird. Daraus folgt, dass die von Markus gegebene Inschrift der griechischen entsprechen muss. Obwohl sie viel weniger umfangreich war, hatte sie dieselbe Anzahl von Wörtern und genau dieselbe Anzahl von Buchstaben wie die von Johannes angegebene aramäische Inschrift.

                    Es scheint wahrscheinlich, dass die Sanhedristen von jemandem, der die Prozession auf dem Weg nach Golgatha beobachtet hatte, von der Inschrift gehört hatten, die Pilatus auf den „titulus“ geschrieben hatte – teils um sich an den Juden zu rächen, teils um sie zu verspotten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie Pilatus gebeten hätten, die Inschrift zu entfernen, nachdem sie am Kreuz angebracht worden war; und es scheint kaum glaubhaft, dass sie vor dem Prätorium gewartet hätten, bis die melancholische Prozession ihren Marsch antrat. Wir nehmen an, dass die Sanhedristen nach der Verurteilung Jesu vom Prätorium in den Tempel gegangen waren, um an dessen Gottesdiensten teilzunehmen. Als sie von der anstößigen Tafel erfuhren, eilten sie erneut zum Prätorium, um Pilatus zu veranlassen, die Anbringung der Tafel zu verhindern. Dies erklärt die Umkehrung der Reihenfolge des Berichts im Johannesevangelium,oder besser gesagt, seine Position in dieser Erzählung in unmittelbarer Verbindung mit dem Hinweis, dass die Sanhedristen befürchteten, die vorbeigehenden Juden könnten durch die Inschrift beeinflusst werden. Wir stellen uns vor, dass die Sanhedristen ursprünglich nicht die Absicht hatten, etwas so Unjüdisches zu tun, als die Leiden des Gekreuzigten nicht nur zu bestaunen, sondern ihn sogar in seinem Todeskampf zu verhöhnen – dass sie in Wirklichkeit gar nicht vorhatten, nach Golgatha zu gehen. Als sie aber sahen, dass Pilatus ihrem Drängen nicht nachgeben wollte, eilten einige von ihnen zum Ort der Kreuzigung und suchten, indem sie sich unter die Menge mischten, ihren Spott zu schüren, um jeden tieferen Eindruck zu verhindern, den die bedeutungsvollen Worte der Inschrift hätten hervorrufen können.

                    Bevor sie ihn ans Kreuz nagelten, teilten die Soldaten das armselige weltliche Erbe seiner Kleider unter sich auf. In diesem Punkt gibt es geringfügige scheinbare Unterschiede1 zwischen den Notizen der Synoptiker und dem ausführlicheren Bericht des Vierten Evangeliums. Solche Unterschiede würden, falls sie wirklich bestehen, nur einen neuen Beweis für die allgemeine Glaubwürdigkeit der Erzählung liefern. Wir müssen uns nämlich vor Augen halten, dass von allen Jüngern nur Johannes Zeuge der letzten Szenen war und dass daher die anderen Berichte, die in der frühen Kirche zirkulierten, gewissermaßen aus zweiten Quellen stammen müssen. Dies erklärt, warum vielleicht die größte Anzahl scheinbarer Unstimmigkeiten in den Evangelien in der Erzählung der letzten Stunden im Leben Christi auftritt, und wie, entgegen dem, was wir sonst vielleicht erwartet hätten, der detaillierteste und genaueste Bericht darüber von Johannes stammt. Im vorliegenden Fall lassen sich diese geringfügigen scheinbaren Unterschiede wie folgt erklären. Wie der heilige Johannes berichtet, gab es zunächst eine Aufteilung der fast gleichwertigen Gewänder des Herrn in vier Teile – einen für jeden der Soldaten. Die Kopfbedeckung, das äußere, mantelartige Gewand, der Gürtel und die Sandalen unterschieden sich kaum im Preis. Aber die Frage, welches von ihnen jedem der Soldaten gehören sollte, würde natürlich, wie uns die Synoptiker mitteilen, durch das Los entschieden werden.

                    Aber außer diesen vier Kleidungsstücken gab es noch das nahtlos gewebte innere Gewand,das bei weitem das wertvollste von allen war, und um das sie, da es nicht geteilt werden konnte, ohne zerstört zu werden, eigens das Los warfen3 (wie der heilige Johannes berichtet). Nichts in dieser Welt kann zufällig sein, denn Gott ist nicht weit weg von uns allen. Aber in der Geschichte Christi muß sich der göttliche Plan, der Gegenstand aller Prophezeiungen ist, ständig verwirklicht haben, ja, er muß sich dem Betrachter aufgedrängt haben, und zwar um so unwiderstehlicher, wenn, wie im vorliegenden Fall, die äußeren Umstände in so scharfem Gegensatz zur höheren Wirklichkeit standen. Für Johannes, den geliebten und geschätzten Jünger, konnte kaum ein größerer Kontrast bestehen als zwischen dieser groben Aufteilung durch das Los unter den Soldaten und dem Charakter und den Ansprüchen dessen, dessen Gewänder sie auf diese Weise aufteilten, als wäre er ein hilfloses Opfer in ihren Händen. Hier konnte es nur eine Erklärung geben: dass in der Erlaubnis eines solchen Ereignisses eine besondere göttliche Bedeutung lag – dass es die Erfüllung einer alten Prophezeiung war. Als er auf die schreckliche Szene blickte, erschienen ihm die Worte des Psalms 1, die die Verlassenheit, die Leiden und die Verachtung des Knechtes des Herrn bis zum Tod schilderten, im roten Licht der im Blut untergehenden Sonne. Sie blitzten in seinem Geist auf – zum ersten Mal verstand er sie; und die Flammen, die den Leidenden umspielten, wurden als das Opferfeuer gesehen, das das von ihm dargebrachte Opfer verzehrte. Allein die Tatsache, dass dieses Zitat im vierten Evangelium steht, beweist, dass sein Verfasser ein Augenzeuge war; dass es überhaupt im vierten Evangelium steht, beweist, dass er ein Jude war, tief durchdrungen von jüdischen religiösen Denkweisen. Und die Beweise für beides sind umso stärker, wenn wir uns an die vergleichsweise seltenen Zitate aus dem Alten Testament im Vierten Evangelium erinnern und an den eigentümlich jüdischen Charakter dieser Zitate.

                    Als sie ihn so ans Kreuz nagelten und seine Kleider zerteilten, sprach er das erste der sogenannten „Sieben Worte“: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. „Schon der Hinweis in diesem Gebet auf das, „was sie tun“ (weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft), weist auf die Soldaten als primäres, wenn auch sicher nicht einziges Ziel des Gebetes des Erlösers hin. b Aber auch höhere Gedanken kommen uns. In dem Augenblick der tiefsten Erniedrigung der menschlichen Natur Christi bricht das Göttliche am hellsten hervor. Es ist, als ob der Heiland in seinem Leiden alles rein Menschliche ablegen würde, so wie er zuvor den Kelch mit dem betäubenden Wein abgelegt hatte. Diese Soldaten waren nur die unbewussten Werkzeuge: die Form war nichts; der Kampf war zwischen dem Reich Gottes und dem der Finsternis, zwischen Christus und Satan, und diese Leiden waren nur der notwendige Weg des Gehorsams und zum Sieg und zur Herrlichkeit. Wenn er am menschlichsten ist (in dem Moment, in dem er ans Kreuz genagelt wird), dann ist er am göttlichsten, wenn er die menschlichen Elemente des menschlichen Werkzeugs und des menschlichen Leidens völlig ablegt. Auch in der völligen Selbstvergessenheit des Gottmenschen – die einer der Aspekte der Menschwerdung ist – gedenkt Er nur der göttlichen Barmherzigkeit und betet für die, die Ihn kreuzigen; und so besiegt auch der Besiegte wahrhaftig Seine Bezwinger, indem Er für sie erbittet, was sie durch ihre Tat verwirkt hatten. Und schließlich zeigt er dadurch, dass sowohl die erste als auch die letzte seiner Reden mit „Vater“ beginnt, durch die Ungebrochenheit seines Glaubens und seiner Gemeinschaft den wahren geistlichen Sieg, den er errungen hat. Und Er hat ihn nicht nur für die Märtyrer errungen, die von Ihm gelernt haben, so zu beten, wie Er es tat, sondern für jeden, der sich inmitten all dessen, was ihm am meisten entgegengesetzt zu sein scheint, über das bloße Vergessen dessen, was um ihn herum ist, hinaus erheben kann, um den Glauben und die Gemeinschaft mit Gott als „dem Vater“ zu verwirklichen – der durch den dunklen Wolkenvorhang hindurch den hellen Himmel erkennen und die unerschütterliche Zuversicht, wenn nicht gar die ungebrochene Freude des absoluten Vertrauens spüren kann.

                    Dies war seine erste Äußerung am Kreuz – in Bezug auf sie, in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf Gott. So hat der Mensch sicher nicht gelitten. Ist dieses Gebet Christi erhört worden? Wir wagen es nicht zu bezweifeln; ja, wir erkennen es in gewissem Maße in den Segenstropfen, die auf die Heiden gefallen sind und auch Israel, selbst in seiner Unwissenheit, einen Überrest nach der Auserwählung der Gnade gelassen haben.

                    Und nun begannen die wahren Qualen des Kreuzes – körperlich, seelisch und geistig. Es war das müde, unerlöste Warten, während sich die Dunkelheit immer mehr verdichtete. Bevor sie sich zu ihrer melancholischen Wache über den Gekreuzigten setzten, erfrischten sich die Soldaten nach ihrer Anstrengung, Jesus an das Kreuz zu nageln, es hochzuheben und zu befestigen, mit einem Schluck des billigen Weines des Landes. Während sie ihn tranken, stießen sie ihn in ihrer groben Brutalität an und traten spöttisch an ihn heran, indem sie ihn aufforderten, sie zu verpfänden. Ihre Spötteleien richteten sich zwar nicht in erster Linie gegen Jesus persönlich, sondern in seiner Stellvertreterfunktion und damit gegen die verhassten, verachteten Juden, deren König sie nun spöttisch herausforderten, sich selbst zu retten. Dennoch scheint es uns von tiefster Bedeutung, dass er in seiner Stellvertreterfunktion und als König der Juden so behandelt und verspottet wurde. Es ist das ungewollte Zeugnis der Geschichte, sowohl was den Charakter Jesu als auch was die Zukunft Israels betrifft. Aber was wir von fast jedem Standpunkt aus nur schwer verstehen können, ist die unsagbare Erniedrigung der Führer Israels – ihr moralischer Selbstmord in Bezug auf Israels Hoffnung und geistige Existenz. Dort, an jenem Kreuz, hing derjenige, der zumindest die große Hoffnung der Nation verkörperte; der sogar nach ihren eigenen Angaben bis zum Äußersten für diese Idee litt und sie dennoch nicht aufgab, sondern in unerschütterlichem Vertrauen an ihr festhielt; einer, gegen dessen Leben oder sogar Lehre kein Einwand erhoben werden konnte, außer dem dieser großen Idee. Und doch, als er ihnen in dem höhnischen Spott dieser heidnischen Soldaten begegnete, rief er keine anderen oder höheren Gedanken in ihnen hervor; und sie hatten die unbeschreibliche Niedertracht, sich dem Spott über Israels große Hoffnung anzuschließen und den Volkschor darin anzuführen!

                    Denn wir können nicht daran zweifeln, dass sie – vielleicht auch, um die Spitze des Spottes von Israel abzulenken – ihn aufgriffen und versuchten, ihn gegen Jesus zu richten; und dass sie den unwissenden Pöbel bei den kläglichen Versuchen des Spottes anführten. Und fühlte keiner von denen, die ihn in allen Hauptaspekten seines Werkes so schmähten, dass sie, wie Judas den Meister umsonst verkauft und Selbstmord begangen hatte, dies auch in Bezug auf ihre messianische Hoffnung taten? Denn ihr Spott verachtete die vier großen Tatsachen im Leben und Werk Jesu, die auch die Grundgedanken des messianischen Königreichs waren: die neue Beziehung zu Israels Religion und dem Tempel („Du, der du den Tempel zerstörst und ihn in drei Tagen wieder aufbaust“); die neue Beziehung zum Vater durch den Messias, den Sohn Gottes („Wenn du der Sohn Gottes bist“); die neue, allgenügende Hilfe für Leib und Seele in der Erlösung („Er hat andere gerettet“); und schließlich die neue Beziehung zu Israel in der Erfüllung und Vervollkommnung seiner Mission durch seinen König („Wenn er der König Israels ist“). Auf all das wirft die höhnische Herausforderung der Sanhedristen, vom Kreuz herabzusteigen und sich selbst zu retten, wenn er die Treue ihres Glaubens beanspruchen würde, das, was Matthäus und Markus als „Lästerung „des Zweifels bezeichnen. Wir vergleichen mit ihnen die Berichte des Lukas und des Johannes. Der Bericht des Lukas liest sich wie der Bericht eines Menschen, der die ganze Zeit über ganz in der Nähe war, vielleicht sogar an der Kreuzigung teilgenommen hat2 – man könnte fast vermuten, dass er von dem Hauptmann stammte. 3 Die Erzählung des Johannes liest sich deutlich wie die eines Augenzeugen, und er ist ein Judäer. Und wenn wir den allgemeinen jüdischen Stil und die alttestamentlichen Zitate mit den anderen Teilen des vierten Evangeliums vergleichen, haben wir das Gefühl, als ob (wie so oft) unter dem Einfluss der stärksten Emotionen die spätere Entwicklung und das eigentümliche Denken so vieler Jahre danach für eine Zeit lang aus dem Geist des Johannes getilgt oder vielmehr den jüdischen Denk- und Redeweisen Platz gemacht hätten, die ihm in früheren Tagen vertraut waren. Schließlich scheint der Bericht des Matthäus aus priesterlicher Sicht geschrieben zu sein, so als wäre er von einem der damals anwesenden Priester oder Sanhedristen verfasst worden.

                    Doch es gibt noch weitere Schlüsse, die wir ziehen können. Erstens besteht ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen dem, was Lukas als Ausspruch der Soldaten zitiert: „Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst“, und dem Bericht der Worte bei Matthäus:“Er hat andere gerettet – sich selbst kann er nicht retten. Er2 ist der König von Israel! Lasst ihn nun vom Kreuz herabsteigen, und wir werden an ihn glauben!‘ Dies sind die Worte der Sanhedristen, und sie scheinen auf die Worte der Soldaten zu antworten, wie sie der heilige Lukas berichtet, und sie weiterzuführen. Das „Wenn“ der Soldaten: „Wenn Du der König der Juden bist“, wird nun zu einer direkten gotteslästerlichen Herausforderung. Wenn wir daran denken, scheinen sie die frühere jüdische Forderung nach einem äußeren, unfehlbaren Zeichen zum Beweis seiner Messianität zu wiederholen, und zwar jetzt mit dem Gelächter des höllischen Triumphs. Aber sie greifen auch das auf und wiederholen, was Satan Jesus in der Versuchung in der Wüste vorgesetzt hatte. Zu Beginn seines Werkes hatte der Versucher vorgeschlagen, dass Christus den absoluten Sieg durch einen Akt anmaßender Selbstbehauptung erringen solle, der dem Geist Christi völlig zuwiderlief, den Satan aber als einen Akt des Vertrauens in Gott darstellte, den er mit Sicherheit anerkennen würde. Und nun, am Ende seines messianischen Werkes, suggerierte der Versucher in der Anfechtung der Sanhedristen, dass Jesus eine absolute Niederlage erlitten habe und dass Gott das Vertrauen, das der Christus in ihn gesetzt hatte, öffentlich zurückgewiesen habe: „Er vertraut auf Gott; wenn er ihn haben will, so soll er ihn jetzt befreien. „3 Hier, wie auch in der Versuchung in der Wüste, wurden die Worte der Heiligen Schrift falsch angewandt – in diesem Fall die aus Ps 22,8. Und das von den Sanhedristen angeführte Zitat ist umso bemerkenswerter, als dieser Psalm entgegen der allgemeinen Behauptung von Schriftstellern von der antiken Synagoge messianisch angewandt wurde. Vor allem dieser Vers,a der dem spöttischen Zitat der Sanhedristen vorausgeht, wurde ausdrücklich auf die Leiden und den Spott angewandt, die der Messias von seinen Feinden erdulden musste: „Alle, die mich sehen, verlachen mich; sie schießen die Lippen auf, sie schütteln den Kopf. „

                    Der Spott der Sanhedristen unter dem Kreuz war, wie bereits erwähnt, nicht völlig spontan, sondern hatte einen besonderen Grund. Der Ort der Kreuzigung lag nahe an der großen Straße, die vom Norden nach Jerusalem führte. An diesem Festtag, an dem es kein Gesetz gab, das die Fortbewegung wie am wöchentlichen Ruhetag auf eine „Sabbatfahrt“ beschränkte, gingen viele in die Stadt hinein und aus ihr heraus, und die Menge wurde natürlich vom Anblick der drei Kreuze angehalten. Ebenso natürlich wären sie von dem Titulus über dem Kreuz Christi beeindruckt gewesen. Die Worte, die den Leidtragenden als „König der Juden“ bezeichneten, hätten in Verbindung mit dem, was über Jesus bekannt war, höchst gefährliche Fragen aufwerfen können. Und dies sollte durch die Anwesenheit der Sanhedristen verhindert werden, indem die Meinung des Volkes in eine völlig andere Richtung gelenkt wurde. Es war genau eine solche Verhöhnung und Argumentation, die an den groben Realismus des gemeinen Volkes appellieren würde, der allzu oft fälschlicherweise als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet wird. Lukas schreibt den Spott über Jesus bezeichnenderweise nur den Machthabern zu,und wir wiederholen, dass der von Matthäus und Markus aufgezeichnete Spott der Vorübergehenden von diesen ausgelöst wurde. So lag auch hier die Hauptschuld bei den Führern des Volkes.

                    Ein weiteres Merkmal finden wir bei Lukas, das unseren Eindruck bestätigt, dass sein Bericht von einem stammt, der ganz nahe am Kreuz gestanden und wahrscheinlich offiziell an der Kreuzigung teilgenommen hat. Matthäus und Markus erwähnen lediglich allgemein, dass der Spott der Sanhedristen und des Volkes von den Schächern am Kreuz mitgetragen wurde. Eine Eigenschaft, die wir nicht nur für psychologisch zutreffend halten, sondern auch für umso wahrscheinlicher, als jede Sympathie oder mögliche Linderung ihrer Leiden am besten dadurch erreicht werden konnte, dass sie sich dem Spott der Führer anschlossen und die Empörung des Volkes auf Jesus konzentrierten. Lukas berichtet aber auch von einem entscheidenden Unterschied zwischen den beiden „Räubern“ am Kreuz. Der unbußfertige Dieb greift den Spott der Sanhedristen auf: „Bist du nicht der Christus? dich und uns!‘ Die Worte sind umso bedeutsamer, als sie sowohl die majestätische Ruhe und die mitleidige Liebe des Erlösers am Kreuz als auch die Äußerung des „reuigen Schächers“ widerspiegeln, denn – so seltsam es klingen mag – es scheint ein schreckliches Phänomen gewesen zu sein, das von den Geschichtsschreibern festgehalten wurde,3 dass die am Kreuz Hängenden die Zuschauer zu beschimpfen und zu verwünschen pflegten, weil die getriebene Natur vielleicht in solchen Ausbrüchen Erleichterung suchte. Nicht so, wenn das Herz in wahrer Reue berührt wurde.

                    Wenn eine genauere Betrachtung der Worte des „reuigen Diebes“ die Fülle der Bedeutung, die die traditionelle Sichtweise ihnen beimisst, zu schmälern scheint, so gewinnen sie umso mehr, je mehr wir ihre historische Realität erkennen. Seine ersten Worte waren ein Vorwurf an seinen Kameraden. Überkam ihn in jener schrecklichen Stunde, inmitten der Qualen eines langsamen Todes, nicht die Furcht vor Gott – zumindest so weit, dass er sich nicht dem schändlichen Spott derer anschloss, die die Todesqualen des Leidenden beleidigten? Und dies um so mehr, als die Umstände sehr merkwürdig waren. Sie waren alle drei Leidtragende; aber sie zwei zu Recht, während der, den er beleidigte, nichts Unrechtes getan hatte. Von dieser Tatsachenbasis aus stieg der Büßer schnell zur Höhe des Glaubens auf. Dies ist nicht ungewöhnlich, wenn ein Geist die Lektionen der Wahrheit in der Schule der Gnade lernt. Nur tritt es hier um so schärfer hervor, weil der dunkle Hintergrund, vor dem es sich abzeichnet, in so breiten und hell leuchtenden Umrissen erscheint. Die Stunde der tiefsten Erniedrigung Christi sollte, wie alle Augenblicke seiner größten Erniedrigung, durch eine Offenbarung seiner Herrlichkeit und seines göttlichen Charakters gekennzeichnet sein – gleichsam durch Gottes Zeugnis für ihn in der Geschichte, wenn nicht durch die Stimme Gottes vom Himmel. Und was den „Büßer“ selbst betrifft, so bemerken wir die Entwicklung in seiner Seele. Niemand konnte in Unkenntnis darüber sein – am wenigsten diejenigen, die mit ihm zur Kreuzigung geführt wurden -, dass Jesus nicht wegen eines Verbrechens oder einer politischen Bewegung gelitten hat, sondern weil er die große Hoffnung Israels verkörperte und von seinen Führern abgelehnt wurde. Und wenn jemand unwissend gewesen wäre, hätten der „Titel“ über dem Kreuz und die erbitterte Feindschaft der Sanhedristen, die ihn mit Spott und Hohn verfolgten, wo selbst die gewöhnliche Menschheit und noch mehr das jüdische Gefühl Schweigen, wenn nicht gar Mitleid geboten hätte, zeigen müssen, was die Motive der „Verurteilung“ Jesu gewesen waren. Aber wenn der Verstand erst einmal geöffnet war, um all diese Tatsachen zu erkennen, würde der Fortschritt schnell sein. In Stunden der Not kann ein Mensch sich selbst täuschen und auf verhängnisvolle Weise Furcht mit Gottesfurcht verwechseln, und die Erinnerung an bestimmte äußere Kenntnisse mit geistiger Erfahrung. Aber wenn ein Mensch in solchen Zeiten wirklich lernt, kann die Lehre von Jahren in Augenblicken komprimiert werden, und der sterbende Schächer am Kreuz könnte das Wissen übertreffen, das die Apostel in ihren Jahren der Nachfolge Christi erlangt haben.

                    Eines war dem „reuigen Dieb“, der in dieser Stunde Gott fürchtete, besonders bewusst. Jesus hatte nichts Falsches getan. Und dies umgab die Inschrift am Kreuz mit einem Heiligenschein aus moralischem Ruhm, lange bevor ihre Worte eine neue Bedeutung bekamen. Aber wie hat dieser Unschuldige sich im Leiden verhalten? Richtig königlich – nicht in einem irdischen Sinn, sondern in dem, in dem er allein das Reich beanspruchte. So hatte Er zu den Frauen gesprochen, die Ihn beklagten, als Seine schwache Gestalt die Last des Kreuzes nicht mehr tragen konnte; und so hatte Er den Zug abgelehnt, der Bewusstsein und Empfindungsvermögen betäubt hätte. Als sie dann zu dritt auf den Querbalken gestreckt wurden und in der ersten und schärfsten Agonie des Schmerzes die Nägel mit grausamen Hammerschlägen durch das bebende Fleisch getrieben wurden, und in der namenlosen Agonie, die den ersten Momenten der Kreuzigung folgte, war nur ein Gebet für diejenigen, die in Unwissenheit die Werkzeuge Seiner Folter waren, über Seine Lippen gekommen. Und doch war Er unschuldig, der so grausam litt! Alles, was danach kam, muss den Eindruck nur noch vertieft haben. Mit welcher Ruhe des Ertragens und mit welch majestätischem Schweigen hatte Er die Beleidigungen und den Spott derer ertragen, die selbst dem geistig nicht erleuchteten Auge so unendlich weit unter Ihm erschienen sein mussten! Dieser Mann spürte die „Furcht“ Gottes, der nun die neue Lektion lernte, dass die Gottesfurcht wahrhaftig der Anfang der Weisheit ist. Und als er einmal dem moralischen Element Platz machte, als er unter der Furcht Gottes seinen Kameraden zurechtwies, wurde diese neue moralische Entscheidung für ihn, wie so oft, der Anfang des geistlichen Lebens. Rasch ging er nun ins Licht, und weiter und weiter: Herr, gedenke meiner, wenn Du kommst in Deinem Reich!

                    Die vertrauten Worte unserer autorisierten Fassung – „Wenn Du in Dein Reich kommst“ – vermitteln die Vorstellung von dem, was wir als eine eher geistliche Bedeutung der Bitte bezeichnen könnten. Aber wir können kaum glauben, dass sie in jenem Moment entweder bedeutete, dass Christus in sein Reich eintrat, oder dass der „reuige Schächer“ auf Christus wartete, um in das Himmelreich aufgenommen zu werden. Die Worte entsprechen der jüdischen Sichtweise des Mannes. Er erkannte und besaß Jesus als den Messias, und er tat dies durch eine wunderbare Vorwärtsbewegung des Glaubens, sogar in der äußersten Erniedrigung Christi. Und das ging sofort über den jüdischen Standpunkt hinaus, denn er erwartete, dass Jesus bald in seiner königlichen Macht und Kraft wiederkommen würde, als er darum bat, von ihm in Gnade bedacht zu werden. Und hier müssen wir wieder bedenken, dass die Menschen während des Lebens Christi auf Erden, und zwar vor der Ausgießung des Heiligen Geistes, immer zuerst lernten, an die Person Christi zu glauben, und dann seine Lehre und seine Mission in der Vergebung der Sünden kennen. So war es auch in diesem Fall. Wenn der „reuige Dieb“ gelernt hatte, Christus kennenzulernen und um gnädige Anerkennung in seinem kommenden Reich zu bitten, so vermittelte die antwortende Zusicherung des Herrn nicht nur den Trost, dass sein Gebet erhört worden war, sondern auch die Belehrung über geistliche Dinge, die er noch nicht kannte und die er so sehr zu kennen brauchte. Der „Büßer“ hatte von der Zukunft gesprochen, Christus sprach vom „Heute“; der Büßer hatte um das kommende messianische Reich gebetet, Christus versicherte ihm den Zustand der körperlosen Geister und übermittelte ihm die Verheißung, dass er dort in der Wohnstätte der Seligen – dem „Paradies“ – sein würde, und zwar durch ihn selbst als den Messias: ‚Menschen, ich sage euch: Heute wirst du mit mir im Paradies sein‘. So gab ihm Christus die geistige Erkenntnis, die er noch nicht besaß – die Lehre vom „Heute“, von der Notwendigkeit der gnädigen Aufnahme in das Paradies, und zwar mit und durch ihn selbst – mit anderen Worten: von der Vergebung der Sünden und der Öffnung des Himmelreiches für alle Gläubigen. Dies war als erster und grundlegender Keim der Seele die erste und grundlegende Tatsache in Bezug auf den Messias.

                    Dies war die zweite Ansprache vom Kreuz. Die erste war von völliger Selbstvergessenheit, die zweite von tiefster, weisester, gnadenvollster geistlicher Belehrung. Und hätte er nichts anderes gesprochen, so wäre er als Sohn Gottes erwiesen worden.

                    Dem „Büßer“ am Kreuz bräuchte nichts mehr gesagt zu werden. Die folgenden Ereignisse und die Worte, die Jesus noch sprechen würde, würden ihn umfassender belehren, als dies sonst möglich gewesen wäre. Einige Stunden – wahrscheinlich zwei – waren vergangen, seit Jesus ans Kreuz genagelt worden war. Wir fragen uns, wie es dazu kommen konnte, dass Johannes, der uns einige der Geschehnisse mit so großer Genauigkeit und mit der lebendigen Erkenntnis eines zutiefst interessierten Augenzeugen berichtet, über andere schweigt – insbesondere über diese Stunden des Spottes sowie über die Bekehrung des reuigen Schächers. Sein Schweigen scheint uns auf seine Abwesenheit von der Szene zurückzuführen zu sein. Wir trennen uns von ihm nach seiner ausführlichen Schilderung der letzten Szene vor Pilatus. Nach der Verkündigung des letzten Urteils nehmen wir an, dass er in die Stadt eilte und die Jünger, die er dort antraf – vor allem die gläubigen Frauen und die Jungfrau -, mit den schrecklichen Szenen vertraut machte, die sich seit dem Vorabend abgespielt hatten. Von dort kehrte er nach Golgatha zurück, gerade rechtzeitig, um der Kreuzigung beizuwohnen, die er wiederum mit besonderer Ausführlichkeit schildert. b Als der Heiland ans Kreuz genagelt war, scheint Johannes noch einmal in die Stadt zurückgekehrt zu sein – diesmal, um die Frauen mitzunehmen, in deren Gesellschaft er jetzt in der Nähe des Kreuzes steht. Einen zarteren, zärtlicheren, liebevolleren Dienst als diesen hätte man nicht leisten können. Von allen Jüngern ist er der Einzige, der sich nicht scheut, in der Nähe Christi zu sein, im Palast des Hohenpriesters, vor Pilatus und jetzt unter dem Kreuz. Und er allein erweist Christus diesen zärtlichen Dienst, indem er die Frauen und Maria zum Kreuz bringt und ihnen den Schutz seiner Führung und Begleitung gewährt. Er liebte Jesus am meisten; und es war angemessen, dass seiner Männlichkeit und Zuneigung das unaussprechliche Vorrecht des gefährlichen Erbes Christi anvertraut wurde.

                    Die Erzählunga hinterlässt den Eindruck, dass diese vier Frauen zusammen mit dem geliebten Jünger in der Nähe des Kreuzes standen: die Mutter Jesu, die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Ein Vergleich mit den Überlieferungen bei Matthäusb und Markusc liefert weitere wichtige Einzelheiten. Dort ist nur von drei Frauen die Rede, der Name der Mutter unseres Herrn wird ausgelassen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich dies auf eine spätere Zeit der Kreuzigungsgeschichte bezieht. Es scheint, als ob Johannes das Gebot des Herrn buchstabengetreu erfüllt hätte: „Siehe, deine Mutter“, und sie buchstäblich „von jener Stunde an“ zu sich nach Hause genommen hat. Wenn wir mit dieser Annahme richtig liegen, dann würden sich die anderen drei Frauen in Abwesenheit des Johannes, der die Jungfrau-Mutter von diesem Ort des Schreckens wegführte, in die Ferne zurückziehen, wo wir sie am Ende finden, nicht „beim Kreuz“, wie in Johannes 19,25, sondern „aus der Ferne sehend“, und nun auch mit anderen, die Christus geliebt hatten und ihm gefolgt waren.

                    Wir stellen ferner fest, dass der Name der Jungfrau-Mutter weggelassen wurde, während die anderen drei dieselben sind, die der heilige Johannes erwähnt; nur wird Maria von Klopas jetzt als „die Mutter von Jakobus und Joses „und die „Schwester der Mutter“ Christi als „Salome“ und „die Mutter der Kinder des Zebedäus“ bezeichnet., die Frau des Zebedäus und Mutter des Johannes, war also die Schwester der Jungfrau Maria, und der geliebte Jünger war der Cousin (mütterlicherseits) Jesu und der Neffe der Jungfrau Maria. Dies erklärt auch, warum ihm die Sorge für die Mutter anvertraut wurde. Auch Maria, die Frau des Klopas, war nicht ohne Beziehung zu Jesus. In dem Bericht, den wir mit gutem Grund als vertrauenswürdig ansehen können, wird Klopas als der Bruder von Josef, dem Ehemann der Jungfrau, beschrieben. Somit wäre nicht nur Salome als Schwester der Jungfrau, sondern auch Maria als Frau des Klopas in gewissem Sinne seine Tante und ihre Söhne seine Vettern gewesen. Und so finden wir unter den zwölf Aposteln fünf Cousins des Herrn: die beiden Söhne von Salome und Zebedäus und die drei Söhne von Alphäus oder Klopas1 und Maria: Jakobus, Judas, genannt Lebbæus und Thaddæus, und Simon, genannt Zelotes oder Cananæan.

                    Jetzt können wir die Ereignisse in gewissem Maße nachvollziehen. Als Johannes den Erlöser ans Kreuz genagelt gesehen hatte, war er in die Stadt gegangen und hatte die Jungfrau zum letzten trauernden Abschied mitgebracht, begleitet von denen, die ihr am nächsten standen und natürlich bei ihr waren: ihre eigene Schwester Salome, die Schwägerin von Joseph und Frau (oder eher Witwe) von Klopas, und diejenige, die von allen anderen am meisten von seiner gesegneten Macht zu retten erfahren hatte – Maria von Magdala. Einmal mehr erkennen wir ehrfürchtig Seine göttliche Ruhe der völligen Selbstvergessenheit und Seine menschliche Fürsorge für andere. Als sie unter dem Kreuz standen, übergab Er Seine Mutter dem Jünger, den Er liebte, und stellte eine neue menschliche Beziehung zwischen ihm und derjenigen her, die Ihm am nächsten war. Und ruhig, ernsthaft und unverzüglich übernahm dieser Jünger den heiligen Auftrag und brachte sie, deren Seele das Schwert durchbohrt hatte, vom Schauplatz des unsagbaren Leids weg in den Schutz seines Hauses. Und diese zeitweilige Abwesenheit des Johannes vom Kreuz mag erklären, warum seine Erzählung bis zur Schlussszene keine Einzelheiten enthält.

                    Nun endlich war alles, was den irdischen Aspekt Seiner Mission betraf – soweit es am Kreuz geschehen musste – beendet. Er hatte für diejenigen gebetet, die Ihn in Unkenntnis dessen, was sie taten, ans Kreuz genagelt hatten; Er hatte den Reumütigen, die Seine Herrlichkeit in Seiner Erniedrigung erkannt hatten, den Trost der Gewissheit gegeben; und Er hatte die letzten Vorkehrungen der Liebe in Bezug auf diejenigen getroffen, die Ihm am nächsten standen. Die Beziehungen Seiner Menschlichkeit – alles, was Seine Menschennatur in irgendeiner Richtung berührte – waren sozusagen vollständig erfüllt worden. Er hatte mit dem menschlichen Aspekt Seines Werkes und mit der Erde abgeschlossen. Und dementsprechend schien die Natur nun traurigen Abschied von Ihm zu nehmen und ihren scheidenden Herrn zu betrauern, der sie durch Seine persönliche Verbindung mit ihr noch einmal aus der Erniedrigung des Falls in den Bereich des Göttlichen gehoben und sie zur Wohnstätte, zum Träger der Offenbarung und zum gehorsamen Boten des Göttlichen gemacht hatte.

                    Drei Stunden lang hatte der Heiland am Kreuz gehangen. Es war Mittagszeit. Und nun war die Sonne von der sechsten bis zur neunten Stunde in Finsternis gehüllt. Es ist zwecklos zu versuchen, den Ursprung dieser Finsternis zu ergründen. Es kann sich nicht um eine Sonnenfinsternis gehandelt haben, da es die Zeit des Vollmonds war; auch können wir uns nicht auf die späteren Berichte der kirchlichen Schriftsteller zu diesem Thema verlassen. Es scheint nur im Einklang mit der evangelischen Erzählung zu stehen, das Auftreten des Ereignisses als übernatürlich zu betrachten, während das Ereignis selbst durch natürliche Ursachen herbeigeführt worden sein könnte; und unter diesen müssen wir die besondere Aufmerksamkeit auf das Erdbeben lenken, mit dem diese Finsternis endete. a Denn es ist ein bekanntes Phänomen, dass solche Finsternisse nicht selten Erdbeben vorausgehen. Andererseits muss man freimütig zugeben, dass die Sprache der Evangelisten anzudeuten scheint, dass sich diese Finsternis nicht nur über das Land Israel, sondern über die ganze bewohnte Erde erstreckte. Der Ausdruck darf natürlich nicht wörtlich genommen werden, sondern muss so erklärt werden, dass er sich weit über Judäa und andere Länder erstreckt. Der Umstand, dass weder das Erdbeben noch die vorangegangene Finsternis von irgendeinem weltlichen Schriftsteller, dessen Werke erhalten sind, erwähnt werden, lässt keinen vernünftigen Einwand zu, da man sicher nicht behaupten würde, dass von jedem Erdbeben, das sich ereignet hat, und von jeder Finsternis, die ihm vorausgegangen sein mag, eine historische Aufzeichnung erhalten sein muss. Am ungerechtesten ist jedoch das Argument, das den unhistorischen Charakter dieser Erzählung durch Berufung auf sogenannte jüdische Sprüche zu begründen versucht, die eine ähnliche Erwartung zum Ausdruck bringen. 1 Es ist ganz richtig, dass in der alttestamentlichen Prophetie – ob im übertragenen oder im wirklichen Sinne – die Verfinsterung nicht nur der Sonne, sondern auch des Mondes und der Sterne manchmal nicht mit der Ankunft des Messias, noch weniger mit seinem Tod, sondern mit dem Endgericht in Verbindung gebracht wird. Aber die jüdische Tradition spricht nie von einem solchen Ereignis im Zusammenhang mit dem Messias oder gar mit den messianischen Gerichten, und die von negativen Kritikern angeführten Zitate aus rabbinischen Schriften müssen nicht nur als unzutreffend, sondern sogar als ungerecht bezeichnet werden.

                    Aber um von dieser schmerzhaften Abschweifung zurückzukommen. Die dreistündige Finsternis betraf nicht nur die Natur; auch Jesus trat in die Finsternis ein: Körper, Seele und Geist. Es war jetzt, nicht wie vorher, ein Kampf, sondern ein Leiden. In diese für uns unergründliche Tiefe des Geheimnisses Seines Leidens wagen wir nicht einzudringen, und wir können es auch nicht. Es ging um den Leib, aber nicht nur um den Leib, sondern um das physische Leben. Und es betraf die Seele und den Geist, doch nicht nur sie, sondern in ihrer bewussten Beziehung zum Menschen und zu Gott. Und es ging nicht um das Menschliche allein in Christus, sondern in seiner unauflöslichen Verbindung mit dem Göttlichen: um das Menschliche, wo es die äußerste Grenze der Erniedrigung von Körper, Seele und Geist erreichte – und in ihm um das Göttliche, bis zur äußersten Selbstauslöschung. Die zunehmenden, namenlosen Qualen der Kreuzigung1 vertieften sich in die Bitterkeit des Todes. Die ganze Natur schreckt vor dem Tod zurück, und es gibt einen physischen Schrecken vor der Trennung zwischen Körper und Seele, der als rein natürliche Erscheinung in jedem Fall nur durch ein höheres Prinzip überwunden wird. Und wir stellen uns vor, dass das Band, mit dem Gott der Allmächtige ursprünglich Leib und Seele zusammenhielt, umso heftiger zerrissen wird, je reiner das Wesen ist. Bei dem Vollkommenen Menschen muss dies den höchsten Grad erreicht haben. So war auch in jenen dunklen Stunden das Gefühl der Menschenverlassenheit und der eigenen Isolierung von den Menschen; so war auch das intensive Schweigen Gottes, der Rückzug Gottes, das Gefühl seiner Gottverlassenheit und absoluten Einsamkeit. Wir wagen hier nicht, von strafendem Leiden zu sprechen, sondern von Verlassenheit und Einsamkeit. Doch wenn wir uns fragen, wie diese Gottverlassenheit angesichts seines göttlichen Bewusstseins, das zumindest durch seine Selbsterlöschung nicht völlig ausgelöscht werden konnte, als so vollständig angesehen werden kann, spüren wir, dass noch ein weiteres Element berücksichtigt werden muss. Christus hat am Kreuz für die Menschen gelitten; Er hat sich selbst als Opfer dargebracht; Er ist für unsere Sünden gestorben, und da der Tod der Lohn der Sünde war, ist Er stellvertretend für die Menschen gestorben – für die Menschen und an ihrer Stelle; Er hat für die Menschen die „ewige Erlösung“ , indem Er Sein Leben „als Lösegeld „b für viele gegeben hat. Denn die Menschen wurden „erlöst“ mit dem „kostbaren Blut Christi, wie von einem Lamm ohne Fehl und Tadel“; und Christus „gab sich selbst für uns, damit er uns von aller Schuld „erlöste“; d Er „gab sich selbst als Lösegeld für alle“; Christus „starb für alle“; Er, der keine Sünde kannte, wurde von Gott „zur Sünde für uns gemacht“; „Christus erlöste uns von dem Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch wurde“ – und dies mit ausdrücklichem Bezug auf die Kreuzigung. Dieser aufopfernde, stellvertretende, sühnende und erlösende Charakter seines Todes erklärt uns zwar nicht, hilft uns aber, Christi Sinn für Gottverlassenheit im höchsten Augenblick des Kreuzes zu verstehen; wenn man so will, den passiven Charakter seines Handelns durch den aktiven Charakter seines Passivs.

                    Es war diese Kombination des alttestamentlichen Opfergedankens und des alttestamentlichen Ideals des bereitwilligen Leidens als Diener Jehovas, das sich nun in Christus erfüllte, die ihren vollsten Ausdruck in der Sprache des zweiundzwanzigsten Psalms fand. Es war passend – oder besser gesagt, es war wahr -, dass das bereitwillige Leiden des wahren Opfers nun in den ersten Worten des Psalms zum Ausdruck kommen sollte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – Eli, Eli, lema sabachthanei? Diese Worte, die mit lauter Stimme2 am Ende der extremen Agonie3 ausgerufen wurden, markierten den Höhepunkt und das Ende dieses Leidens Christi, dessen äußerster Rahmen der Rückzug Gottes und die gefühlte Einsamkeit des Leidenden war. Diejenigen aber, die am Kreuz standen, legten den Sinn falsch aus und verwechselten die einleitenden Worte mit dem Namen Elias und glaubten, der Leidende habe nach Elias gerufen. Wir können kaum bezweifeln, dass dies die Soldaten waren, die beim Kreuz standen. Sie waren nicht unbedingt Römer; im Gegenteil, wie wir gesehen haben, rekrutierten sich diese Legionen im Allgemeinen aus Provinzlern. Andererseits würde kein Jude Eli mit dem Namen Elia verwechseln und auch ein Zitat aus Psalm 22,1 nicht als Ruf nach diesem Propheten missverstehen. Und es muss daran erinnert werden, dass die Worte nicht geflüstert, sondern mit lauter Stimme gerufen wurden. Aber alles stimmt mit dem Missverständnis der nichtjüdischen Soldaten überein, die, wie die ganze Geschichte zeigt, von seinen Anklägern und dem wütenden Pöbel Bruchstücke einer verzerrten Geschichte über den Christus erfahren hatten.

                    Und schon tauchte der Leidende auf der anderen Seite auf. Es kann kaum eine oder zwei Minuten von dem Zeitpunkt an gewesen sein, als der Schrei aus dem zweiundzwanzigsten Psalm den Höhepunkt Seiner Qual markierte, als die Worte „Mich dürstet“ darauf hinzuweisen scheinen, dass durch das Überwiegen des rein menschlichen Aspekts des Leidens der andere und schrecklichere Aspekt des Sündentragens und der Gottverlassenheit vorbei war. Für uns scheint dies daher der Beginn, wenn nicht des Sieges, so doch der Ruhe, des Endes zu sein. Der heilige Johannes berichtet als einziger über diese Äußerung und stellt ihr die bezeichnende Aussage voran, dass Jesus sich so dem menschlichen Gefühl hingab und die leibliche Erleichterung suchte, indem er seinem Durst Ausdruck verlieh: „da er wusste, dass nun alles vollbracht war, damit die Schrift erfüllt würde.Mit anderen Worten: Der Höhepunkt des theanthropischen Leidens in seinem Gefühl der Gottverlassenheit, das zum Ausspruch von Psalm 22,1 geführt hatte, war nun in seinem Bewusstsein das Ende all dessen, was er gemäß der Vorhersage der Schrift zu ertragen hatte. Er konnte sich nun den rein körperlichen Bedürfnissen Seines Leibes hingeben und tat es auch.

                    Es scheint, als ob Johannes, der vielleicht gerade an den Ort des Geschehens zurückgekehrt war und mit den Frauen „in der Ferne“ stand und diese Dinge sahauf den Schrei aus Psalm 22,hin nach vorne eilte und ihn das Gefühl des Durstes ausdrücken hörte, das unmittelbar darauf folgte. Und so liefert Johannes allein die Verbindung zwischen diesem Schrei und der Bewegung der Soldaten, die Matthäus und Markus sowie Johannes berichten. Denn es wäre unverständlich, warum einer von ihnen auf den Ruf, den die Soldaten als Ruf nach Elia ansahen, eilte, um seinen Durst zu stillen, wenn es nicht die im vierten Evangelium aufgezeichnete Äußerung gäbe. Aber wir können es durchaus verstehen, wenn der Ausspruch „Mich dürstet“ unmittelbar auf den vorhergehenden Ruf folgte.

                    Einer der Soldaten – man darf wohl nicht glauben, dass es einer war, der entweder schon an jenem Kreuz gelernt hatte oder im Begriff war zu lernen, Ihn als Herrn anzuerkennen -, der von Mitleid bewegt war, eilte nun herbei, um dem Leidenden eine kleine Erfrischung anzubieten, indem er einen Schwamm mit dem rauen Wein der Soldaten füllte und ihn an seine Lippen legte, nachdem er ihn zuvor am Stiel (‚Schilfrohr‘) des Ysop befestigt hatte, von dem gesagt wird, dass er bis zu zwei oder drei Fuß hoch wachsen könne. Aber auch dieser Akt der Menschlichkeit blieb nicht unbeanstandet von den groben Sticheleien der anderen, die ihn aufforderten, die Linderung des Leidenden dem Wirken des Elias zu überlassen, den er ihrer Meinung nach angerufen hatte. Wir sollten uns vielleicht auch nicht über die Schwäche des Soldaten selbst wundern, der sich zwar nicht an seiner guten Tat hindern ließ, aber den Widerstand der anderen abwehrte, indem er sich scheinbar ihrem Spott anschloss.

                    Indem der Herr die ihm angebotene körperliche Erfrischung annahm, deutete er einmal mehr die Vollendung seines Leidenswerkes an. Denn so wie Er es nicht mit durch narkotisierten Wein betäubten Sinnen und körperlichem Bewusstsein betreten wollte, so wollte Er es auch nicht mit durch den absoluten Ausfall der Lebenskraft betäubten Sinnen und körperlichem Bewusstsein wieder verlassen. Daher nahm Er das, was für den Augenblick das körperliche Gleichgewicht wiederherstellte, das für Gedanken und Worte notwendig war. Und so ging Er sofort weiter, um „den Tod für jeden Menschen zu schmecken“. Denn nun folgten in rascher Folge die beiden letzten „Aussprüche“ des Heilands: erstens der mit lauter Stimme, der zum Ausdruck brachte, dass das ihm aufgetragene Werk, soweit es sein Leiden betraf, „vollendet“ warund zweitens der mit den Worten von Psalm 31,5, mit dem er seinen Geist in die Hände des Vaters empfahl. Versuche eines Kommentars könnten die feierlichen Gedanken, die die Worte wecken, nur abschwächen. Dennoch sollten einige Punkte für unsere Lehre beachtet werden. Sein letzter Schrei „mit lauter Stimme“ war nicht wie der eines Sterbenden. Der heilige Markus schreibt, dass dies einen tiefen Eindruck auf den Hauptmann machte. c In der Sprache des frühchristlichen Hymnus war es nicht der Tod, der sich Christus näherte, sondern Christus der Tod: Er starb ohne den Tod. Christus begegnete dem Tod nicht als Besiegter, sondern als der Überwinder. Und auch das war Teil seines Werkes, und zwar für uns: der Beginn seines Triumphes. Und damit stimmt auch die eigentümliche Sprache des Johannes überein, dass Er „das Haupt beugte und den Geist aufgab“ (τὸ πνεῦμα).

                    Wir sollten auch die Besonderheiten Seiner letzten Ansprache nicht übersehen. Der „Mein Gott“ des vierten Psalms war wieder in den „Vater“ der bewussten Gemeinschaft übergegangen. Und doch kommt weder im hebräischen Original dieses Psalms noch in seiner griechischen Übersetzung durch die LXX das Wort „Vater“ vor. Auch in der Übersetzung des hebräischen Textes durch die LXX. steht dieses Wort, das die Beauftragung ausdrückt, im Futur; im Munde unseres Herrn steht es im Präsens. Und das Wort bedeutet im neutestamentlichen Sinn nicht nur empfehlen, sondern auch hinterlegen, zur sicheren Aufbewahrung übergeben. 3 Dass er im Sterben – oder besser gesagt, als er dem Tod begegnete und ihn überwand – diese Worte wählte und anwandte, ist Anlass zu tiefster Dankbarkeit für die Kirche. Er hat sie für sein Volk in einem doppelten Sinn gesprochen: für sie, damit sie fähig sind, sie zu sprechen, und „für sie“, damit sie sie fortan nach ihm sprechen können. Wie viele Tausende haben sich auf sie gestützt, wenn sie zur Ruhe gehen wollten! Es waren die letzten Worte eines Polykarp, eines Bernhard, eines Huss, eines Luther und eines Melanchthon. Und auch für uns mögen sie das passendste und sanfteste Wiegenlied sein. Und in „dem Geist“, den er Gott anvertraut hatte, stieg er nun hinab in den Hades „und predigte den Geistern im Gefängnis“.Aber hinter diesem großen Geheimnis haben sich die zweiflügeligen Tore aus Messing verschlossen, die nur die Hand des Eroberers aufsprengen konnte.

                    Und nun ging ein Schauer durch die Natur, denn ihre Sonne war untergegangen. Wir wagen es nicht, mehr zu tun, als den schnellen Umrissen der evangelischen Erzählung zu folgen. Als erstes Zeichen wird berichtet, wie der Tempelschleier von oben nach unten zerrissen wird; als zweites das Beben der Erde, das Zerreißen der Felsen und das Öffnen der Gräber. Obwohl die meisten Autoren dies als Hinweis auf eine streng chronologische Abfolge angesehen haben, gibt es im Text nichts, was uns zu einer solchen Schlussfolgerung zwingt. So wird zwar das Zerreißen des Schleiers als erstes aufgezeichnet, weil es das bedeutendste Zeichen für Israel ist, aber es kann auch mit dem Erdbeben zusammenhängen, obwohl dies allein kaum das Zerreißen eines so schweren Schleiers von oben nach unten erklären kann. Auch der letzte Umstand hat seine Bedeutung. Dass sich um diese Zeit im Heiligtum eine große Katastrophe ereignete, die auf die bevorstehende Zerstörung des Tempels hindeutete, wird durch nicht weniger als vier voneinander unabhängige Zeugnisse bestätigt: die des Tacitus,des Josephus,2 des Talmuds,und der frühesten christlichen Tradition. 4 Die wichtigsten dieser Zeugnisse sind natürlich der Talmud und Josephus. Letzterer spricht vom mysteriösen Erlöschen des mittleren und wichtigsten Lichtes im goldenen Leuchter vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels; und sowohl er als auch der Talmud beziehen sich auf eine übernatürliche Öffnung der großen Tempeltore, die zuvor verschlossen waren, was als Vorzeichen für die kommende Zerstörung des Tempels angesehen wurde. Wir können kaum daran zweifeln, dass einer so eigentümlichen und weit verbreiteten Überlieferung eine historische Tatsache zugrunde liegen muss, und wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich um eine verzerrte Version des Ereignisses des Zerreißens des Tempelschleiers (oder seines Berichts) bei der Kreuzigung Christi handeln könnte.

                    Aber selbst wenn das Zerreißen des Tempelschleiers mit dem Erdbeben und, wie das Hebräer-Evangelium berichtet, mit dem Zerbrechen des großen Türsturzes über dem Eingang begonnen hätte, ließe es sich auf diese Weise nicht vollständig erklären. Nach jüdischer Überlieferung gab es in der Tat zwei Schleier vor dem Eingang zum Allerheiligsten. Der Talmud erklärt dies damit, dass nicht bekannt war, ob im früheren Tempel der Schleier innerhalb oder außerhalb des Eingangs hing und ob die Trennwand im Heiligen oder im Allerheiligsten gestanden hatte. b Daher gab es (nach Maimonides)keine Wand zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten, sondern der Raum von einer Elle, der im früheren Tempel dafür vorgesehen war, blieb unbesetzt, und ein Schleier hing an der Seite des Heiligen, der andere an der des Allerheiligsten. Nach einem Bericht aus der Zeit des Tempels gab es insgesamt dreizehn Schleier, die in verschiedenen Teilen des Tempels verwendet wurden – zwei neue wurden jedes Jahr angefertigt. d Die Schleier vor dem Allerheiligsten waren 40 Ellen (60 Fuß) lang und 20 (30 Fuß) breit, handtellergroß und in 72 Quadraten gearbeitet, die miteinander verbunden waren; und diese Schleier waren so schwer, dass es in der übertriebenen Sprache der damaligen Zeit 300 Priester brauchte, um sie zu handhaben. Wenn der Schleier überhaupt so war, wie er im Talmud beschrieben wird, konnte er nicht durch ein bloßes Erdbeben oder das Herabfallen des Türsturzes zerrissen werden, obwohl seine Zusammensetzung aus aneinander befestigten Quadraten erklären könnte, wie der Riss wie im Evangelium beschrieben sein könnte.

                    In der Tat scheint alles darauf hinzudeuten, dass, obwohl das Erdbeben die physische Grundlage bilden mag, der Riss des Tempelschleiers – mit Ehrfurcht sei es gesagt – tatsächlich durch die Hand Gottes verursacht wurde. Nach unseren Berechnungen könnte es gerade die Zeit gewesen sein, in der die amtierende Priesterschaft beim Abendopfer das Heiligtum betrat, entweder um den Weihrauch zu verbrennen oder um dort einen anderen heiligen Dienst zu verrichten. Vor ihnen zu sehen, nicht wie der greise Zacharias am Anfang dieser Geschichte den Engel Gabriel, sondern den Schleier des Heiligtums, der von oben bis unten zerrissen war – darüber hinaus hätten sie kaum sehen können – und in zwei Teilen von seinen Befestigungen oben und an der Seite herabhing, war in der Tat ein schreckliches Vorzeichen, das bald allgemein bekannt wurde und in der einen oder anderen Form in der Überlieferung erhalten geblieben sein muss. Und alle müssen verstanden haben, dass es bedeutete, dass Gottes eigene Hand den Schleier zerrissen und das Allerheiligste, in dem er so lange im geheimnisvollen Dunkel gewohnt hatte, das nur einmal im Jahr durch den Schein des Räuchergefäßes desjenigen erhellt wurde, der für die Sünden des Volkes Sühne leistete, für immer verlassen und aufgerissen hatte.

                    An anderen Zeichen mangelte es nicht. Bei dem Erdbeben wurden die Felsen zerrissen und ihre Gräber geöffnet. Dies, als Christus in den Hades hinabstieg. Und als er am dritten Tag aufstieg, war er bei den siegreichen Heiligen, die diese offenen Gräber verlassen hatten. Vielen in der Heiligen Stadt erschienen an jenem denkwürdigen ersten Tag und in der darauf folgenden Woche die Leiber vieler dieser Heiligen, die in der süßen Hoffnung auf das, was nun Wirklichkeit geworden war, eingeschlafen waren.

                    Aber auf diejenigen, die unter dem Kreuz und in seiner Nähe standen, machte all das, was sie sahen, den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck. Unter ihnen ist besonders der Zenturio zu erwähnen, unter dessen Befehl die Soldaten standen. Er muss in jenen traurigen Zeiten der Kreuzigung viele Szenen des Grauens erlebt haben, aber keine wie diese. Nur eine Schlussfolgerung konnte sich ihm aufdrängen. Es war diejenige, die, wie wir nicht bezweifeln können, seinen Eindruck auf sein Herz und sein Gewissen gemacht hatte. Jesus war nicht das, was die Juden, seine wütenden Feinde, ihn beschrieben hatten. Er war das, was er zu sein behauptete, was sein Leiden am Kreuz und sein Tod ihm bescheinigten: „gerecht“ und daher „der Sohn Gottes“. Von da aus war es nur noch ein Schritt bis zur persönlichen Zugehörigkeit zu ihm, und wie bereits angedeutet, verdanken wir ihm möglicherweise einige der Details, die nur der heilige Lukas bewahrt hat.

                    Der kurze Frühlingstag ging auf den „Abend des Sabbats“ zu. Im Allgemeinen ordnete das Gesetz an, dass der Leichnam eines Verbrechers nicht über Nacht unbestattet bleiben durfte. Unter normalen Umständen hätten sich die Juden vielleicht nicht so vertrauensvoll an Pilatus gewandt, dass sie ihn tatsächlich gebeten hätten3 , die Leiden der Gekreuzigten zu verkürzen, denn die Strafe der Kreuzigung dauerte oft nicht nur Stunden, sondern Tage, bevor der Tod eintrat. Aber hier gab es einen besonderen Anlass. Der bevorstehende Sabbat war ein „hoher Tag“ – es war sowohl ein Sabbat als auch der zweite Ostertag, der in jeder Hinsicht als ebenso heilig angesehen wurde wie der erste – ja sogar noch heiliger, denn an diesem Tag wurde dem Herrn das so genannte Schaubrot geopfert. Und was die Juden Pilatus nun vorschlugen, war zwar eine Verkürzung, aber keineswegs eine Milderung der Strafe. Manchmal wurde der Strafe der Kreuzigung das Brechen der Knochen (crurifragium, σκελοκοπία) mit einer Keule oder einem Hammer hinzugefügt. Dies brachte zwar nicht den Tod, aber auf das Brechen der Knochen folgte immer ein Gnadenstoß durch Schwert, Lanze oder Hieb (die perforatio oder percussio sub alas), der dem Leben sofort ein Ende setzte. Das „Brechen der Knochen“ war also eine Art Strafverschärfung, als Ausgleich für die Verkürzung der Strafe durch den abschließenden Schlag.

                    Es wäre ungerecht, anzunehmen, dass die Juden in ihrem Bestreben, den Buchstaben des Gesetzes bezüglich der Bestattung am Vorabend dieses hohen Sabbats zu erfüllen, die Leiden Jesu zu verstärken suchten. Der Text gibt keinen Hinweis darauf; und sie hätten nicht verlangen können, dass der letzte Schlag ohne das „Brechen der Gebeine“, das ihm immer vorausging, ausgeführt wird. Die Ironie dieser peinlich genauen Einhaltung des Gesetzes über das Begräbnis und den hohen Sabbat durch diejenigen, die ihren Messias am ersten Pessachtag verraten und gekreuzigt hatten, ist groß genug und, fügen wir hinzu, schrecklich, ohne dass sie fiktive Elemente einbringen. Der heilige Johannes, der vielleicht unmittelbar nach dem Tod Christi das Kreuz verließ, berichtet allein von diesem Umstand. Vielleicht erfuhr er, als er mit Josef von Arimathäa, mit Nikodemus oder den beiden Marias Maßnahmen für die Bestattung Christi absprach, von der jüdischen Deputation bei Pilatus, folgte ihr zum Prätorium und beobachtete dann, wie sich das Ganze auf Golgatha vollzog. Er berichtet, wie Pilatus der jüdischen Forderung nachkam und Anweisungen für das Crurifragium und die Erlaubnis für die nachträgliche Beseitigung der Leichen gab, die man sonst hätte hängen lassen können, bis die Verwesung oder Raubvögel sie vernichtet hätten. Johannes erzählt uns aber auch etwas, das er offensichtlich für ein so großes Wunder hält, dass er sich dafür besonders verbürgt, indem er seine eigene Wahrhaftigkeit als Augenzeuge versichert und darauf einen Appell an den Glauben der Adressaten seines Evangeliums gründet. Es ist nämlich so, dass bestimmte „Dinge geschahen [nicht wie in unserer A.V., „geschahen“], damit die Schrift erfüllt würde“, oder, anders ausgedrückt, durch die die Schrift erfüllt wurde. Dies waren zwei Dinge, zu denen noch ein drittes, nicht weniger bemerkenswertes Phänomen hinzukommt. Denn erstens, als die Soldaten im Krurifragium den beiden Übeltätern die Knochen gebrochen hatten und dann zum Kreuz Jesu kamen, fanden sie, dass er schon tot war, und so war „ein Knochen von ihm“ „nicht gebrochen“. Wäre es anders gewesen, so wäre sowohl die Schrift über das Osterlamm die über den gerechten, leidenden Knecht Jehovas b gebrochen worden. In Christus allein sind diese beiden Vorstellungen vom Osterlamm und vom gerechten, leidenden Knecht Jehovas zu einer Einheit verbunden und in ihrer höchsten Bedeutung erfüllt. Und als es durch ein merkwürdiges Zusammentreffen von Umständen „geschah“, dass wider Erwarten „ein Bein von ihm“ nicht zerbrochen wurde, diente diese äußere Tatsache als Fingerzeig auf die Vorhersagen, die sich in ihm erfüllten.

                    Nicht weniger bemerkenswert ist die zweite Tatsache. Wenn am Kreuz Christi diese beiden Grundgedanken der prophetischen Beschreibung des Messiaswerkes dargelegt worden waren: die Erfüllung des Osteropfers, das als Bundesopfer allen Opfern zugrunde lag, und die Erfüllung des Ideals des gerechten Gottesknechtes, der in einer gottesfeindlichen Welt leidet und dennoch sein Reich verkündet und verwirklicht, blieb noch eine dritte Wahrheit zu zeigen. Sie bezog sich nicht auf den Charakter, sondern auf die Wirkungen des Werkes Christi – seine Aufnahme in der Gegenwart und in der Zukunft. Dies war in den Prophezeiungen Sacharjas angedeutet worden,die voraussagten, dass Gott am Tag der endgültigen Befreiung und nationalen Bekehrung Israels den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen würde, und dass, wenn „sie auf den blicken werden, den sie durchbohrt haben“, ihnen der Geist wahrer Reue zuteil werden würde, sowohl national als auch individuell. Die Anwendung auf Christus ist umso auffälliger, als selbst der Talmud die Prophezeiung auf den Messias bezieht. Und da diese beiden Dinge wirklich auf Christus zutrafen, sowohl in seiner Verwerfung als auch in seiner zukünftigen Wiederkunft,so wies das seltsame geschichtliche Ereignis bei seiner Kreuzigung einmal mehr darauf hin, dass es die Erfüllung der biblischen Prophezeiung war. Denn obwohl die Soldaten, als sie Jesus für tot hielten, nicht eines seiner Gebeine zerbrachen, durchbohrte doch einer von ihnen, um sich seines Todes zu vergewissern, mit einer Lanze „seine Seite“ mit einer Wunde, die so tief war, dass Thomas danach seine Hand in seine Seite hätte stoßen können.

                    Und mit diesen beiden, die die Heilige Schrift erfüllen, war noch ein drittes Phänomen verbunden, das für beide symbolisch ist. Als der Soldat die Seite des toten Christus durchbohrte, „floss alsbald Blut und Wasser heraus“. Einige haben angenommen,dass es dafür eine physische Ursache gab – dass Christus buchstäblich an einem gebrochenen Herzen gestorben war und dass, als die Lanze zuerst die mit Blut gefüllte Lunge und dann den mit seröser Flüssigkeit gefüllten Herzbeutel durchbohrte,2 dieser doppelte Strom aus der Wunde floss. In solchen Fällen würde die Lehre lauten, dass die Vorwürfe buchstäblich sein Herz gebrochen haben. a Wir können aber kaum glauben, dass Johannes dies hätte vermitteln wollen, ohne es klar darzulegen – und damit bei seinen Lesern die Kenntnis eines obskuren und, wie man hinzufügen muss, wissenschaftlich zweifelhaften Phänomens vorausgesetzt hätte. Daher glauben wir eher, dass für Johannes, wie für die meisten von uns, die Bedeutung der Tatsache darin lag, dass aus dem Leib eines Toten Blut und Wasser geflossen waren – dass die Verwesung nicht an ihm haftete. Dann wäre da die symbolische Bedeutung, die das Wasser (aus dem Herzbeutel) und das Blut (aus dem Herzen) vermitteln – eine höchst zutreffende Symbolik, wenn die Verwesung keine Macht und keinen Einfluss auf Ihn hatte – wenn Er im Tod nicht tot war, wenn Er den Tod und die Verwesung besiegte und in dieser Hinsicht auch das prophetische Ideal erfüllte, die Verwesung nicht zu sehen. Auf diese symbolische Bedeutung des Fließens von Wasser und Blut aus seiner durchbohrten Seite, auf die der Evangelist in seinem Brief eingeht,c und auf ihren ewigen Ausdruck in der Symbolik der beiden Sakramente, können wir den nachdenklichen Christen nur hinweisen. Denn die beiden Sakramente bedeuten, dass Christus gekommen ist; dass über Ihn, der für uns gekreuzigt wurde und uns mit seinem zerbrochenen Herzen bis zum Tod geliebt hat, Tod und Verderben keine Macht haben; und dass Er für uns lebt mit der verzeihenden und reinigenden Kraft seines dargebrachten Opfers.

                    Doch eine weitere Szene bleibt zu erwähnen. Ob vor oder, was wahrscheinlicher ist, nach der jüdischen Deputation an den römischen Statthalter, kam ein anderes, seltsames Gesuch zu Pilatus. Sie stammte von einem anscheinend gut bekannten Mann, der nicht nur reich und angesehen war,sondern dessen vornehme Haltung4 seiner gesellschaftlichen Stellung entsprach und der als gerechter und guter Mann bekannt war. Joseph von Arimathæa war ein Sanhedrist,aber er hatte weder dem Rat noch der Tat seiner Kollegen zugestimmt. Es muss allgemein bekannt gewesen sein, dass er zu denen gehörte, „die auf das Reich Gottes warteten“. Aber er war über das hinausgegangen, was dieser Ausdruck impliziert. Er war ein Jünger Jesu, wenn auch heimlich, aus Furcht vor den Juden:a. In seltsamem Gegensatz zu dieser „Furcht“ berichtet Markus, dass er „es wagte „“zu Pilatus zu gehen und den Leib Jesu zu fordern“. So wurden seine Ängste unter den unwahrscheinlichsten und ungünstigsten Umständen in Kühnheit umgewandelt, und er, den die Furcht vor den Juden davon abgehalten hatte, sich zu Lebzeiten Jesu offen zu seiner Nachfolge zu bekennen, bekannte sich nicht nur zu dem gekreuzigten Christus, sondern unternahm im Zusammenhang damit den kühnsten und entschiedensten Schritt vor Juden und Heiden. So bringt die Prüfung den Glauben hervor, und der Wind, der die schwache Flamme löscht, die außen herumspielt, facht das Feuer an, das tief im Innern brennt, auch wenn es eine Zeit lang nicht gesehen wird. Joseph von Arimathæa, nun nicht mehr ein heimlicher Schüler, sondern kühn im Bekenntnis seiner ehrfürchtigen Liebe, wollte dem toten Körper seines Meisters alle Verehrung erweisen. Und das göttlich geordnete Zusammentreffen der Umstände half nicht nur seinem frommen Vorhaben, sondern verlieh allem eine tiefe symbolische Bedeutung. Es war Freitagnachmittag, und der Sabbat rückte näher. Man durfte also keine Zeit verlieren, wenn man dem heiligen Leib die gebührende Ehre erweisen wollte. Pilatus übergab ihn Josef von Arimathäa. Das lag in seiner Macht, und es war eine Gunst, die nicht selten unter ähnlichen Umständen gewährt wurde. Aber zwei Dinge müssen den römischen Statthalter stark beeindruckt und seine früheren Gedanken über Jesus vertieft haben: erstens, dass der Tod am Kreuz so schnell eingetreten war, ein Umstand, zu dem er den Zenturio persönlich befragte,und dann das kühne Auftreten und die Bitte eines Mannes wie Josef von Arimathäa. Oder drückte der Zenturio dem Statthalter auch ein solches Gefühl aus, wie es unter dem Kreuz in den Worten zum Ausdruck gekommen war: ‚Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn‘?

                    Die Nähe des heiligen Sabbats und die daraus resultierende Notwendigkeit der Eile mögen den Vorschlag Josephs nahegelegt oder bestimmt haben, den Leichnam Jesu in sein eigenes, in Felsen gehauenes neues zu legen, in das noch niemand gelegt worden war. Die symbolische Bedeutung dieses Vorgangs ist umso deutlicher, als die Symbolik nicht beabsichtigt war. Diese in Felsen gehauenen Gräber und die Art und Weise, wie die Toten in sie gelegt wurden, sind im Zusammenhang mit der Beerdigung des Lazarus sehr ausführlich beschrieben worden. Wir können uns also ganz und gar den heiligen Gedanken hingeben, die uns umgeben. Das Kreuz wurde herabgelassen und auf den Boden gelegt, die grausamen Nägel herausgezogen und die Stricke gelöst. Josef und seine Begleiter „wickelten“ den heiligen Leib „in ein reines Leinentuch“ und trugen ihn rasch zu dem in den Fels gehauenen Grab im nahen Garten. Ein solches Felsengrab oder eine Höhle (Meartha) hatte Nischen (Kuchin), in die die Toten gelegt wurden. Es sei daran erinnert, dass sich am Eingang des „Grabes“ – und innerhalb des „Felsens“ – ein „Hof“ befand, der neun Fuß im Quadrat groß war und in dem normalerweise die Bahre niedergelegt wurde und in dem sich die Träger versammelten, um die letzten Handlungen für die Toten vorzunehmen. Wir nehmen an, dass Joseph den heiligen Leichnam dorthin trug und dass sich dann die letzte Szene abspielte. Denn nun war ein anderer gekommen, der Joseph in Geist, Geschichte und Stellung verwandt war. Dasselbe geistige Gesetz, das Joseph zum offenen Bekenntnis gebracht hatte, zwang auch diesen anderen Sanhedristen, Nikodemus, zu seinem Bekenntnis. Wir erinnern uns, wie er zuerst aus Furcht vor Entdeckung bei Nacht zu Jesus gekommen war, und mit welch angehaltenem Atem er bei seinen Kollegen nicht so sehr für die Sache Christi, sondern in seinem Namen für die des Gesetzes und der Gerechtigkeit plädiert hatte. Jetzt kam er und brachte „ein Bündel“ Myrrhe und Aloe, die wohlriechende Mischung, die den Juden für Salbungs- und Beerdigungszwecke wohlbekannt war.

                    Die eilige Einbalsamierung – wenn man sie als solche bezeichnen kann – fand im „Vorhof“ des Grabes statt. Keiner der früheren Jünger Christi scheint an der Beerdigung teilgenommen zu haben. Johannes mag sich zurückgezogen haben, um der Jungfrau Maria die Nachricht zu überbringen und sie zu trösten; auch die anderen, die „in der Ferne standen und zusahen“, scheinen gegangen zu sein. Nur einige wenige Gläubigedarunter vor allem Maria Magdalena und die andere Maria, die Mutter des Joses, standen am Grab und sahen von weitem zu, wo und wie der Leib Jesu hingelegt wurde. Es hätte wohl kaum den jüdischen Sitten entsprochen, wenn sich diese Frauen enger unter die beiden Sanhedristen und ihre Begleiter gemischt hätten. Von dort, wo sie standen, konnten sie nur einen schwachen Blick auf das Geschehen im Hof haben, und das mag erklären, wie sie bei ihrer Rückkehr „Spezereien und Salben “ für die umfassendere Ehrung vorbereiteten, die sie dem Toten nach dem Sabbat zu erweisen hofften. Denn es ist von größter Bedeutung, sich daran zu erinnern, dass alles, was getan wurde, in Eile geschah. Es scheint, als ob das „reine Leinentuch“, in das der Leib eingewickelt worden war, nun in „Tücher“ oder Bahnen zerrissen wurde, in die der Leib nun Glied für Glied „gebunden “ wurde, zweifellos zwischen Schichten von Myrrhe und Aloe, wobei das Haupt in eine Serviette gehüllt wurde. Und so legten sie ihn in die Nische des in den Fels gehauenen neuen Grabes. Und als sie hinausgingen, wälzten sie, wie es Brauch war, einen „großen Stein“ – den Golel -, um den Eingang des Grabes zu verschließen,und lehnten wahrscheinlich, wie es Brauch war, einen kleineren Stein, den sogenannten Dopheq, dagegen. Dort, wo der eine Stein gegen den anderen gelegt wurde, brachten die jüdischen Behörden am nächsten Tag, obwohl Sabbat war, das Siegel an, so dass die geringste Störung sichtbar werden konnte.

                    Wahrscheinlich bereitete sich um diese Zeit eine lärmende Menge darauf vor, den Delegierten des Sanhedrins zur Zeremonie des Abschneidens des Pessach-Gabers zu folgen. Das Gesetz lautete: „Er soll eine Garbe [wörtlich: das Omer] mit den Erstlingsfrüchten eurer Ernte zum Priester bringen, und er soll das Omer vor Jehova schwenken, damit es für euch angenommen wird.“ Dieses Pessach-Grab wurde am Abend vor der Opferung in aller Öffentlichkeit geerntet, und um dieser Zeremonie beizuwohnen, hatte sich die Menge um die Ältesten versammelt. Schon am 14. Nisan hatte man die Stelle markiert, an der die erste Garbe geerntet werden sollte, indem man die Gerste, die nach dem Brauch im geschützten Aschetal jenseits des Kidron geschnitten werden sollte, noch im Stehen zu Bündeln zusammengebunden hatte. Als die Zeit für das Schneiden der Garben gekommen war – das heißt am Abend des 15. Nisan, auch wenn es ein Sabbat war, gerade als die Sonne unterging -, machten sich drei Männer, jeder mit einer Sichel und einem Korb, an die Arbeit. Um die Besonderheit der Zeremonie deutlich zu machen, stellten sie den Umstehenden zunächst jeweils dreimal die folgenden Fragen: „Ist die Sonne schon untergegangen?“ „Mit dieser Sichel?“ „In diesen Korb?“ „An diesem Sabbat? (oder am ersten Passah-Tag)“-und zuletzt: „Soll ich ernten?“ Nachdem sie jedes Mal mit „Ja“ geantwortet hatten, schnitten sie die Gerste bis zu einer Menge von einem Epha ab, das sind etwa drei Picks und drei Pints nach unserem englischen Maß. Es ist hier nicht der Ort, die Zeremonie weiter zu verfolgen, wie das Getreide gedroschen, gemahlen und ein Omer des Mehls mit Öl und Weihrauch vermischt am zweiten Ostertag (oder 16. Nisan) im Tempel vor den Herrn gewunken wurde. Doch als sich diese feierliche Prozession unter lautem Getöse in Bewegung setzte, wandte sich eine kleine Schar von Trauernden davon ab, ihren toten Meister an seine Ruhestätte zu legen. Der Kontrast ist ebenso traurig wie eindrucksvoll. Und doch wurde das erste Omer des neuen Ostermehls nicht im Tempel oder vom Priester, sondern in der Stille dieses Gartengrabes vor dem Herrn geschwungen.‘

                    Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten

                    14.Nisan – Gethsemane

                    (Mt 26,30-56; Mk 14,26-52; Lk 22,31-53; Joh 18,1-11).

                    WIR wenden uns noch einmal den Schritten Christi zu, die nun zu den letzten gehören, die er auf Erden gegangen ist. Der „Hymnus“, mit dem das Ostermahl endete, war gesungen worden. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den zweiten Teil des Hallelder einige Zeit nach dem dritten Kelch gesungen wurde, oder um den Psalm 136, der im vorliegenden Ritual am Ende des Gottesdienstes steht. Die letzten Reden waren gehalten, das letzte Gebet, das Weihegebet, war gesprochen worden, und Jesus bereitete sich darauf vor, die Stadt zu verlassen und zum Ölberg zu gehen. Die Straßen konnten kaum als menschenleer bezeichnet werden, denn aus vielen Häusern leuchtete die Festtagslampe, und viele Menschen mögen sich noch versammelt haben; und überall herrschte emsiges Treiben bei den Vorbereitungen für den Gang zum Tempel, dessen Tore um Mitternacht geöffnet wurden.

                    Wir gehen durch das Tor nördlich des Tempels und steigen in einen einsamen Teil des schwarzen Kidrontals hinab, das zu dieser Jahreszeit zu einem winterlichen Wildbach angeschwollen ist. Wir durchqueren es und biegen etwas nach links ab, wo der Weg zum Ölberg führt. Wenige Schritte weiter (jenseits und auf der anderen Seite der heutigen Grabeskirche der Jungfrau Maria) biegen wir von der Straße nach rechts ab und erreichen das, was die Überlieferung seit frühester Zeit – und wahrscheinlich zu Recht – als „Gethsemane“ bezeichnet hat, die „Ölpresse“. Es handelte sich um ein kleines, eingezäuntes Grundstück (χωρίον), einen „Garten“ im östlichen Sinne, wo sich wahrscheinlich inmitten einer Vielzahl von Obstbäumen und blühenden Sträuchern eine bescheidene, ruhige Sommerfrische befand, die mit der „Ölpresse“ verbunden war oder sich in ihrer Nähe befand. Das heutige Gethsemane ist nur etwa siebzig Schritte im Quadrat groß, und obwohl es sich bei den alten knorrigen Olivenbäumen nicht um solche aus der Zeit Jesu handeln kann (falls es solche gab), da alle Bäume in jenem Tal – auch die, die ihren Schatten über Jesus ausstreckten – während der römischen Belagerung gefällt wurden, mögen sie aus den alten Wurzeln oder den alten Kernen hervorgegangen sein. Aber wir denken gerne an diesen „Garten“ als den Ort, an dem Jesus „oft“ – nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern vielleicht auch bei früheren Besuchen in Jerusalem – mit seinen Jüngern zusammenkam. Es war ein Ort der Ruhe, des Rückzugs, des Gebets, vielleicht auch des Schlafs, und ein Treffpunkt, an dem nicht nur die Zwölf, sondern auch andere den Meister zu treffen pflegten. Und als solcher war er Judas bekannt, und er führte die bewaffnete Gruppe dorthin, als sie das Obergemach nicht mehr von Jesus und seinen Jüngern bewohnt fanden. Ob es beabsichtigt war, dass er dort einen Teil der Nacht verbringen sollte, bevor er zum Tempel zurückkehrte, und wer dieser umschlossene Garten war – das andere Eden, in dem der zweite Adam, der Herr vom Himmel, die Strafe des ersten trug und durch seinen Gehorsam das Leben gewann -, wissen wir nicht und sollten es vielleicht auch nicht erfragen. Vielleicht gehörte es dem Vater von Markus. Aber wenn dem nicht so ist, hatte Jesus sogar in Jerusalem liebevolle Jünger, und wir freuen uns, dass er nicht nur ein Haus in Bethanien und ein Obergemach in der Stadt hatte, sondern auch einen stillen Rückzugsort und einen Treffpunkt für die Seinen im Schoß des Ölbergs, im Schatten des Gartens der Ölpresse“.

                    Das schwache Licht des Mondes fiel voll auf sie, als sie den Kidron überquerten. Wir stellen uns vor, dass der Herr sich hier, nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, zum ersten Mal an die Jünger im Allgemeinen wandte. Wir können es kaum als Vorhersage oder Warnung bezeichnen. Wenn wir an jenes letzte Abendmahl denken, daran, wie Christus zum letzten Mal durch die Straßen der Stadt in jenen Garten ging, und vor allem an das, was jetzt unmittelbar vor ihm lag, erscheint uns das, was er sagte, ganz natürlich, ja sogar notwendig. Für sie – ja, für sie alle – würde er in dieser Nacht sogar ein Stolperstein sein. Und so war es von alters her vorhergesagt worden, dass der Hirte geschlagen und die Schafe zerstreut werden würden. Erfüllte diese Prophezeiung Seines Leidens in ihren großen Umrissen die Gedanken des Erlösers, als Er zu Seinem Leidensweg aufbrach? Jedenfalls waren solche alttestamentlichen Gedanken bei Ihm gegenwärtig, als Er, nicht unbewusst oder aus Notwendigkeit, sondern als Lamm Gottes zur Schlachtbank ging. Eine besondere Bedeutung kommt auch Seiner Vorhersage zu, dass Er nach Seiner Auferstehung vor ihnen nach Galiläa gehen würde. Denn mit ihrer Zerstreuung nach Seinem Tod, so scheint es uns, wurde der apostolische Kreis oder das apostolische Kollegium als solches für eine Zeit lang aufgelöst. Sie kamen zwar weiterhin als einzelne Jünger zusammen, aber das apostolische Band war vorübergehend aufgelöst. Das erklärt vieles: die Abwesenheit des Thomas am ersten und seine besondere Stellung am zweiten Sonntag; die Unsicherheit der Jünger, wie sie sich in den Worten derer auf dem Weg nach Emmaus zeigt; sowie die scheinbar seltsamen Bewegungen der Apostel – alles, was sich völlig ändert, wenn das apostolische Band wiederhergestellt ist. Ebenso bemerken wir, dass nur sieben von ihnen am See von Galiläa beisammen gewesen zu sein scheinen,a und dass erst danach die Elf mit ihm auf dem Berg zusammentrafen, auf den er sie verwiesen hatte. Hier wurde der apostolische Kreis oder das apostolische Kollegium erneut gebildet und der apostolische Auftrag erneuert,c und von dort kehrten sie, erneut von Galiläa ausgesandt, nach Jerusalem zurück, um die endgültigen Ereignisse seiner Himmelfahrt und des Kommens des Heiligen Geistes zu erwarten.

                    Aber in jener Nacht verstanden sie nichts von alledem. Während alle unter dem Schlag ihrer vorausgesagten Zerstreuung schwankten, scheint sich der Herr einzeln an Petrus gewandt zu haben. Was er sagte und wie er es formulierte, erfordert gleichermaßen unsere Aufmerksamkeit: „Simon, Simon“ seinen alten Namen, um den alten Mann in ihm zu bezeichnen – „der Satan hat dich ergriffen, um dich zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht wanke.‘ Die Worte gewähren uns Einblick in zwei Geheimnisse des Himmels. Diese Nacht scheint „die Macht der Finsternis“ gewesen zu sein, in der Christus, von Gott verlassen, dem ganzen Ansturm der Hölle allein begegnen und in seiner eigenen Kraft als Stellvertreter und Repräsentant des Menschen siegen musste. Es ist ein großes Geheimnis, aber es ist in sich stimmig. Wir sehen hier keine Analogie zu der Erlaubnis, die dem Satan in den ersten Kapiteln des Buches Hiob erteilt wird, und nehmen immer an, dass es sich um eine reale und nicht um eine allegorische Geschichte handelt. Aber in jener Nacht wurde dem heftigen Wind der Hölle gestattet, ungebrochen über den Heiland zu fegen und sogar seine Wut auf diejenigen zu richten, die in seinem Schutzraum zurückblieben. Satan hatte es „erbeten und erlangt“ – jedoch nicht, um zu zerstören oder zu stürzen, sondern „um zu sieben“, so wie Weizen1 in einem Sieb geschüttelt wird, um das, was kein Korn ist, auszusieben. Bis hierher und nicht weiter hatte der Satan sie erlangt. In jener Nacht der Agonie und der Einsamkeit Christi, im äußersten Konflikt zwischen Christus und Satan, scheint dies fast ein notwendiges Element zu sein.

                    Dies war also das erste Geheimnis, das vergangen war. Und diese Aussonderung würde Petrus mehr betreffen als die anderen. Judas, der Jesus überhaupt nicht liebte, war bereits gefallen; Petrus, der ihn liebte – vielleicht nicht am intensivsten, aber, wenn der Ausdruck erlaubt ist, am umfassendsten – stand neben Judas in Gefahr. In Wahrheit entsprangen die Quellen ihres inneren Lebens in unmittelbarer Nähe, obwohl sie in ihrer Ausrichtung weit auseinander lagen. Es gab bei dem einen wie bei dem anderen dieselbe Bereitschaft, sich zu begeistern, dasselbe Verlangen, die öffentliche Meinung auf seiner Seite zu haben, dieselbe Scheu vor dem Kreuz, dieselbe moralische Unfähigkeit oder Unwilligkeit, allein zu stehen. Petrus hatte reichlich Mut, um aufzubrechen, aber nicht, um aufzufallen. In seinen ursprünglichen Elementen (nicht in seiner Entwicklung) betrachtet, war der Charakter des Petrus unter den Jüngern dem des Judas am ähnlichsten. Wenn dies zeigt, was aus Judas hätte werden können, erklärt es auch, wie Petrus in jener Nacht am meisten in Gefahr war; und in der Tat wurden die Schalen von ihm bei seiner Verleugnung des Christus aus dem Sieb geworfen. Aber was Petrus von Judas unterschied, war sein „Glaube“ des Geistes, der Seele und des Herzens – des Geistes, als er das geistige Element in Christus erkannte; der Seele, als er ihn als den Christus bekannte; und des Herzens, als er ihn bitten konnte, die Tiefen seines inneren Wesens auszuloten, um dort echte, persönliche Liebe zu Jesus zu finden.

                    Das zweite Geheimnis jener Nacht war das Bittgebet Christi für Petrus. Wir wagen nicht zu sagen, wie der Hohepriester – und wir wissen nicht, wann und wo es vorgetragen wurde. Aber der Ausdruck ist sehr stark, wie bei jemandem, der eine Sache braucht. Und das, wofür er so flehte, war, dass der Glaube des Petrus nicht versagen sollte. Dies, und nicht, dass ihm etwas Neues gegeben oder die Prüfung von Petrus genommen werde. Wir sehen, wie die göttliche Gnade die menschliche Freiheit voraussetzt und nicht aufhebt. Und das erklärt auch, warum Jesus so für Petrus und nicht für Judas gebetet hat. In ersterem Fall war der Glaube vorhanden, der nur gegen das Versagen gestärkt werden musste – eine Möglichkeit, die ohne die Fürsprache Christi möglich war. Diesen seinen Worten fügte Christus den bedeutsamen Auftrag hinzu: „Und du, wenn du dich umgedreht hast, bestätige deine Brüder. „Und wie sehr er dies tat, sowohl im apostolischen Kreis als auch in der Kirche, hat die Geschichte überliefert. So hat Satan, auch wenn es in der normalen sittlichen Ordnung der Dinge dazu kommen mag, nicht einmal die Macht, ohne Gottes Erlaubnis zu „sieben“; und so wacht der Vater in einer solch schrecklichen Sichtung über die, für die Christus gebetet hat. Dies ist die erste Erfüllung des Gebetes Christi, dass der Vater sie „vor dem Bösen bewahre“, nicht durch irgendeinen Vorgang von außen, sondern durch die Bewahrung ihres Glaubens. Und so lernen wir auch zu unserem großen und unaussprechlichen Trost, dass nicht jede Sünde – auch nicht die bewusste und vorsätzliche – das Scheitern unseres Glaubens bedeutet, so sehr sie auch dazu führt, und noch weniger unsere endgültige Verwerfung. Im Gegenteil, so wie der Fall Simons die Folge der natürlichen Elemente in ihm war, so würde er dazu führen, dass sie ans Licht gebracht und beseitigt werden, wodurch er umso besser geeignet wäre, seine Brüder zu bestätigen. Und so würde Licht aus der Finsternis kommen. Von unserem menschlichen Standpunkt aus könnten wir eine solche Belehrung als notwendig bezeichnen; in der göttlichen Ordnung ist sie nur die göttliche Folge des menschlichen Vorgängers.

                    Wir können die vehemente Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit verstehen, mit der Petrus gegen die Möglichkeit eines Versagens seinerseits protestierte. Meistens halten wir die Sünden für am weitesten entfernt, die uns am nächsten sind; sonst wäre ein Großteil der Kraft ihrer Versuchung weg, und die Versuchung würde sich in einen Konflikt verwandeln. Die Dinge, mit denen wir am wenigsten rechnen, sind unsere Stürze. In aller Ehrlichkeit – und nicht notwendigerweise mit Selbstüberschätzung gegenüber den anderen – sagte er, dass, selbst wenn alle in Christus beleidigt werden sollten, er es niemals sein könne, sondern bereit sei, mit ihm ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Und als Christus, um der Warnung Nachdruck zu verleihen, voraussagte, dass Petrus, bevor das wiederholte Krähen des Hahns1 den Morgen einläutete,dreimal verleugnen würde, dass er ihn kannte, beharrte Petrus nicht nur auf seinen Beteuerungen, sondern wurde von den anderen darin unterstützt. Dennoch – und das scheint der Sinn und Zweck der folgenden Worte Christi zu sein – waren sie sich nicht bewusst, wie schrecklich sich die früheren Verhältnisse verändert hatten und was sie infolgedessen zu erleiden haben würden. a Hatte es ihnen an irgendetwas gefehlt, als er sie früher ohne Vorrat und Schutz ausgesandt hatte? Nein! Aber jetzt würde ihnen keine helfende Hand gereicht werden; nein, was sie anscheinend sogar mehr als alles andere brauchen würden, wäre „ein Schwert“ – Verteidigung gegen Angriffe, denn am Ende seiner Geschichte wurde er mit Übertretern gerechnet. Der Meister ein gekreuzigter Übeltäter – was konnten seine Anhänger erwarten? Aber wieder einmal verstanden sie Ihn nur auf eine grob realistische Weise. Diese Galiläer hatten sich nach dem Brauch ihrer Landsleute b mit Kurzschwertern ausgerüstet, die sie unter ihrem Obergewand verbargen. Es war nur natürlich, dass Männer ihrer Gesinnung, die die Lehre ihres Meisters so unvollkommen verstanden, eine Vorsichtsmaßnahme ergriffen, die ihnen bei ihrer Ankunft in Jerusalem nur als notwendig erschien. Mindestens zwei von ihnen – unter ihnen Petrus – hatten nun Schwerter bei sich. Aber es war nicht die Zeit, um mit ihnen zu diskutieren, und unser Herr schob es einfach beiseite. Die Ereignisse würden sie nur zu bald lehren.

                    Sie hatten nun den Eingang zu Gethsemane erreicht. Es kann sein, dass er durch das Gebäude mit der „Ölpresse“ führte und dass die acht Apostel, die nicht näher an den „brennenden, aber nicht verzehrten Busch“ herankommen sollten, dort zurückgelassen wurden. Oder sie wurden zum Eingang des Gartens geführt und dort zurückgelassen, während er mit einer Handbewegung nach vorne wies und „dorthin“ ging, um zu beten. Nach Lukas fügte er die abschließende Warnung hinzu, dass sie beten sollten, damit sie nicht in Versuchung gerieten.

                    Acht hat er dort zurückgelassen. Die anderen drei, Petrus, Jakobus und Johannes – Gefährten vor Seiner Herrlichkeit, sowohl bei der Auferweckung der Tochter des Jairusb als auch auf dem Berg der Verklärungc – nahm Er weiter mit Sich. Wenn seine menschliche Seele in diesem letzten Wettstreit nach der Anwesenheit derer verlangte, die ihm am nächsten standen und ihn am meisten liebten, oder wenn er sie mit seiner Taufe taufen und aus seinem Kelch trinken lassen wollte, dann waren diese drei unter allen anderen die Auserwählten. Und nun brach plötzlich die kalte Flut über ihn herein. In diesen wenigen Augenblicken war er von der Ruhe des sicheren Sieges in die Angst des Kampfes übergegangen. Mit jedem Schritt vorwärts wurde Er immer „betrübter“, „voller Kummer“, „entsetzt“ und „trostlos“.Er erzählte ihnen von dem tiefen Kummer Seiner Seele (ψυχή) bis zum Tod und bat sie, dort zu bleiben und mit Ihm zu wachen. Er selbst ging voran, um mit Gebet in den Kampf einzutreten. Nur die erste Haltung des ringenden Heilandes sahen sie, nur die ersten Worte in jener Stunde des Todeskampfes hörten sie. Denn wie in unserem gegenwärtigen Zustand nicht selten in den tiefsten Erregungen der Seele, und wie es auf dem Berg der Verklärung der Fall gewesen war, schlich sich ein unwiderstehlicher Schlaf über ihre Gestalt. Was aber, so dürfen wir ehrfurchtsvoll fragen, war die Ursache dieses Kummers bis zum Tod des Herrn Jesus Christus? Nicht Furcht, weder vor körperlichen noch vor geistigen Leiden, sondern der Tod. Die Natur des Menschen, der von Gott unsterblich geschaffen wurde, schreckt (nach dem Gesetz seiner Natur) vor der Auflösung des Bandes zurück, das Körper und Seele verbindet. Dennoch ist der Tod für den gefallenen Menschen keineswegs der volle Tod, denn er wird mit dem Geschmack des Todes in seiner Seele geboren. Nicht so Christus. Es war der ungefallene Mensch, der starb; er, der keine Erfahrung damit hatte, kostete den Tod, und zwar nicht für sich selbst, sondern für jeden Menschen, und leerte den Kelch bis zum bitteren Ende. Es war der Christus, der den Tod durch den Menschen und für den Menschen erlitt; der menschgewordene Gott, der Gottmensch, der sich stellvertretend der tiefsten Erniedrigung unterwarf und die äußerste Strafe bezahlte: Den Tod – den ganzen Tod. Niemand wie Er konnte wissen, was der Tod ist (nicht das Sterben, das die Menschen fürchten, aber Christus fürchtete es nicht); niemand konnte seine Bitterkeit so schmecken wie Er. Sein Gang in den Tod war sein letzter Kampf mit Satan für den Menschen und in seinem Namen. Indem Er sich ihm unterwarf, nahm Er dem Tod die Macht; Er entwaffnete den Tod, indem Er seinen Schaft in Seinem eigenen Herzen vergrub. Und darüber hinaus liegt das tiefe, unsagbare Geheimnis, dass Christus die Strafe für unsere Sünde trug, dass er unseren Tod trug, dass er die Strafe für das gebrochene Gesetz trug, die angehäufte Schuld der Menschheit und den heiligen Zorn des gerechten Richters über sie. Und angesichts dieses Geheimnisses scheint sich die Schwere des Schlafes über unser Begreifen zu stürzen.

                    Allein, wie in seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Bösen in der Versuchung in der Wüste, muss der Heiland in den letzten Kampf eintreten. Mit welchen Seelenqualen Er hier und da die Sünden der Welt auf sich nahm und sie dadurch sühnte, können wir aus dem Bericht darüber erfahren, was geschah, als Er „mit starkem Geschrei und Tränen zu dem, der ihn vom Tode erretten konnte“, „Gebete und Bitten darbrachte“.Und – wir ahnen es schon – mit diesen Ergebnissen: dass er erhört wurde, dass er durch die Dinge, die er erlitt, Gehorsam lernte, dass er vollkommen wurde und dass er für uns der Urheber des ewigen Heils und vor Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks wurde. Allein – und selbst dieses „von ihnen getrennt sein“ (ἀπεσπάσθη),implizierte Leid. c Und nun, „auf den Knien“, auf dem Boden liegend, auf dem Gesicht liegend, begann Seine Agonie. Seine Ansprache selbst zeugt davon. Es ist das einzige Mal, das in den Evangelien überliefert ist, dass er Gott mit dem Personalpronomen „Mein Vater“ anredet.d Das Ziel des Gebetes war, dass, „wenn es möglich wäre, die Stunde von ihm vorüberginge“.e Der Gegenstand des Gebetes (wie es in den drei Evangelien überliefert ist) war, dass der Kelch selbst vorüberginge, jedoch immer mit der Einschränkung, dass nicht sein Wille, sondern der des Vaters geschehen möge. Die Bitte Christi war also nicht nur dem Willen des Vaters unterworfen, sondern auch seinem eigenen Willen, damit der Wille des Vaters geschehe. Wir haben hier das tiefste Geheimnis unseres Glaubens vor Augen: die zwei Naturen in einer Person. Beide Naturen sprachen hier, und das „wenn es möglich ist“ des Matthäus und des Markus ist bei Lukas „wenn du willst“. Auf jeden Fall ist die „Möglichkeit“ nicht physischer Natur – bei Gott sind alle Dinge möglich -, sondern moralischer Natur: die der inneren Eignung. Gab es also irgendeinen Gedanken oder eine Vorstellung von „einer Möglichkeit“, dass das Werk Christi ohne diese Stunde und diesen Kelch vollendet werden könnte? Oder markierte sie nur die äußerste Grenze seiner Ausdauer und Unterwerfung? Wir wagen keine Antwort; wir folgen nur ehrfürchtig dem, was aufgezeichnet ist.

                    In diesem extremen Seelenschmerz, fast bis zum Tod, erschien der Engel (wie bei der Versuchung in der Wüste), um seinen Körper und seine Seele zu „stärken“ und zu unterstützen. Und so ging der Kampf weiter, mit zunehmendem Ernst des Gebets, die ganze schreckliche Stunde hindurch. Denn die Erscheinung des Engels muss ihm zu verstehen gegeben haben, dass der Kelch nicht vergehen konnte. 2 Und am Ende jener Stunde – wie wir aus der Tatsache schließen, dass die Jünger noch die Spuren des blutigen Schweißes3 auf seiner Stirn gesehen haben müssen – fiel sein Schweiß, mit Blut vermischt,in großen Tropfen auf den Boden. Und als der Heiland mit diesem Zeichen Seiner Qualen auf Seiner Stirn5 zu den dreien zurückkehrte, fand Er sie in tiefem Schlaf. Während Er im Gebet lag, lagen sie im Schlaf; und doch, wo die Seelenqual nicht zu dem einen führt, bewirkt sie oft das andere. Seine Worte, die sich in erster Linie an „Simon“ richteten, weckten sie zwar auf, reichten aber nicht aus, um ihnen den liebevollen Vorwurf, die Ermahnung „Wachet und betet“ im Hinblick auf die kommende Versuchung oder die höchst angebrachte Warnung vor der Schwäche des Fleisches voll zu Herzen gehen zu lassen, selbst wenn der Geist willig, bereit und glühend war (πρόθυμον).

                    Der Konflikt war praktisch, wenn auch nicht endgültig, entschieden, als der Heiland zu den drei schlafenden Jüngern zurückkehrte. Er kehrte nun zurück, um ihn zu vollenden, obwohl sowohl die Haltung, in der Er betete (nicht mehr auf dem Boden liegend), als auch der Wortlaut Seines Gebetes – nur leicht verändert – darauf hinweisen, wie nahe es dem vollkommenen Sieg war. Und noch einmal, als Er zu ihnen zurückkehrte, fand Er, dass der Schlaf ihre Augen beschwert hatte und sie kaum wussten, was sie Ihm antworten sollten. Ein drittes Mal verließ er sie, um wie zuvor zu beten. Und nun kehrte er siegreich zurück. Nach drei Angriffen hatte der Versucher ihn in der Wüste verlassen; nach dem dreifachen Kampf im Garten war er besiegt. Christus kehrte triumphierend zurück. Er befahl seinen Jüngern nicht länger zu wachen. Sie konnten, ja sie sollten schlafen und sich ausruhen, bevor die schrecklichen Ereignisse seines Verrats bevorstanden – denn die Stunde war gekommen, in der der Menschensohn in die Hände von Sündern verraten werden sollte.

                    Diese kurze Zeit der bald durch den Ruf Jesu unterbrochen, sich zu erheben und dorthin zu gehen, wo die anderen acht zurückgelassen worden waren, an den Eingang des Gartens, um der Gruppe entgegenzugehen, die unter der Führung des Verräters gekommen war. Und während er sprach, zeigten die schweren Schritte vieler Männer und der Schein von Laternen und Fackeln die Annäherung von Judas und seiner Gruppe an. In den vergangenen Stunden war alles vorbereitet worden. Als er vereinbarungsgemäß im Palast des Hohenpriesters erschien, oder wahrscheinlicher im Palast des Hannas, der die Geschäfte zu leiten schien, verständigten sich die jüdischen Führer zunächst mit der römischen Garnison. Nach ihrem eigenen Eingeständnis besaßen sie (seit vierzig Jahren vor der Zerstörung Jerusalems) nicht mehr die Befugnis, Todesurteile auszusprechen. a Es ist schwer zu verstehen, wie man sich angesichts dieser Tatsache (die im Neuen Testament so vollständig bestätigt wird) vorstellen konnte, dass der Sanhedrin in einer regulären Sitzung förmlich versucht hatte, über Jesus auszusprechen, wozu er zugegebenermaßen nicht befugt war. Auch beriefen sie sich bei der Anrufung des Pilatus nicht darauf, dass sie ein Todesurteil ausgesprochen hätten, sondern nur darauf, dass sie ein Gesetz hätten, nach dem Jesus sterben sollte. Anders war es bei zivilen Angelegenheiten oder sogar bei geringfügigen Vergehen. Da der Sanhedrin nicht über die Macht des Schwertes verfügte, hatte er natürlich weder Soldaten noch eine regelmäßig bewaffnete Schar zur Verfügung. Die „Tempelwache“ unter ihren Offizieren diente lediglich zu polizeilichen Zwecken und war in der Tat weder regelmäßig bewaffnet noch ausgebildet. c Die Römer hätten auch keine regelmäßig bewaffneten jüdischen Streitkräfte in Jerusalem geduldet.

                    Jetzt können wir den Verlauf der Ereignisse verstehen. In der Festung Antonia, die sich in der Nähe des Tempels befand und mit diesem durch zwei Treppen verbunden war, befand sich die römische Garnison. Aber während des Festes wurde der Tempel selbst von einer bewaffneten Kohorte bewacht, die aus 400 bis 600 Männern bestand,um jeden Aufruhr unter den zahlreichen Pilgern zu verhindern oder zu unterdrücken. a An den Hauptmann dieser „Kohorte“ wandten sich die Hohenpriester und die Führer der Pharisäer zunächst mit der Bitte um eine bewaffnete Wache, um die Verhaftung Jesu zu veranlassen, mit der Begründung, dass dies zu einem Aufruhr im Volk führen könnte. Dies, ohne notwendigerweise die Anklage zu nennen, die gegen ihn erhoben werden sollte, was zu weiteren Komplikationen hätte führen können. Obwohl Johannes von „der Schar“ mit einem Wort (σπεῖρα) spricht, das immer eine „Kohorte“ bezeichnet – in diesem Fall „die Kohorte“, wobei der bestimmte Artikel sie als die des Tempels kennzeichnet -, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass die gesamte Kohorte geschickt wurde. Dennoch hätte ihr Befehlshaber wohl kaum eine starke Truppe aus dem Tempel hinausgeschickt, was zu einem Aufruhr führen könnte, ohne sich vorher an den Prokurator Pontius Pilatus zu wenden. Und wenn es noch eines weiteren Beweises bedürfte, dann wäre es die Tatsache, dass die Gruppe nicht von einem Zenturio, sondern von einem Chiliarchen angeführt wurde,der, da es in der römischen Armee keine Zwischenstufen gab, einen der sechs Tribunen darstellen musste, die jeder Legion zugeordnet waren. Dies erklärt nicht nur die offensichtliche Bereitschaft von Pilatus, am nächsten Morgen vor Gericht zu sitzen, sondern auch, wie Pilatus‘ Frau zu den Träumen über Jesus gekommen sein könnte, die sie so sehr beunruhigten.

                    Dieses römische Kommando, das mit Schwertern und Stöcken bewaffnet war – mit letzteren wies Pilatus bei anderen Gelegenheiten seine Soldaten an, diejenigen anzugreifen, die einen Tumult verursachten -, wurde von Dienern aus dem Palast des Hohenpriesters und anderen jüdischen Beamten begleitet, um die Verhaftung Jesu zu leiten. Sie trugen Fackeln und Lampen, die auf der Spitze von Stangen angebracht waren, um jede Möglichkeit der Verschleierung zu verhindern.

                    Ob es sich dabei um die von Matthäus und Markus erwähnte „große Schar“ handelte oder ob die Gruppe durch Freiwillige oder Schaulustige vergrößert wurde, ist nicht von Bedeutung. Nachdem Judas diese Schar empfangen hatte, setzte er seinen Auftrag fort. Wir glauben, dass ihr erster Weg zu dem Haus führte, in dem das Abendmahl gefeiert worden war. Nachdem er erfahren hatte, dass Jesus es mit seinen Jüngern vielleicht zwei oder drei Stunden zuvor verlassen hatte, führte Judas die Gruppe zu dem Ort, den er so gut kannte: nach Gethsemane. Ein Signal, an dem man Jesus erkennen konnte, schien bei einer so großen Schar fast notwendig zu sein, und wo man Flucht oder Widerstand befürchten konnte. Es war – schrecklich zu sagen – kein anderes als ein Kuss. Sobald er ihn so gekennzeichnet hatte, sollten die Wachen ihn ergreifen und sicher wegführen.

                    Wenn wir die Berichte in den vier Evangelien zusammenfassen, können wir uns die Abfolge der Ereignisse vorstellen. Als die Gruppe den Garten erreichte, ging Judas etwas voraus und erreichte Jesus gerade, als dieser die drei aufweckte und sich anschickte, seinen Entführern entgegenzugehen. Er grüßte Ihn mit „Ave, Rabbi“, so dass die anderen es hörten, und küsste Ihn nicht nur, sondern bedeckte Ihn mit Küssen, küsste Ihn wiederholt, laut und überschwänglich (κατεφίλησεν). Der Heiland ließ sich die Demütigung gefallen, hielt nicht inne, sondern sagte nur im Vorbeigehen: „Freund, das, wofür du hier bist „und dann, vielleicht als Antwort auf seine fragende Geste: „Judas, mit einem Kuss befreist du den Menschensohn?c Wenn Judas, indem er der Schar vorausging und den Meister mit einem Kuss grüßte, auch jetzt noch den Heuchler spielen und Jesus und die Jünger täuschen wollte, als wäre er nicht mit den Bewaffneten gekommen, vielleicht nur, um ihn vor ihrer Annäherung zu warnen, dann muss das, was der Herr sagte, sein Innerstes erreicht haben. Es war in der Tat der erste tödliche Stich in der Seele des Judas. Das einzige Mal, dass wir ihn wieder sehen, bis er das tut, was in seiner Selbstzerstörung endet, ist, wie er gleichsam schützend bei den Bewaffneten steht.

                    An diesem Punkt, so vermuten wir, kommen die Hinweise aus St. John’s Gospele ins Spiel. Jesus verließ den Verräter und ignorierte das Signal, das er ihnen gegeben hatte, ging auf die Gruppe zu und fragte sie: ‚Wen sucht ihr?‘ Auf das kurze, vielleicht etwas verächtliche „Jesus, den Nazarener“, antwortete er mit unendlicher Ruhe und Majestät: „Ich bin es. Die unmittelbare Wirkung dieser Worte war, um nicht zu sagen magisch, sondern göttlich. Sie hatten sich zweifellos auf etwas anderes eingestellt: entweder auf einen Kompromiss, auf Angst oder auf Widerstand. Aber die Erscheinung und Majestät dieses ruhigen Christus – der Himmel in seinem Blick und der Friede auf seinen Lippen – hatte eine zu überwältigende Wirkung auf diese ungelehrte heidnische Soldatenschar, die vielleicht in ihren Herzen geheime Zweifel an dem Werk hegte, das sie vor sich hatten. Die vordersten von ihnen wichen zurück, und sie fielen zu Boden. Aber die Stunde Christi war gekommen. Und noch einmal stellte er ihnen dieselbe Frage wie zuvor, und als er ihre frühere Antwort wiederholte, sagte er: „Ich habe euch gesagt, dass ich es bin; wenn ihr mich nun sucht, so lasst diese ihren Weg gehen“ – der Evangelist sieht in dieser wachsamen Sorge für die Seinen die erste Erfüllung der Worte, die der Herr zuvor über ihre sichere Bewahrung gesprochen hatte, nicht nur im Sinne ihrer äußeren Bewahrung, sondern in dem, dass sie vor solchen Versuchungen bewahrt werden, die sie in ihrem damaligen Zustand nicht hätten ertragen können.

                    Die Worte Christi über diejenigen, die bei ihm waren, scheinen die Anführer der Wache wieder zu vollem Bewusstsein gebracht zu haben – vielleicht weckten sie in ihnen die Furcht vor einem möglichen Aufstand durch die Aufwiegelung seiner Anhänger. Dementsprechend fügen wir hier den Hinweis des heiligen und des heiligen Markusb ein, dass sie Jesus die Hände auflegten und ihn ergriffen. Da zog Petrus,der sah, was kommen würde, das Schwert, das er bei sich trug, stellte Jesus die Frage, ohne seine Antwort abzuwarten, und schlug Malchus,1 dem Diener2 des Hohenpriesters – vielleicht dem jüdischen Anführer der Gruppe – das Ohr ab. Aber Jesus hielt sofort alle solche Gewalttätigkeit zurück und tadelte alle Selbstverteidigung durch äußere Gewalt (das Ergreifen des Schwertes, das nicht empfangen worden war) – ja, damit allen bloß äußerlichen Eifer, indem er darauf hinwies, wie leicht er gegen diese „Kohorte“ Engelslegionen hätte befehlen können. 3 Er hatte im Ringkampf von seinem Vater den Kelch empfangen, um zu trinken,4 und die Schrift muss auf diese Weise erfüllt werden. Und als er das sagte, berührte er das Ohr des Malchus und heilte ihn.

                    Aber dieser schwache Anschein von Widerstand genügte den Wächtern. Ihre Anführer fesselten nun Jesus. Auf diese letzte, höchst unverdiente und unaufgeforderte Demütigung antwortete Jesus, indem er sie fragte, warum sie gegen ihn wie gegen einen Räuber vorgegangen seien – einen dieser wilden, mörderischen Sicarii. War er nicht die ganze Woche über täglich im Tempel gewesen und hatte gelehrt? Warum haben sie ihn dann nicht ergriffen? Aber diese ihre „Stunde“, die gekommen war, und „die Macht der Finsternis“ – auch das war in der Schrift vorausgesagt worden!

                    Und da sich die Reihen der Bewaffneten nun um den gefesselten Christus schlossen, wagte es keiner, bei ihm zu bleiben, um nicht auch gefesselt zu werden, weil er sich der Autorität widersetzte. So ließen sie alle von ihm ab und flohen. Aber es gab einen, der sich der Flucht nicht anschloss, sondern als interessierter Beobachter blieb. Als die Soldaten gekommen waren, um Jesus im Obergemach seines Hauses zu suchen, hatte Markus, der aus dem Schlaf erwacht war, eilig das lose Leinenkleid oder -tuch1 um sich geworfen, das neben seinem Bett lag, und war der bewaffneten Gruppe gefolgt, um zu sehen, was daraus werden würde. Er hielt sich nun in der Nachhut auf und folgte ihnen, als sie Jesus abführten, ohne sich vorzustellen, dass sie versuchen würden, ihn zu ergreifen, da er weder bei den Jüngern noch im Garten gewesen war. Aber sie,vielleicht die jüdischen Diener des Hohenpriesters, hatten ihn bemerkt. Sie versuchten, ihn zu ergreifen, und als er sich aus ihrem Griff löste, ließ er sein Obergewand in ihren Händen zurück und floh.

                    So endete die erste Szene des schrecklichen Dramas jener Nacht.

                    Aldred Edersheim, – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
                    https://www.freebibleimages.org/photos/

                    (Johannes 18:12-14; Matthäus 26:57, 58; Markus 14:53, 54; Lukas 22:54, 55; Johannes 18:24, 15-18; Johannes 18:19-23; Matthäus 26:69, 70; Markus 14:66-68; Lukas 22:56, 57; Johannes 18:17, 18; Matthäus 26:71, 72; Markus 14:69, 70; Lukas 22:58; Johannes 18:25; Matthäus 26:59-68 26:71, 72; Markus 14:69, 70; Lukas 22:58; Johannes 18:25; Matthäus 26:59-68; Markus 14:55-65; Lukas 22:67-71, 63-65; Matthäus 26:73-75; Markus 14:70-72; Lukas 22:59-62; Johannes 18:26, 27).

                    ES war kein langer Weg, den sie den gefesselten Christus führten. Wahrscheinlich durch dasselbe Tor, durch das er mit seinen Jüngern nach dem Ostermahl gegangen war, bis zu der Stelle, an der am Hang zwischen der Oberstadt und dem Tyropoi der bekannte Palast des Hannas stand. In den Straßen Jerusalems gab es zu dieser späten Stunde keine untätigen Spaziergänger, und das Getrampel der römischen Wache muss zu oft gehört worden sein, um die Schläfer aufzuschrecken oder zu der Frage zu führen, warum dieser Schein von Lampen und Fackeln, und wer der Gefangene war, der in dieser heiligen Nacht sowohl von römischen Soldaten als auch von Dienern des Hohenpriesters bewacht wurde.

                    Wäre nicht jeder Vorfall in jener Nacht von so großem Interesse, könnten wir die Frage, warum sie Jesus in das Haus des Hannas brachten, als fast müßig abtun, da er zu dieser Zeit nicht der eigentliche Hohepriester war. Dieses Amt fiel nun Kaiphas, seinem Schwiegersohn, zu, der, wie der Evangelist uns bezeichnenderweise erinnert,als erster in klaren Worten ausgesprochen hatte, was ihm als politische Notwendigkeit für den gerichtlichen Mord an Christus erschien. b Er hatte keine religiösen Motive oder Eifer für Gott vorgetäuscht; er hatte es zynisch so ausgedrückt, um die Skrupel jener alten Sanhedristen zu überwinden und ihre Ängste zu schüren. Was nützt es, über Formen des Gesetzes oder über diesen Menschen zu diskutieren? Es muss auf jeden Fall geschehen; selbst die Freunde Jesu im Konzil, wie auch die peniblen Beobachter des Gesetzes, müssen seinen Tod als das kleinere von zwei Übeln betrachten. Er sprach als der kühne, skrupellose, entschlossene Mann, der er war; Sadduzäer eher im Herzen als aus Überzeugung; ein würdiger Schwiegersohn des Hannas.

                    Keine Figur ist in der zeitgenössischen jüdischen Geschichte besser bekannt als die des Hannas; keine Person galt als glücklicher oder erfolgreicher, aber auch als allgemeiner verachtet als der verstorbene Hohepriester. Er hatte das Pontifikat nur sechs oder sieben Jahre inne, aber es wurde von nicht weniger als fünf seiner Söhne, von seinem Schwiegersohn Kaiphas und von einem Enkel ausgefüllt. Und in jenen Tagen war es, zumindest für einen, der so veranlagt war wie Hannas, viel besser, Hoherpriester gewesen zu sein, als Hoherpriester zu sein. Er genoss die ganze Würde des Amtes und auch seinen ganzen Einfluss, denn er konnte diejenigen, die ihm am nächsten standen, in dieses Amt befördern. Und während diese in der Öffentlichkeit agierten, leitete er in Wirklichkeit die Angelegenheiten, ohne die Verantwortung oder die Beschränkungen, die das Amt mit sich brachte. Seinen Einfluss bei den Römern verdankte er den religiösen Ansichten, zu denen er sich bekannte, seiner offenen Parteinahme für die Ausländer und seinem enormen Reichtum. Der Sadduzäer Annas war ein äußerst sicherer Kirchenmann, weder von besonderen Überzeugungen noch von jüdischem Fanatismus geplagt, ein angenehmer und nützlicher Mann, der seine Freunde im Prätorium mit großen Geldsummen versorgen konnte. Wir haben gesehen, welch immense Einkünfte die Familie des Hannas aus den Tempelständen gezogen haben muss und wie ruchlos und unbeliebt dieser Handel war. Die Namen dieser dreisten, zügellosen, skrupellosen, entarteten Söhne Aarons wurden mit geflüsterten Flüchen ausgesprochen. Ohne auf die Einmischung Christi in diesen Tempelhandel einzugehen, die, wenn seine Autorität sich durchgesetzt hätte, natürlich fatal gewesen wäre, können wir verstehen, wie entgegengesetzt ein Messias, und zwar ein Messias wie Jesus, in jeder Hinsicht zu Hannas gewesen sein muss. Er war ebenso entschlossen wie sein Schwiegersohn auf seinen Tod aus, wenn auch mit der für ihn charakteristischen Gerissenheit und Kühle und nicht in der voreiligen, blasierten Art des Kaiphas. Wahrscheinlich war es der Wunsch, dass Hannas die Leitung der Angelegenheit übernehmen sollte, oder die aktive, führende Rolle, die Hannas in der Angelegenheit einnahm; vielleicht auch aus noch prosaischeren und praktischeren Gründen, wie etwa, dass der Palast des Hannas näher am Ort der Gefangennahme Jesu lag und dass es wünschenswert war, die römischen Soldaten so schnell wie möglich zu entlassen – dass Christus zuerst zu Hannas gebracht wurde und nicht zum eigentlichen Hohenpriester.

                    Auf jeden Fall war die Anordnung höchst kongruent, sowohl was den Charakter des Hannas als auch die offizielle Position des Kaiphas betrifft. Die römischen Soldaten hatten offensichtlich den Befehl, Jesus zu dem verstorbenen Hohenpriester zu bringen. Das geht daraus hervor, dass sie sich direkt zu ihm begaben, und daraus, dass sie offenbar sofort nach der Übergabe ihres Gefangenen in ihr Quartier zurückkehrten. Und wir können dies nicht auf irgendeine offizielle Position des Hannas im Sanhedrin zurückführen, erstens, weil der Text andeutet, dass es nicht auf diese Ursache zurückzuführen war, und zweitens, weil, wie sich später zeigen wird, das Verfahren gegen Christus nicht das der gewöhnlichen und regelmäßigen Sitzungen des Sanhedrins war.

                    Es wird nicht berichtet, was vor Hannas geschah. Selbst die Tatsache, dass Christus zuerst zu ihm gebracht wurde, wird nur im vierten Evangelium erwähnt. Da die Jünger ihn alle verlassen hatten und geflohen waren, können wir verstehen, dass sie nicht wussten, was wirklich geschah, bis sie sich wieder versammelt hatten, zumindest so weit, dass Petrus und „ein anderer Jünger“, offensichtlich Johannes, „ihm in den Palast des Hohenpriesters“ folgten, d. h. in den Palast des Kaiphas, nicht des Hannas. Denn da nach den drei synoptischen Evangelien der Palast des Hohenpriesters Kaiphas der Schauplatz der Verleugnung des Petrus war, muss sich der Bericht darüber im vierten Evangelium auf denselben Ort und nicht auf den Palast des Hannas beziehen; während die Vermutung, dass Hannas und Kaiphas dieselbe Wohnung bewohnten, nicht nur an sich sehr unwahrscheinlich ist, sondern auch mit der offensichtlichen Bedeutung des Hinweises b „Hannas aber sandte ihn gebunden zu Kaiphas, dem Hohenpriester“ unvereinbar scheint. Wenn aber die Verleugnung des Petrus, wie sie von Johannes berichtet wird, dieselbe ist, die von den Synoptikern beschrieben wird, und im Haus des Kaiphas stattfand, dann muss sich auch der Bericht über die Vernehmung durch den Hohenpriester,der auf die Mitteilung über Petrus folgt, auf die Vernehmung durch Kaiphas und nicht durch Hannas beziehen. 3 Wir wissen also absolut nichts darüber, was im Haus des Hannas geschah – wenn überhaupt etwas geschah -, außer dass Hannas Jesus gefesselt zu Kaiphas schickte.

                    Über die Geschehnisse im Palast des Kaiphas gibt es zwei Berichte. Der Bericht des heiligen Johannes scheint sich auf ein eher privates Gespräch zwischen dem Hohenpriester und Christus zu beziehen, bei dem offenbar nur einige persönliche Begleiter des Kaiphas anwesend waren, von denen der Apostel seine Informationen erhalten haben könnte. Der zweite Bericht ist der der Synoptiker und bezieht sich auf die Vernehmung Jesu bei Tagesanbruch durch die führenden Sanhedristen, die zu diesem Zweck eilig einberufen worden waren.

                    Es klingt fast wie eine Anmaßung, wenn man sagt, dass Jesus in seiner ersten Unterredung mit Kaiphas mit der Majestät des Gottessohnes auftrat, der alles kannte, was vor ihm lag, und es wie auf dem Weg zur Erfüllung seiner Mission durchschritt. Die Fragen des Kaiphas bezogen sich auf zwei Punkte: die Jünger Jesu und seine Lehre – ersteres, um die Anhänger Christi zu belasten, letzteres, um den Meister zu belasten. Auf die erste Anfrage war es nur natürlich, dass er sich nicht herabließ, eine Antwort zu geben. Die Antwort auf die zweite zeichnete sich durch jene „Offenheit“ aus, die er für alles, was er gesagt hatte, in Anspruch nahm. 2 Wenn es nicht nur eine unvoreingenommene, sondern sogar eine gerechte Untersuchung geben sollte, durfte Kaiphas nicht versuchen, Geständnisse zu erpressen, auf die er kein gesetzliches Recht hatte, und ihn auch nicht umgarnen, wenn die Absicht offensichtlich mörderisch war. Wenn er wirklich Informationen wollte, konnte es keine Schwierigkeiten geben, Zeugen zu finden, die seine Lehre bestätigten: Das ganze Judentum kannte sie. Seine Lehre war keine Geheimlehre („im Verborgenen habe ich nichts geredet“). Er sprach immer „in der Synagoge und im Tempel, wo sich alle Juden versammelten“.Wäre die Untersuchung gerecht, so sollte der Richter gerichtlich vorgehen und nicht ihn, sondern diejenigen befragen, die ihn gehört hatten.

                    Es muss zugegeben werden, dass die Antwort nicht wie die eines Angeklagten klingt, der sich entweder entschuldigen will oder sich sogar sehr darum bemüht, sich zu verteidigen. Und sie enthielt jenen Ton der Überlegenheit, den selbst die verletzte menschliche Unschuld vor einem ruchlosen Richter anzunehmen berechtigt wäre, der ein Opfer zu umgarnen und nicht die Wahrheit herauszufinden suchte. Das war es, was einen dieser unterwürfigen Diener dazu ermutigte, dem Herrn mit der Brutalität eines Ostens unter solchen Umständen diesen schrecklichen Schlag zu versetzen. Hoffen wir, dass es ein Heide und nicht ein Jude war, der seine Hand so erhob. Wir sind fast dankbar, dass der Text es im Zweifel lässt, ob es mit der Handfläche oder mit der geringeren Demütigung – mit einem Stab – geschah. Die Menschheit selbst scheint unter diesem Schlag zu taumeln und zu wanken. Gemäß seiner menschlichen Unterwerfung antwortete der göttliche Leidende, ohne zu murren oder zu klagen oder seine göttliche Macht zu behaupten, nur in einem solchen Ton geduldiger Zurechtweisung, dass der Mann von seinem Unrecht überzeugt oder zumindest sprachlos geworden sein muss. Könnte es sein, dass diese Worte und der Blick Christi ihm zu Herzen gegangen waren, und dass der nun seltsam verstummte Übeltäter zum bekennenden Erzähler dieser Szene für den Apostel Johannes wurde?

                    Dieser Apostel war jedenfalls kein Fremder im Palast des Kaiphas. Wir haben bereits gesehen, dass sich zumindest zwei von ihnen, Petrus und Johannes, nach der ersten Panik über die plötzliche Gefangennahme Christi und ihre eigene Flucht schnell wieder erholt zu haben scheinen. Kombiniert man die Notizen der Synoptikera mit den diesbezüglich ausführlicheren Angaben des Vierten so gewinnt man den Eindruck, dass Petrus, soweit er seinem Wort treu geblieben ist, als erster seine Flucht beendet hat und „von weitem“ gefolgt ist. Wenn er den Palast des Hannas rechtzeitig erreicht hat, ist er sicher nicht hineingegangen, sondern hat wahrscheinlich während des kurzen Zeitraums, der der Übergabe Jesu an Kaiphas vorausging, draußen gewartet. Inzwischen war Johannes zu ihm gestoßen, und die beiden folgten der melancholischen Prozession, die Jesus zum Hohenpriester begleitete. Johannes scheint zusammen mit der Wache „den Hof“ betreten zu haben,c während Petrus draußen blieb, bis sein Mitapostel, der im Haus des Hohenpriesters offenbar gut bekannt war, mit der Magd gesprochen hatte, die die Tür hütete – die männlichen Bediensteten waren wahrscheinlich alle im Hof versammelt1 – und ihm so Einlass gewährte.

                    Wenn man bedenkt, dass der Palast des Hohenpriesters am Hang des Hügels gebaut war und dass es einen Außenhof gab, von dem aus eine Tür in den Innenhof führte, kann man sich die Szene in gewisser Weise vorstellen. Wie bereits erwähnt, war Petrus bis zu dieser inneren Tür gefolgt, während Johannes mit der Wache hineingegangen war. Als er seinen Mitjünger vermisste, der vor dieser inneren Tür zurückblieb, „ging Johannes hinaus“ und verschaffte ihm Einlass, nachdem er der wartenden Magd wahrscheinlich gesagt hatte, dass es sich um einen Freund von ihm handelte. Während Johannes nun nach oben eilte, um im Palast und so nah wie möglich bei Christus zu sein, ging Petrus in die Mitte des Hofes, wo in der kühlen Frühlingsnacht ein Kohlenfeuer entzündet worden war. Der Schein der Kohle, um die gelegentlich eine blaue Flamme züngelte, warf einen eigentümlichen Glanz auf die bärtigen Gesichter der Männer, die sich darum drängten und von den Ereignissen jener Nacht erzählten, indem sie denen, die nicht dabei gewesen waren, mit östlicher Redseligkeit schilderten, was sich im Garten zugetragen hatte, und, wie es bei solchen Dienern und Beamten üblich ist, Meinungen und übertriebene Anschuldigungen über denjenigen austauschten, der mit so unerwarteter Leichtigkeit gefangen genommen worden war und nun der sichere Gefangene ihres Herrn war. Während das rote Licht glühte und flackerte, warf es die langen Schatten dieser Männer über den Innenhof, die Wände hinauf zur umlaufenden Galerie, dorthin, wo die Lampen und Lichter im Innern oder auf dem Weg durch die Gemächer und Gänge andere Gesichter zeigten: dorthin, wo der Gefangene in einem inneren Audienzsaal seinem Feind, Ankläger und Richter gegenüberstand.

                    Welch ein Kontrast zwischen der Tempelreinigung nur wenige Tage zuvor, als derselbe Jesus die Tische des Hohenpriesters umgeworfen hatte, und dem, was er nun als gefesselter Gefangener vor sich hatte, der jedem Knecht ausgeliefert war, der sich durch mutwillige Beleidigungen seine Gunst erkaufen wollte! Es war eine kühle Nacht, als Petrus „unten“ zu den erleuchteten Fenstern hinaufblickte. Dort, unter den Dienern im Hof, war er in jeder Hinsicht „draußen“. Er würde hören, was sie zu sagen hatten; außerdem war es nicht sicher, abseits zu stehen; man könnte ihn als einen derjenigen erkennen, die nur durch überstürzte Flucht der Gefangennahme im Garten entgangen waren. Und dann war ihm kalt – und nicht nur dem Körper, sondern auch seiner Seele war es kalt geworden. War es richtig, dass er überhaupt dorthin gekommen war? Die Kommentatoren haben dies als Vernachlässigung der Warnung Christi diskutiert. Als ob die Liebe eines Menschen, der so war und so fühlte wie Petrus, die Möglichkeit dessen, wovor er gewarnt worden war, für möglich gehalten hätte; und wenn er sie für möglich gehalten hätte, hätte er sich in den ersten Augenblicken der Rückkehr nach der panischen Flucht an die Warnung erinnert oder mit kühler Berechnung nach ihrem vollen Maß gehandelt! Sich in sein Haus zu flüchten und die Tür hinter sich zu schließen, um nicht leugnen zu können, dass er Christus kannte, wäre weder Petrus noch ein wahrer Jünger gewesen. Nein, es wäre selbst eine schlimmere und feigere Verleugnung gewesen als die, deren er sich tatsächlich schuldig gemacht hatte. Petrus folgte in der Ferne und dachte an nichts anderes als an seinen gefangenen Meister und daran, dass er das Ende sehen würde, was immer es auch sein mochte. Aber jetzt war es kühl, sehr kühl, an Leib und Seele, und Petrus erinnerte sich an alles; zwar nicht an die Warnung, aber an das, wovor er gewarnt worden war. Was konnte sein Geständnis Gutes bewirken? vielleicht viel mögliches Leid; und warum war er dort?

                    Petrus war sehr unruhig, und doch musste er sehr ruhig wirken. Er „setzte“ sich zu den Dienern,dann stand er mitten unter ihnen auf. Es war diese Unruhe der versuchten Gleichgültigkeit, die die Aufmerksamkeit der Magd erregte, die ihn zuerst eingelassen hatte. Als sie in dem unsicheren Licht die Züge des geheimnisvollen Fremden musterte, beschuldigte sie ihn kühn, wenn auch noch in fragendem Ton, einer der Jünger des Mannes zu sein, der dort oben vor dem Hohenpriester angeklagt war. Und im Fieberwahn seiner Seele, in den die Erkältung geraten war, leugnete Petrus vehement jede Kenntnis desjenigen, auf den sich die Frau bezog, ja sogar die Bedeutung dessen, was sie sagte. Er hatte zu viel gesagt, um nicht bald eine weitere Anklage auf sich zu ziehen. Wir brauchen nicht nachzufragen, welcher der leicht variierenden Berichte in den Evangelien die tatsächlichen Worte der Frau oder die tatsächliche Antwort des Petrus wiedergibt. Vielleicht weder das eine noch das andere; vielleicht hat sie all dies gesagt, und er hat sicherlich all das geantwortet, obwohl keiner von beiden seine Worte auf die kurzen Sätze beschränken würde, die von jedem der Evangelisten berichtet werden.

                    Was hatte er dort zu tun? Und warum sollte er sich selbst oder vielleicht Christus durch ein unnötiges Geständnis vor denen belasten, die weder das moralische noch das rechtliche Recht hatten, es zu verlangen? Das war alles, woran er sich jetzt erinnerte und dachte; nichts von einer Verleugnung Christi. Und während sie noch miteinander plauderten und vielleicht ein paar Worte wechselten, zog sich Petrus zurück. Wir können nicht beurteilen, wie viel Zeit verstrichen war, aber wir nehmen an, dass die Worte der Frau entweder keinen Eindruck auf die Umstehenden gemacht hatten oder dass die kühne Verleugnung des Petrus sie zufriedengestellt hatte. Bald darauf sehen wir Petrus, wie er den „Vorhof“ hinuntergeht, rundherum in den „äußeren Vorhof“ öffnet. Er dachte an nichts anderes mehr als daran, wie kühl es war und wie recht er gehabt hatte, sich nicht von der Frau einfangen zu lassen. Und so achtete er nicht darauf, während seine Schritte über die marmorgepflasterte Veranda klangen, dass genau in diesem Moment „ein Hahn krähte“. Aber es gab keinen Schlaf in dieser Nacht im Palast des Hohepriesters. Als er die Veranda hinunter in Richtung des äußeren Hofes ging, begegnete ihm zuerst eine Magd; dann, als er vom äußeren Hof zurückkehrte, begegnete er erneut seiner alten Anklägerin, der Türhüterin; und als er den inneren Hof durchquerte, um sich wieder unter die Gruppe um das Feuer zu mischen, wo er früher Sicherheit gefunden hatte, wurde er zuerst von einem Mann angesprochen, und dann wandten sich alle um das Feuer auf ihn – und jeder und alle hatten dasselbe zu sagen, dieselbe Anklage, dass er auch einer der Jünger Jesu von Nazareth sei. Aber Petrus war entschlossen; er war sich ganz sicher, dass es richtig war; und jedem einzelnen und allen zusammen gab er dieselbe Verleugnung, jetzt kürzer, denn er war gesammelt und entschlossen, aber nachdrücklicher – sogar mit einem Schwur. a Und wieder brachte er den Verdacht für eine Zeitlang zum Schweigen. Oder vielleicht war die Aufmerksamkeit jetzt anders gelenkt.

                    Denn schon hörte man eilige Schritte in den Vorhallen und Gängen, und die Magd, die in dieser Nacht das Tor des Hohepriesterpalastes öffnete, war auf ihrem Posten beschäftigt. Es waren die führenden Priester, Ältesten und die in aller Eile in den Palast des Hohenpriesters gerufen worden waren und gerade hinaufeilten, als sich die ersten schwachen Streifen grauen Lichts am Himmel zeigten. Das private Verhör durch Kaiphas platzieren wir (wie im Johannesevangelium) zwischen der ersten und zweiten Verleugnung des Petrus; die erste Ankunft der Sanhedristen unmittelbar nach seiner zweiten Verleugnung. Die private Untersuchung des Kaiphas hatte nichts ergeben, und sie war in der Tat nur vorläufig. Die führenden Sanhedristen müssen gewarnt worden sein, dass in dieser Nacht ein Versuch zur Ergreifung Jesu unternommen werden würde, und dass sie sich bereithalten sollten, wenn sie zum Hohenpriester gerufen würden. Das steht nicht nur in völliger Übereinstimmung mit allen vorhergehenden und nachfolgenden Umständen in der Erzählung, sondern nichts weniger als ein Vorgang von so höchster Bedeutung hätte die Anwesenheit dieser religiösen Führer zu einem solchen Zweck in dieser heiligen Passahnacht gerechtfertigt.

                    Aber wie auch immer man es sehen mag, so viel ist zumindest sicher, dass es keine formelle, regelmäßige Sitzung des Sanhedrins war. Wir lassen als apriorische Argumentation solche Überlegungen beiseite, dass protestierende Stimmen erhoben worden wären, nicht nur von den Freunden Jesu, sondern auch von anderen, die wir (bei all ihrem jüdischen Hass auf Christus) nur als unfähig zu einer solch groben Verletzung von Recht und Gesetz ansehen können. Aber die gesamte jüdische Ordnung und das Gesetz wären in fast jeder Hinsicht grob verletzt worden, wenn dies eine formelle Sitzung des Sanhedrins gewesen wäre. Wir wissen, welche Formen sie hatten, obwohl viele von ihnen (wie so vieles in den rabbinischen Berichten) eher das Ideal als die Wirklichkeit darstellen – was die Rabbiner sich vorstellten, wie es sein sollte, statt wie es war; oder was aus späteren Zeiten stammen mag. Nach rabbinischem Zeugnis gab es drei Gerichtshöfe. In Städten mit weniger als 120 (oder, nach einer Autorität, 2301) männlichen Einwohnern gab es nur das niedrigste Gericht, das aus drei Richtern bestand. 2 Ihre Zuständigkeit war begrenzt und erstreckte sich insbesondere nicht auf Kapitalfälle. Die Befugnisse des nächsthöheren Gerichts, das aus dreiundzwanzig Richtern4 bestand, waren ebenfalls begrenzt, auch wenn es für Kapitalstrafsachen zuständig war. Das höchste Gericht war das der einundsiebzig oder der Große Sanhedrin, der zunächst in einer der Tempelkammern, der so genannten Lishkath haGazith – oder Kammer der behauenen Steine – tagte und von dem wir schreiben, dass es in „den Ständen der Söhne des Hannas“ tagte.Die Richter all dieser Gerichte wurden gleichermaßen durch Ordination (Semicha), ursprünglich durch Handauflegung, eingesetzt. Die Ordination wurde von drei Personen vorgenommen, von denen mindestens einer selbst ordiniert gewesen sein muss und seine Ordination über Josua bis zu Mose zurückverfolgen kann. Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass es eine regelmäßige Abfolge von ordinierten Lehrern gab, nicht nur bis Esra, sondern darüber hinaus bis Josua und Mose. Die Mitglieder der dreiundzwanzig Gerichtshöfe wurden vom Großen Sanhedrin ernannt. b Die Mitglieder der drei Gerichtshöfe wurden ebenfalls vom Großen Sanhedrin ernannt, der besonders anerkannte und würdige Männer mit der Aufgabe betraute, die Städte Palästinas zu bereisen und in ihnen die für das Amt am besten geeigneten Männer zu ernennen und zu ordinieren. Die für das Amt genannten Qualifikationen erinnern an diejenigen, die der heilige Paulus als Voraussetzung für das christliche Ältestenamt nennt.

                    Einige Schlussfolgerungen scheinen hier von Bedeutung zu sein, da sie Licht auf die frühen apostolischen Vorkehrungen werfen – wenn man, wie wir, davon ausgeht, dass die äußere Form der Kirche in großem Maße von der Synagoge abgeleitet war. Erstens stellen wir fest, dass es eine regelmäßige Ordination gab, und zwar, zumindest anfangs, durch Handauflegung. Diese Ordination war in der Synagoge nicht erforderlich, um Ansprachen zu halten oder die Liturgie zu leiten, sondern für die autoritative Lehre und vor allem für gerichtliche Funktionen, denen in der christlichen Kirche die Schlüsselgewalt entsprach – die Verwaltung der Disziplin und der Sakramente als Aufnahme in die und Verbleib in der Gemeinschaft der Kirche. Außerdem konnte die Ordination nur von denjenigen erteilt werden, die selbst rechtmäßig ordiniert worden waren und die daher ihre Ordination durch die zuvor Ordinierten nach oben verfolgen konnten. Außerdem hatte jedes dieser „Presbyterkollegien“ einen Leiter oder Präsidenten. Schließlich wurden Männer mit höchster (apostolischer) Autorität in die verschiedenen Städte gesandt, „um in jeder Stadt Älteste zu ernennen „

                    Die Ernennung zum obersten Gericht, dem Großen Sanhedrin, erfolgte durch das Gericht selbst, entweder durch die Beförderung eines Mitglieds der untergeordneten Gerichte oder eines Mitglieds aus der vordersten der drei Reihen, in denen „die Schüler“ oder Studenten den Richtern gegenüber saßen. Letztere saßen in einem Halbkreis unter dem Vorsitz des Nasi („Fürst“) und dem stellvertretenden Vorsitz des Ab-beth-din („Vater des Gerichtshofs“). Mindestens dreiundzwanzig Mitglieder waren erforderlich, um beschlussfähig zu sein. Wir haben so genaue Einzelheiten über die gesamten Vorkehrungen und Abläufe dieses Gerichts, die unseren Eindruck vom hauptsächlich idealen Charakter einiger der rabbinischen Notizen sehr bestätigen. Dem Halbkreis der Richter gegenüber befanden sich zwei Stenographen, die die Reden für und gegen den Angeklagten aufschrieben. Jeder der Studenten wusste Bescheid und saß an seinem eigenen Platz. In Kapitalprozessen wurden die Argumente, die für den Angeklagten sprachen, und danach die, die ihn belasteten, festgehalten. Wenn jemand für den Angeklagten gesprochen hatte, durfte er nicht noch einmal gegen das Gremium sprechen. Studenten durften für und nicht gegen ihn sprechen. Der Angeklagte konnte noch am Tag der Verhandlung für „nicht schuldig“ erklärt werden; ein Schuldspruch konnte jedoch erst am Tag nach der Verhandlung verkündet werden. Es scheint jedoch zumindest zweifelhaft, ob im Falle der Schändung des göttlichen Namens (Chillul haShem) das Urteil nicht sofort vollstreckt wurde. Schließlich begann die Abstimmung mit dem Jüngsten, damit die Jüngeren nicht von den Älteren beeinflusst werden konnten; und eine bloße Mehrheit reichte für eine Verurteilung nicht aus.

                    Dies sind nur einige der in den rabbinischen Schriften niedergelegten Vorschriften. Es ist von größerer Bedeutung zu fragen, inwieweit sie unter der eisernen Herrschaft des Herodes und der römischen Prokuratoren umgesetzt wurden. Hier sind wir in hohem Maße auf Vermutungen angewiesen. Wir können uns gut vorstellen, dass weder Herodes noch die Prokuratoren den Sanhedrin abschaffen wollten, sondern ihnen die Rechtsprechung überließen, vor allem in allen Fragen, die in irgendeiner Weise mit rein religiösen Fragen zusammenhängen könnten. Ebenso ist zu verstehen, dass beide ihnen die Macht des Schwertes und die Entscheidung über alle Angelegenheiten von politischer oder höchster Bedeutung entziehen wollten. Herodes würde sich die endgültige Entscheidung in allen Fällen vorbehalten, wenn er es für angebracht hielt, sich einzumischen, ebenso wie die Prokuratoren, die insbesondere keinen Versuch der Gerichtsbarkeit über einen römischen Bürger toleriert hätten. Kurzum, dem Sanhedrin wurde die volle Gerichtsbarkeit in untergeordneten und religiösen Angelegenheiten zugestanden, mit dem größten Schein, aber mit dem geringsten Maß an wirklicher Herrschaft oder oberster Autorität. Da sowohl Herodes als auch die Prokuratoren den Hohepriester, der ihr eigenes Geschöpf war, als das eigentliche Oberhaupt und den Repräsentanten der Juden betrachteten, und da es ihre Politik war, die Macht der unabhängigen und fanatischen Rabbiner zu beschneiden, können wir verstehen, dass in großen Strafsachen oder bei wichtigen Untersuchungen immer der Hohepriester den Vorsitz führte – der Vorsitz des Nasi war rechtlichen und rituellen Fragen und Diskussionen vorbehalten. Und damit stimmen die Notizen sowohl im Neuen Testament als auch bei Josephus überein.

                    Selbst diese kurze Zusammenfassung über den Sanhedrin wäre überflüssig, wenn es darum ginge, die Verfahrensregeln des Sanhedrins auf die Anklageerhebung gegen Jesus anzuwenden. Denn sowohl jüdische als auch christliche Beweise belegen die Tatsache, dass Jesus nicht formell vom Sanhedrin angeklagt und verurteilt wurde. Es wird allseits zugegeben, dass der Sanhedrin vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels aufhörte, Todesurteile auszusprechen. Das allein würde schon ausreichen. Aber außerdem hätte die Verhandlung und Verurteilung Jesu im Palast des Kaiphas (wie bereits erwähnt) gegen jeden Grundsatz des jüdischen Strafrechts und Verfahrens verstoßen. Solche Fälle konnten nur am regulären Versammlungsort des Sanhedrins verhandelt und das Todesurteil ausgesprochen werden, nicht, wie hier, im Palast des Hohenpriesters; kein Prozess, schon gar nicht ein solcher, konnte in der Nacht begonnen werden, nicht einmal am Nachmittag, obwohl, wenn die Diskussion den ganzen Tag gedauert hatte, das Urteil in der Nacht ausgesprochen werden konnte. Auch durfte kein Prozess an Sabbaten oder Festtagen stattfinden, auch nicht an deren Vorabenden, obwohl dies das Verfahren nicht zunichte gemacht hätte, und man auf der anderen Seite argumentieren könnte, dass ein Prozess gegen einen, der das Volk verführt hatte, vorzugsweise an öffentlichen Festtagen durchgeführt und das Urteil vollstreckt werden sollte,zur Warnung für alle. Schließlich gab es bei Kapitalprozessen ein sehr ausgeklügeltes System der Warnung und Ermahnung von Zeugen, während man mit Sicherheit behaupten kann, dass die jüdischen Richter bei einem regulären Prozess, wie voreingenommen sie auch sein mögen, nicht so gehandelt hätten, wie es die Sanhedristen und Kaiphas in diesem Fall taten.

                    Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass in den Evangelien nicht von einer förmlichen Verhandlung und Verurteilung durch den Sanhedrin die Rede ist. Verweise auf „den Sanhedrin“ oder „den gesamten Sanhedrin“ müssen in einem weiteren Sinne verstanden werden, der im Folgenden erläutert wird. Andererseits weisen die vier Evangelien gleichermaßen darauf hin, dass die gesamte Verhandlung in dieser Nacht im Palast des Kaiphas stattfand und dass in dieser Nacht kein förmliches Todesurteil ausgesprochen wurde. Der heilige Johannes berichtet nämlich überhaupt nicht über das Verfahren; der heilige Matthäus berichtet nur über die Frage des Kaiphas und die Antwort der Sanhedristen; und auch die Sprache des heiligen Markus vermittelt nicht die Vorstellung eines förmlichen Urteils. Und als sie Jesus am Morgen nach einer erneuten Beratung, ebenfalls im Palast des Kaiphas, zum Prätorium führten, taten sie das nicht als einen zum Tode Verurteilten, dessen Hinrichtung sie verlangten,h sondern als einen, gegen den sie bestimmte Anschuldigungen erhoben, die des Todes würdig waren,während sie, als Pilatus sie aufforderte, Jesus nach dem jüdischen Gesetz zu richten, antworteten, nicht etwa, dass sie das bereits getan hätten, sondern dass sie nicht befugt seien, über Kapitalfragen zu urteilen.

                    Aber obwohl Christus nicht in einer förmlichen Sitzung des Sanhedrins angeklagt und verurteilt wurde, kann es leider keinen Zweifel daran geben, dass seine Verurteilung und sein Tod das Werk, wenn nicht des Sanhedrins, so doch der Sanhedristen waren – der Gesamtheit von ihnen („dem ganzen Rat“), in dem Sinne, dass es das Urteil und die Absicht des gesamten Obersten Rates und der Führer Israels, mit nur sehr wenigen Ausnahmen, ausdrückte. Wir bedenken, dass der Beschluss, Christus zu opfern, schon seit einiger Zeit gefasst worden war. So schrecklich die Vorgänge in jener Nacht auch waren, so scheinen sie doch eine Art Zugeständnis zu sein – als ob die Sanhedristen gerne eine rechtliche und moralische Rechtfertigung für das gefunden hätten, was sie zu tun beschlossen hatten. Zunächst suchten sie „Zeugen“, oder wie Matthäus es richtig nennt, „falsche Zeugen“ gegen Christus. Da es sich um eine private Untersuchung handelte, konnten sie dieses Zeugnis nur bei ihren eigenen Mitmenschen suchen. Hass, Fanatismus und skrupellose östliche Übertreibung würden leicht bestimmte Aussagen Christi verdrehen und entstellen oder ihm fälschlicherweise andere zuschreiben. Aber es war eine viel zu eilige und aufgeregte Versammlung, und die Zeugen widersprachen sich selbst so grob, oder ihre Aussagen waren so notorisch fehlerhaft, dass man aus lauter Scham auf solche erfundenen Anklagen verzichten musste. Und zu diesem Ergebnis muss die majestätische Ruhe des Schweigens Christi sehr beigetragen haben. Bei direkt falschen und widersprüchlichen Zeugenaussagen ist es wohl am besten, überhaupt kein Kreuzverhör zu machen, sich nicht einzumischen, sondern den falschen Zeugen sich selbst zerstören zu lassen.

                    Die Priester verzichteten auf dieses Zeugnis und brachten als Nächstes wahrscheinlich einige ihrer eigenen Leute vor, die bei der ersten Tempelreinigung zugegen gewesen waren, als Jesus ihnen auf die Aufforderung hin, „ein Zeichen“ zum Beweis seiner Autorität zu geben, jenes geheimnisvolle „Zeichen“ der Zerstörung und Aufrichtung des Tempels seines Leibes gegeben hatte. 2 Sie hatten es damals völlig missverstanden, und dass es jetzt als Grund für eine Anklage gegen Jesus wiedergegeben wurde, muss direkt auf Kaiphas und Hannas zurückzuführen sein. Wir erinnern uns, dass Jesus hier zum ersten Mal nicht nur mit den Tempelbehörden, sondern auch mit dem Geiz der „Familie des Hannas“ in Konflikt geriet. Wir können uns vorstellen, wie der erzürnte Hohepriester das Verhalten der Tempelbeamten angezweifelt hätte, und wie man ihm als Antwort gesagt hätte, was sie versucht hatten und wie Jesus ihnen begegnet war. Vielleicht war dies die einzige wirkliche Untersuchung, die ein Mann wie Kaiphas über das, was Jesus sagte, anstellen wollte. Und hier wurde sie in ihrer grob entstellten Form und mit mehr als östlicher Übertreibung der Parteilichkeit tatsächlich als kriminelle Anklage vorgebracht!

                    Geschickt manipuliert, könnte das Zeugnis dieser Zeugen zu zwei Anklagen führen. Es würde zeigen, dass Christus ein gefährlicher Verführer des Volkes war, dessen Behauptungen diejenigen, die ihnen Glauben schenkten, dazu verleitet haben könnten, gewaltsam Hand an den Tempel zu legen, während die angebliche Behauptung, dass er den Tempel innerhalb von drei Tagen wieder aufbauen würde oder konnte, als göttliche oder magische Anmaßung ausgelegt werden könnte. Eine bestimmte Gruppe von Schriftstellern hat diesen Teil des Komplotts der Sanhedristen gegen Jesus ins Lächerliche gezogen. Es ist in der Tat wahr, dass es, als jüdische Anklage betrachtet, schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre, aus solchen Anschuldigungen ein Kapitalverbrechen zu konstruieren, obwohl dadurch, gelinde gesagt, ein starkes Vorurteil im Volk gegen Jesus geweckt werden konnte – und das war zweifellos eines der Ziele, die Kaiphas im Auge hatte. Aber man hat merkwürdigerweise vergessen, dass es dem Hohenpriester nicht darum ging, eine Anklage nach jüdischem Recht zu formulieren, denn die versammelten Sanhedristen hatten nicht die Absicht, Jesus auf diese Weise zu verklagen, sondern eine Anklage zu formulieren, die vor dem römischen Prokurator Bestand haben würde. Und hier konnte keine andere so wirksam sein wie die, ein fanatischer Verführer der unwissenden Bevölkerung zu sein, der sie zu wilden Tumulten verleiten konnte. Zwei ähnliche Fälle, in denen die Römer den jüdischen Fanatismus mit dem Blut der Heuchler und ihrer verblendeten Anhänger erstickten, fallen einem leicht wieder ein. Auf jeden Fall würde Kaiphas natürlich versuchen, seine Anklage gegen Jesus vor Pilatus auf irgendetwas anderes zu gründen als auf seinen Anspruch auf Messiasschaft und das Erbe Davids. Es wäre eine grausame Ironie, wenn ein jüdischer Hohepriester die erhabenste und heiligste Hoffnung Israels dem Spott eines Pilatus aussetzen müsste; und es könnte sich als ein gefährliches Vorgehen erweisen, sei es im Hinblick auf den römischen Statthalter oder die Gefühle des jüdischen Volkes.

                    Aber auch diese Anklage, ein Verführer des Volkes zu sein, scheiterte an der Uneinigkeit der beiden Zeugen, die das mosaische Gesetz verlangte,und die nach rabbinischer Vorschrift getrennt befragt werden mussten. Aber die Divergenz ihres Zeugnisses zeigt sich nicht gerade in den Unterschieden der Berichte des Matthäus und des Markus. Wenn man es für notwendig hält, diese beiden Erzählungen zu harmonisieren, wäre es besser, beide als Berichte dieser beiden Zeugen zu betrachten. Auf das, was Markus berichtet, kann das folgen, was Matthäus berichtet, oder umgekehrt, wobei das eine sozusagen die Grundlage für das andere ist. Aber die ganze Zeit über bewahrte Jesus dasselbe majestätische Schweigen wie zuvor, und auch die Ungeduld des Kaiphas, der von seinem Sitz aufsprang, um seinen Gefangenen zu konfrontieren und, wenn möglich, zu schreien, konnte ihm keine Antwort entlocken.

                    Jetzt blieb nur noch eines übrig. Jesus wusste es genau, und Kaiphas wusste es auch. Es ging darum, die Frage zu stellen, deren Beantwortung Jesus nicht verweigern konnte und die, einmal beantwortet, entweder zu seinem Bekenntnis oder zu seiner Verurteilung führen musste. In der kurzen geschichtlichen Zusammenfassung, die Lukas liefert, ist die Reihenfolge der Ereignisse vertauscht, so dass es scheinen könnte, als ob das, was er berichtet, bei der Versammlung der Sanhedristen1 am nächsten Morgen stattgefunden hätte. Aber eine sorgfältige Betrachtung der dortigen Ereignisse zwingt uns, den Bericht des Lukas als einen Bericht über die von Matthäus und Markus beschriebene nächtliche Versammlung zu betrachten. Das Motiv für die Umkehrung der Reihenfolge der Ereignisse durch Lukas mag darin bestanden haben,dass er die dreimalige Verleugnung des Petrus in einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfassen wollte, wobei die dritte Verleugnung nach der Nachtsitzung des Sanhedrins stattfand, bei der die abschließende Beschwörung des Kaiphas die Antwort hervorrief, die Lukas ebenso wie die beiden anderen Evangelisten aufzeichnet. Wie dem auch sei, wir verdanken dem heiligen Lukas einen weiteren Aspekt des Dramas jener Nacht. Wie wir vermuten, wurde zunächst die einfache Frage an Jesus gerichtet, ob er der Messias sei, worauf er mit dem Hinweis auf die Unnötigkeit einer solchen Anfrage antwortete, da man seine Behauptungen von vornherein nicht geglaubt, ja sogar erst einige Tage zuvor im Tempel abgelehnt hatte, darüber zu diskutieren. Daraufhin beschwor der Hohepriester den Wahrhaftigen in feierlichster Weise durch den lebendigen Gott, dessen Sohn er war, es zu sagen, ob er der Messias und der Göttliche sei – beides wurde so zusammengefügt, nicht nach jüdischem Glauben, sondern um die Ansprüche Jesu auszudrücken. Hier konnte es keinen Zweifel und kein Zögern geben. So feierlich, nachdrücklich, ruhig und majestätisch, wie zuvor sein Schweigen gewesen war, war nun seine Rede. Und seine Behauptung dessen, was er war, war verbunden mit dem, was Gott ihm in seiner Auferstehung und seinem Sitzen zur Rechten des Vaters zeigen würde, und was auch sie sehen würden, wenn er in den Wolken des Himmels käme, die im letzten Sturm des Gerichts über ihre Stadt und ihr Gemeinwesen hereinbrechen würden.

                    Sie hörten es alle – und wie es das Gesetz bei Gotteslästerung vorschrieb, zerriss der Hohepriester sein äußeres und inneres Gewand mit einem Riss, der nie mehr repariert werden konnte. Aber das Ziel war erreicht. Christus wollte seine Behauptungen weder erklären noch abändern oder zurücknehmen. Sie hatten es alle gehört; was nützten da Zeugen, er hatte Giddupha , „Lästerung“, gesprochen. Dann wandte er sich an die Versammelten und stellte ihnen die übliche Frage, die der förmlichen Verurteilung zum Tode vorausging. Im rabbinischen Original lautet sie:“Was meint ihr, meine Herren? Und sie antworteten, wenn für das Leben: „Für das Leben!“ und wenn für den Tod: „Für den Tod.“ Aber das förmliche Todesurteil, das, wenn es eine ordentliche Sitzung des Sanhedrins gewesen wäre, jetzt vom Vorsitzenden hätte gesprochen werden müssen,wurde nicht verkündet.

                    Es gibt eine merkwürdige jüdische Vorstellung, dass am Versöhnungstag das goldene Band an der Mitra des Hohenpriesters mit den eingravierten Worten „Heiligkeit Jehovas“ für diejenigen sühnt, die Gotteslästerung begangen haben. Es steht in schrecklichem Kontrast zur Gestalt des Kaiphas in jener schrecklichen Nacht. Oder hat die unsichtbare Mitra auf der Stirn des wahren und ewigen Hohenpriesters, die die Weihe seiner Erniedrigung an Jehova kennzeichnete, für diejenigen plädiert, die in jener Nacht dort versammelt waren, die blinden Führer der Blinden? Doch unter so vielen feierlichen Gedanken drängen sich einige in den Vordergrund. In jener Schreckensnacht, als alle Feindschaft der Menschen und die Macht der Hölle entfesselt waren, konnte selbst die Falschheit der Böswilligkeit ihm kein Verbrechen zur Last legen, und doch konnte man ihm nichts anderes vorwerfen als die Entstellung seiner symbolischen Worte. Welch ein Zeugnis für Ihn, dieser einsame, falsche und unpassende Zeuge! Nochmals: „Sie verurteilten ihn alle als des Todes würdig“. Das Judentum selbst würde dieses Urteil der Sanhedristen jetzt nicht wiederholen. Und ist es nicht doch wahr, dass Er entweder der Christus, der Sohn Gottes, oder ein Gotteslästerer war? Dieser Mann, der allein so ruhig und majestätisch war unter diesen leidenschaftlichen falschen Richtern und falschen Zeugen; majestätisch in seinem Schweigen, majestätisch in seiner Rede; unbeeindruckt von Drohungen, zu sprechen, unerschrocken von Drohungen, wenn er sprach; der alles sah – das Ende von Anfang an; der Richter unter seinen Richtern, der Zeuge vor seinen Zeugen: welcher war Er – der Christus oder ein lästernder Betrüger? Lasst die Geschichte entscheiden; lasst das Herz und das Gewissen der Menschheit die Antwort geben. Wäre Er das gewesen, was Israel sagte, hätte Er den Tod am Kreuz verdient; ist Er das, was die Weihnachtsglocken der Kirche und die Glocken des Auferstehungsmorgens verkünden, dann verehren wir Ihn mit Recht als den Sohn des lebendigen Gottes, den Christus, den Retter der Menschen.

                    Nachdem sich diese Versammlung der Sanhedristen aufgelöst hatte, wurden, wie wir aus dem Lukasevangelium erfahren, die abscheulichen Beleidigungen und Verletzungen von den Wachen und Dienern des Kaiphas an ihm verübt. Alle erhoben sich nun in gemeinsamer Rebellion gegen den vollkommenen Menschen: die elende Unterwürfigkeit des Ostens, die sich an den Beleidigungen dessen erfreute, den sie niemals hätte besiegen können und nicht einmal anzugreifen gewagt hatte; jene angeborene Vulgarität, die es liebt, auf gefallener Größe herumzutrampeln und auf ihre Weise einen Triumph zu schmücken, wo kein Sieg errungen wurde; die Brutalität des Schlimmeren als das Tier im Menschen (da sie bei ihm nicht unter der Führung des göttlichen Instinkts steht), die, wenn sie entfesselt wird, an Grobheit und Wildheit noch zuzunehmen scheint; und die Profanität und Teufelei, die es gewohnt sind, die erbärmlichen Witzeleien dessen, was als gesunder Menschenverstand bezeichnet wird, und die Schläge tyrannischer Machtanmaßung auf alles Höhere und Bessere anzuwenden, auf das, was diese Menschen nicht begreifen können und nicht aufzuschauen wagen, und vor dessen Schatten, wenn er vom Aberglauben geworfen wird, sie in erbärmlicher Angst kauern und zittern! Und doch haben diese Beleidigungen, Verspottungen und Schläge, die auf den einsamen Leidenden fielen, der nicht wehrlos war, sondern sich nicht wehrte, der nicht besiegt war, sondern sich nicht wehrte, der nicht hilflos war, sondern majestätisch in der freiwilligen Selbsthingabe für den höchsten Zweck der Liebe – nicht nur den Fluch der Menschheit gezeigt, sondern ihn auch beseitigt, indem er ihn auf Ihn, den Vollkommenen, den Christus, den Sohn Gottes, herabkommen ließ. Und seitdem kann jeder edelherzige Leidende an dem seltsam bewölkten Tag nach oben blicken und dem schwarzen, nebligen Schatten folgen, der, wenn er die Erde berührt, in das goldene Licht übergeht, das von hinten erleuchtet wird – ein Mantel der Finsternis, der uns einhüllt und dort oben im Licht aufgeht, wo seine Falten von der Hand des Himmels zusammengehalten zu werden scheinen.

                    Dies ist unser Leidtragender – Christus oder ein Lästerer; und wer von uns würde bei dieser Alternative nicht eher die Rolle des Angeklagten als die seiner Richter wählen? Soweit überliefert ist, entkam Seinen Lippen kein einziges Wort, keine Klage, kein Murmeln, kein entrüsteter Tadel, kein scharfer Schrei aus tiefster Empfindsamkeit und Schmerz. Er trank langsam, mit dem Bewusstsein williger Selbsthingabe, den Kelch, den ihm sein Vater gegeben hatte. Und doch war er sein Vater – und dies auch besonders in seiner messianischen Beziehung zu den Menschen.

                    Wir haben gesehen, dass Jesus, als Kaiphas und die Sanhedristen den Audienzsaal verließen, der ungehemmten Willkür der Dienerschaft überlassen wurde. Sogar das jüdische Gesetz besagte, dass kein „längerer Tod“ (Mithah Arikhta) zugefügt werden durfte und dass der zum Tode Verurteilte nicht vorher gegeißelt werden durfte. Endlich waren sie der Beschimpfungen und Schläge überdrüssig, und der Leidende wurde allein gelassen, vielleicht auf der überdachten Empore oder an einem der Fenster, die den Hof unten überblickten. Etwa eine Stunde war vergangenb, seit die zweite Verleugnung des Petrus durch die Ankunft der Sanhedristen sozusagen unterbrochen worden war. Seitdem hatte die Aufregung des Scheinprozesses mit dem Kommen und Gehen der Zeugen, die zweifelsohne auf östliche Art und Weise den im Gerichtssaal um das Feuer Versammelten wiederholten, was geschehen war, dann die Abreise der Sanhedristen und erneut die Beleidigungen und Schläge, die dem Leidtragenden zugefügt wurden, die Aufmerksamkeit von Petrus abgelenkt. Nun richtete sich die Aufmerksamkeit erneut auf ihn, und unter den gegebenen Umständen natürlich noch intensiver als zuvor. Das Geplapper des Petrus, den das Gewissen und das Bewusstsein nervös gemacht hatten, verriet ihn. Auch dieser war mit Jesus, dem Nazarener, zusammen; wahrlich, er war einer von ihnen, denn er war auch ein Galiläer! So sprachen die Umstehenden; während nach Johannes ein Mitknecht und Verwandter jenes Malthus, dem Petrus in seinem Eifer in Gethsemane das Ohr abgeschnitten hatte, behauptete, er habe ihn tatsächlich erkannt. Auf alle diese Erklärungen erwiderte Petrus nur eine noch heftigere Verleugnung, die er diesmal mit Schwüren an Gott und Verwünschungen an sich selbst verband.

                    Kaum war das Echo seiner Worte verklungen – kaum hatte ihre Diastole sie mit gurgelndem Lärm auf sein Gewissen zurückgesandt -, ertönte laut und schrill der zweite Hahnenschrei. Der raue, beharrliche Ton weckte auch sein Gedächtnis. Er erinnerte sich nun an die Worte der warnenden Vorhersage, die der Herr gesprochen hatte. Er blickte auf; und als er aufblickte, sah er, wie sich der Herr dort oben, genau in diesem Moment, umdrehte1 und ihn ansah – ja, in dieser ganzen Versammlung, auf Petrus! Seine Augen sprachen seine Worte, ja, viel mehr noch, sie durchdrangen die innersten Tiefen des Petrusherzens und brachen es auf. Sie hatten alle Selbsttäuschung, falsche Scham und Angst durchdrungen: Sie hatten den Mann, den Jünger, den Liebhaber Jesu erreicht. Da brachen sie hervor, die Wasser der Überzeugung, der wahren Scham, des Herzensschmerzes, der Qualen der Selbstverurteilung; und bitterlich weinend eilte er unter jenen Sonnen hervor, die das Eis des Todes geschmolzen und sich in sein Herz gebrannt hatten – heraus aus diesem verfluchten Ort des Verrats durch Israel, durch seinen Hohepriester – und sogar durch den stellvertretenden Jünger.

                    Er eilte hinaus in die Nacht. Doch es war eine Nacht, die von den Sternen der Verheißung erhellt war – allen voran von dem, dass der Christus dort oben, der siegreiche Leidende, für ihn gebetet hatte. Gott schenke uns in der Nacht unserer bewussten Selbstverurteilung dasselbe Sternenlicht seiner Verheißungen, dieselbe Gewissheit der Fürsprache Christi, damit, wie Luther es ausdrückt, die Besonderheit des Berichts über die Verleugnung des Petrus im Vergleich zur Kürze des Berichts über das Leiden Christi uns diese Lektion ins Herz lege: „Die Frucht und der Nutzen der Leiden Christi ist, dass wir durch sie die Vergebung unserer Sünden haben.

                    Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten