Will Paulus hier wirklich sagen, dass die Juden keine Sünder wären – wenn er doch an anderer Stelle sagt, dass wir alle gesündigt haben?

Wir, von Natur Juden und nicht Sünder aus den Nationen,
Elberfelder 1871 – Gal 2,15

Wir sind von Geburt Iuden und nicht Sünder aus den Heiden;
Adolf Hilgenfeld- Der Galaterbrief, übersetzt, in seinen geschichtlichen Beziehungen untersucht und erklärt – Galater 2,15

Wir sind von Natur aus Juden und nicht von Nationen abstammende vor Gott schuldige Menschen.
Gottes Agenda – Galater 2:15

Denn du und ich, wir sind von unserer Herkunft her Juden und nicht Übertreter des Gottesgesetzes aus anderen Völkern!
Das Buch – 2009 – Gal 2,:15

Mit 15 beginnt nun eine kontroverstheologische Darlegung der Konsequenzen, die sich aus dem Verhalten des Petrus ergeben, indem sie das Evangelium außer Kraft und wieder die Hoffnung auf das Tun der Gesetzeswerke setzen, wie es die Galater offensichtlich unter dem Einfluß der Unruhestifter in den dortigen Gemeinden tun wollen, die Paulus dann in Kap. 3,1 direkt anspricht. In diesem Vers werden zunächst Juden und Heiden in ihrer unterschiedlichen heilsgeschichtlichen Stellung einander gegenübergestellt. Auch in Röm. 1,16; 2,17–20; 3,1–2 und 9,4–5 geht Paulus von einem heilsgeschichtlichen Vorrang der Juden aus, doch bedeutet der nicht, daß die Juden sündlos wären und nur die Heiden sündigten. Die ἁμαρτωλοί sind Menschen, die in Sünden leben. Dazu können die Zöllner gehören, die sich nach jüdischer Auffassung nicht um das Gesetz kümmern, und dazu gehören die Heiden, die das Gesetz überhaupt nicht kennen (Mark. 2,15.17; 14,41; Luk. 7,37.39; 1. Makk. 2,44.48.62). Diese Art heidnischer Sündhaftigkeit hat Paulus hier im Auge. Als geborener Jude hat Paulus vor Heiden auch das voraus, daß das Mosaische Gesetz nicht nur Zeremonialgesetz ist, sondern auch Sittengesetz und insofern sittlichen Halt gibt und vor heidnischem Sündenleben bewahrt.

Joachim Rohde 1989 – Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament

15 Sofern δέ in V. 16 ursprünglich ist, ist V. 15 ein eigenständiger prädikatloser Satz. Der Vers ist gedeutet worden als argumentum concessionis, ein Eingeständnis, dass dann durch andere gewichtige Argumente wettgemacht wird, als captatio benevolentiae oder auch als Prämisse der Argumentation, ohne dass hier Diskussionsbedarf empfunden würde. Die 1. Pl. ἡμεῖς bezeichnet hier wie in den beiden folgenden Versen allgemein das »Wir« der Judenchristen, ohne dass speziell auf Petrus und Paulus bzw. Jakobus abgehoben wäre. Der Begriff Jude hat einen auszeichnenden Sinn, vgl. Röm 9,4f.; 2,17–29; Phil 3,3f. Was in 1Thess 4,3–8 impliziert war (Heidentum = Sünde = Torheit), wird hier explizit gesagt. Das Wort φύσει ist nicht zu pressen: Es geht um die Abstammung der Judenchristen aus dem Volk Israel, nicht um eine ontologisch zu verstehende »Natur«. Der Begriff ἁμαρτωλοί zielt nicht auf einzelne Sündentaten, sondern, biblischer Tradition folgend, darauf, dass Nichtjuden den in der Tora geoffenbarten Willen Gottes nicht kennen und deshalb per se diesen Willen nicht erfüllen können und deshalb Sünder sind, unabhängig von ihrem konkreten Lebenswandel. Der Genitiv ἐξ ἐθνῶν ist nicht genitivus partitivus, als gäbe es Nichtjuden, die keine Sünder sind, sondern gibt im Sinne des eben Gesagten die Herkunft an.

Martin Meiser 2022 – Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament

Sein Vorwurf an Kephas (V. 14) mündet in der Darstellung des Paulus in eine Grundsatzrede (bis V. 21), deren geheime Adressaten die galatischen Gläubigen sind. In V. 15 schließt er an das jüd. Selbstverständnis an: Nichtjuden sind demnach von Geburt Sünder, weil sie die Juden und Nichtjuden unterscheidenden Gebote Beschneidung, Speisegebote und Sabbatheiligung nicht einhalten. Aber ist ein Jude damit schon gerecht, d. h. lebt er im Einklang mit Gott? Paulus betont im zentralen V. 16 dreimal, dass diese Gerechtigkeit nicht durch solche Werke des Gesetzes (d. h. nicht durch solche Werke, die das Gesetz zu tun fordert) erlangt wird, sondern allein durch den Glauben an Jesus Christus (vgl. Röm 3,20–28).

Stuttgarter Erklärungsbibel

Wir, Paulus und Petrus. Von Geburt, oder „von Natur aus“; vgl. Röm 2,27; 11,21–24. Heiden [sind] Sünder, weil sie Götzen anbeten und sich nicht an die Tora halten. Da Paulus annimmt, dass Nichtjuden vor Gott gerechtfertigt werden können, und zwar ohne Beschneidung oder Konversion zum Judentum (V. 16), meint er es hier entweder ironisch, wenn er Nichtjuden als Sünder bezeichnet, oder er zitiert die Ansichten seiner traditionalistischen Gegner.

Das Neue Testament – jüdisch erklärt

Auch Juden waren Sünder, aber die eher gesetzestreuen unter ihnen betrachteten sich nicht als solche. Im Alten Testament waren die Juden Gottes auserwähltes Volk, während die Heiden „von Geburt an“ „ohne Hoffnung und ohne Gott“ waren (Epheser 2:11, 12).

Holy Bible: Evangelical Heritage Version Study Bible

Ein Mensch wird von Gott nicht aufgrund seiner legalistischen Befolgung der Toragebote für gerecht erklärt. Hier wechselt Scha’ul von der Verteidigung der Autorität, die hinter seiner Präsentation der Guten Nachricht steht, zur Erklärung, warum es unter dem erneuerten Bund falsch ist, nichtjüdische Gläubige durch den Akt der b’rit-milah zu einer legalistischen Einhaltung der Tora zu zwingen. Von diesem Vers bis zum Ende des Galaterbriefs greift Sha’ul die Beschneidungsfraktion an, während er das wahre Evangelium verteidigt, in dem Nichtjuden keine Juden werden müssen, um Jeschua, dem Messias, zu folgen.

The Complete Jewish Study Bible: Notes

Die Sache war in Paulus Augen so wichtig, dass er in der Gegenwart aller zu Petrus sagte: „Wenn du, der du ein Jude bist, wie die Nationen lebst und nicht wie die Juden, wie zwingst du denn die Nationen, jüdisch zu leben?“ (Vers 14). Petrus selbst hatte das Gesetz als Richtschnur für die Gläubigen aus den Juden keineswegs gehalten. Er war frei genug gewesen, als ein Christ aus den Nationen zu leben; warum wollte er nun diese zwingen als Juden zu leben um christliche Gemeinschaft zu haben? „Wir von Natur Juden und nicht Sünder aus den Nationen, aber wissend, dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus, auch wir haben an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt würden und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt werden wird“ (Verse 15, 16). Sie selber, obwohl Juden, hatten das Gesetz aufgegeben und zu Christus ihre Zuflucht genommen. Früher meinten sie im Gesetz ein Mittel der Rechtfertigung zu finden; nun hatten sie aber einfach Christus angenommen und aufgehört, eine Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken zu suchen.

Hermanus Cornelis Voorhoeve – Der Brief an die Galater

In diesem Satzglied steht der Gegensatz der Herkunft im Fokus, da ἐξ ἐθνῶν („aus den Nationen“) linksversetzt und betont ist. Es ist möglich, dass dies das Subjekt des weiteren Satzes ist, dessen Matrixprädikat „glaubten“ ausmacht, obwohl aufgrund der Distanz das Subjekt resumptiv mit „wir“ wieder aufgenommen wird. Somit könnte dieser Teil ein Casus pendens, der keine direkte grammatische Fortsetzung findet (Anakoluth), sein. Allerdings kann sich der Satz auch inhaltlich an Vers 14 anschließen und eine Apposition oder eine Aussage des Unverständnisses über die Handlung des Petrus sein. Paraphrasiert etwa mit „Wir sind doch von Natur aus Juden und nicht Sünder aus den Heiden, wieso hast du dann wie ein Heide gelebt und nun doch wieder jüdisch?“. Jedoch kann der Satz auch Vers 17 vorbereiten, also, dass auch die Juden an Christus glaubten, wie die anwesenden Heiden, da sie nicht durch das Gesetz gerettet werden konnten, zudem war es offensichtlich, dass die Heiden Sünder sind und daher an Christus glauben sollten.

P. Streitenberger – Der Galaterbrief

Diese Feststellung ist zunächst einmal eine gemeinsame Grundlage, auf der Petrus und Paulus stehen. In rechter seelsorgerlicher Art schließt sich Paulus in das Gespräch mit ein und sucht die Gemeinsamkeit, deshalb sagt er hier auch bis V. 18 »wir«. Er muss zwar Petrus ermahnen und sogar zurechtweisen, er tut das aber nicht in Besserwisserei, von oben herab oder in richtender Bloßstellung. Das »wir« ist mehr als nur rhetorische Floskel, es ist Ausdruck der Bruderschaft, in der allein rechte Ermahnung geschehen kann.

»Wir sind von Natur aus Juden«, durch ihre Geburt gehören sie beide zu dem auserwählten Volk Gottes das nämlich, eben die Erwählung, stellt sie weit über die »Sünder aus den Heiden«. Nicht der jüdische Nationalstolz geht hier mit Paulus durch; vielmehr hat er die Fülle der Heilsgaben vor Augen, die Gott seinem Volk durch die Zeiten gegeben hat: »Israel, welchem die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen; welchem auch sind die Väter und aus welchem Christus herkommt nach dem Fleisch…« (Röm 9,4f). Paulus trifft seine Feststellung nicht in selbstgefälligem Stolz. Der Vorzug der Juden liegt nicht in ihrer Qualität, sondern in der stetigen Zuwendung und den überfließenden Gaben seines Gottes.

Die Helden, die Völker sind »Sünder«, auch das ist nicht etwa ein abfälliges, moralisch gemeintes Urteil. Sie können gar nicht anders, diese Völker. Sie sündigen, weil sie das Gesetz und den Willen Gottes nicht kennen. Wer in Israel nach Gottes Willen leben wollte, der konnte das tun, denn er kannte diesen Willen aus den Geboten und konnte ihn tun. Das war aber den Heidenvölkern nicht möglich. Es ist eine ganz andere Frage, wie viele in Israel dann auch tatsächlich nach dem bekannten Gotteswillen lebten. Die Feststellung des Paulus, dass Jude -sein über die Heidenvölker hinaushebt, kann nicht heißen, darum seien die Juden keine Sünder. Wohl aber, sie, gerade sie, hätten nicht sündigen müssen. Israel hat die bedrückende Erfahrung an sich selbst machen müssen, dass sie so, aus eigener Kraft, nämlich der Kraft des Gehorsams gegen das Gesetz die Gerechtigkeit nicht erlangten. Das haben Petrus erlebt und auch Paulus, deshalb kennzeichnet auch das »wir« ihre Gemeinsamkeit.

Gerhard Maier – Edition C

Seine erste Verteidigung verdeutlicht die Position oder Situation des jüdischen Gläubigen. Er erklärt, dass sowohl er als auch Petrus von Geburt an Juden waren. Sie waren nicht einmal heidnische Proselyten zum Judentum. Sie wurden nicht als Sünder unter den Heiden geboren. Doch sowohl Paulus als auch Petrus erkennen nun, dass sie nicht durch das Gesetz gerechtfertigt werden konnten, und allein die Tatsache, dass sie Jeschua für ihre Errettung vertrauten, zeigte, dass etwas im Judentum fehlte.

Sie erkannten, dass sie durch den Glauben gerechtfertigt werden mussten, nicht durch die Werke des Gesetzes. Paulus sagt Petrus, dass sie sogar als Juden die Notwendigkeit erkannten, auf den Messias zu vertrauen, um gerettet zu werden, und sie vertrauten darauf, dass er für sie tun würde, was das Gesetz nicht tun konnte. Der Glaube war das Mittel zur Rechtfertigung, nicht das Gesetz.

Die Schlussfolgerung lautet: „Petrus, warum sollen die Heiden etwas annehmen, was die Juden inzwischen selbst als unerfüllbar erkannt haben?“ Sowohl Paulus als auch Petrus haben das erkannt. Seine erste Verteidigung ist im Grunde diese: „Wir sind als Juden geboren, und doch haben wir als Juden erkannt, dass wir nicht durch die Werke des Gesetzes gerechtfertigt werden können, sondern nur durch den Glauben.“

Arnold G. Fruchtenbaum – Allein durch den Glauben – Der Galaterbrief, das mosaische Gesetz und die Bedingung unserer Errettung