(Matthäus 26:1-5, 14-16; Markus 14:1, 2, 10, 11; Lukas 22:1-6).
Aldred Edersheim – Das Leben und die Zeiten von Jesus dem Gesalbten
VON DER Aufzeichnung der Sprüche und Taten Christi, die der heilige Matthäus liefert, wenden wir uns wieder den öffentlichen Ereignissen zu, wie sie von allen Evangelisten unter dem einen oder anderen Aspekt erzählt werden. Mit den Reden im Tempel war die öffentliche Lehre Christi zu Ende gegangen; mit der Rede auf dem Ölberg und ihrer Anwendung in den Gleichnissen von den „Jungfrauen“ und den „Talenten“ war die Unterweisung der Jünger abgeschlossen. Was nun in seinem Umgang mit den Seinen folgt, ist eher als lehrend, nämlich Ermahnung, Rat und Trost, vielleicht sogar alles zusammen.
Die drei arbeitsreichen Tage der Passionswoche waren vorüber. Der Tag vor dem Tag, an dem das Osterlamm geschlachtet werden sollte, mit allem, was noch folgen würde, sollte ein Tag der Ruhe sein, ein Sabbat für seine Seele vor ihrem großen Schmerz. Er würde sich erfrischen, sich sammeln für den schrecklichen Kampf, der vor ihm lag. Und das tat er als Lamm Gottes, das sich sanftmütig dem Willen und der Hand seines Vaters unterwarf und so alle Vorbilder erfüllte, von der Opferung Isaaks auf dem Berg Morija bis zum Osterlamm im Tempel; und die Erfüllung aller Prophezeiungen, vom Samen der Frau, der der Schlange den Kopf zertreten würde, bis hin zum Reich Gottes in seiner ganzen Fülle, wenn seine goldenen Tore allen Menschen geöffnet werden und das Licht des Himmels zu ihnen strömt, wenn sie den Weg des Friedens suchen. Nur noch zwei Tage, wie die Juden sie rechneten – diesen Mittwoch und Donnerstag – und dann sogar das Ostermahl! Und Jesus wusste das sehr wohl, und er verbrachte diesen Tag der Ruhe und Vorbereitung in stiller Zurückgezogenheit mit seinen Jüngern – vielleicht in einer Mulde des Ölbergs, in der Nähe seines Hauses in Bethanien – und sprach mit ihnen über seine Kreuzigung am nahen Passahfest. Sie hatten seine Worte dringend nötig; eher sie als er mussten auf das vorbereitet werden, was kommen würde. Aber was für eine göttliche Ruhe, was für ein williger Gehorsam und auch was für ein Ausbruch von Liebe zu ihnen, im vollen Bewusstsein dessen, was vor Ihm lag, nur an diesem Tag daran zu denken und zu sprechen! So hätte ein Messias jüdischer Prägung nicht gehandelt, ja, er wäre nicht in solche Verhältnisse gebracht worden. So hätte nicht ein Messias mit ehrgeizigen Zielen oder jüdisch-nationalistischen Bestrebungen gehandelt; Er hätte getan, was der Sanhedrin befürchtete, und einen „Tumult des Volkes“ ausgelöst, der darauf vorbereitet war, wie die Menge, die soeben den Hosanna-Ruf auf den Straßen und im Tempel erhoben hatte. So hätte ein enttäuschter Enthusiast nicht gehandelt; er hätte sich vor dem drohenden Schicksal zurückgezogen. Aber Jesus kannte alles – weit mehr als die Qualen der Schande und des Leidens, sogar die unergründlichen Qualen der Seele. Und bei alledem dachte er nur an sie. Solches Denken und Sprechen ist nicht das des Menschen, sondern das des menschgewordenen Gottessohnes, des Christus der Evangelien.
In der Tat hatte er zuvor versucht, sie allmählich auf das vorzubereiten, was in der Nacht des morgigen Tages geschehen sollte. Gleich zu Beginn Seines Dienstes, bei der ersten Gelegenheit, bei der Er im Tempel lehrte,gegenüber Nikodemus hatte Er in schemenhaften Bildern darauf hingewiesen. b Er hatte es angedeutet, als er von der tiefen Trauer sprach, wenn der Bräutigam von ihnen genommen werden würde,von der Notwendigkeit, sein Kreuz auf sich zu nehmen,d von der Erfüllung des Jona-Typs in ihm,von seinem Fleisch, das er für das Leben der Welt geben würde,f sowie in dem, was als parabolische Lehre über den guten Hirten erscheinen mochte, der sein Leben für die Schafe hingab,und den Erben, den die bösen Hirten verstoßen und getötet haben. h Aber Er hatte auch ganz direkt davon gesprochen – und das, wie wir besonders bemerken, immer dann, wenn ein Höhepunkt in Seiner Geschichte erreicht war und die Jünger sich zu messianischen Erwartungen einer Erhöhung ohne Erniedrigung, eines Triumphs ohne Opfer hinreißen lassen konnten. Wir erinnern uns, dass die erste Gelegenheit, bei der er so deutlich sprach, unmittelbar nach dem Bekenntnis des Petrus war, das den Grundstein der Kirche legte, gegen den die Pforten der Hölle nichts ausrichten konnten; die nächste, nachdem er vom Berg der Verklärung herabgestiegen war; b die letzte, als er sich anschickte, seinen triumphalen messianischen Einzug in Jerusalem zu vollziehen. Die dunkleren Andeutungen und parabolischen Schwünge hätten missverstanden werden können. Selbst was die eindeutigen Vorhersagen Seines Todes anbelangt, konnten vorgefasste Meinungen keinen Platz für eine solche Tatsache finden. Eine tiefe Verehrung, die dies nicht mit Seiner Person in Verbindung bringen konnte, und eine Liebe, die den Gedanken daran nicht ertragen konnte, könnten, nachdem der erste Schock der Worte vorüber war und ihre unmittelbare Erfüllung nicht folgte, eine andere mögliche Erklärung der Vorhersage vorschlagen. Aber an jenem Mittwoch war es unmöglich, etwas falsch zu verstehen; es war kaum möglich, an dem zu zweifeln, was Jesus über seine nahe Kreuzigung sagte. Sollten noch Illusionen bestanden haben, so müssen die letzten beiden Tage sie grob zerstreut haben. Die triumphalen Hosiannas bei seinem Einzug in die Stadt und der Jubel im Tempel waren dem Gejohle der Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrten gewichen, und mit einem „Wehe“ auf den Lippen hatte Jesus seinen letzten Weg aus Israels Heiligtum angetreten. Und weitaus besser als jene Machthaber, die das Gewissen zu Feiglingen machte, wussten die Jünger, wie wenig man sich auf die Anhänglichkeit der „Menge“ verlassen konnte. Und nun sagte es ihnen der Meister in klaren Worten; er betrachtete es in aller Ruhe, und zwar nicht wie in der düsteren Zukunft, sondern in der unmittelbaren Gegenwart – an eben jenem Passahfest, von dem sie kaum zwei Tage trennten. So sehr wir uns über ihre kurze Zerstreuung bei seiner Verhaftung und Verurteilung wundern, so sehr müssen diese demütigen Jünger ihn geliebt haben, dass sie in trauerndem Schweigen um ihn saßen, während er so sprach, und ihm bis zu seinem Sterben folgten.
Aber für einen von ihnen, in dessen Herz sich die Finsternis schon lange ausgebreitet hatte, war dies der entscheidende Augenblick. Die Voraussage Christi, die Judas ebenso wie die anderen als wahr empfunden haben musste, löschte den letzten Schimmer des Lichts Christi aus, den seine Seele zu empfangen vermochte. An seiner Stelle loderte die grelle Flamme der Hölle auf. Durch die offene Tür, durch die er den sterbenden Christus hinausgestoßen hatte, „drang der Satan in Judas ein“. Doch auch das nicht für immer. Es darf in der Tat bezweifelt werden, ob dies, da Gott in Christus ist, jemals in einer menschlichen Seele der Fall sein kann, zumindest auf dieser Seite der Ewigkeit. Seit die Nacht unserer Welt durch die Verheißung aus dem Paradies erhellt wurde, liegt der rosige Farbton ihres Morgens am Rande des Horizonts, vertieft sich zu Gold, erhellt sich zu Tag, wächst zu Mittagsstärke und Abendherrlichkeit. Seit Gottes Stimme die Erde durch ihren frühen Weihnachtshymnus geweckt hat, ist es dort niemals ganz Nacht gewesen, noch kann es in irgendeiner menschlichen Seele jemals ganz Nacht sein.
Aber es ist eine schreckliche Nachtstudie, die des Judas. Wir scheinen über lose Steine aus heißer, geschmolzener Lava zu stolpern, wenn wir zum Rand des Kraters klettern und schaudernd in seine Tiefen blicken. Und doch stand dort, ganz in der Nähe, nicht nur Petrus in der Nacht seiner Verleugnung, sondern vor allem wir alle, außer denen, deren Engel stets zum Antlitz unseres Vaters im Himmel aufblickten. Und doch haben wir in unserer Schwäche sogar über sie geweint! Dort, fast dort, haben wir gestanden, nicht in den Stunden unserer Schwäche, sondern in denen unserer schweren Versuchung, als der Sturm des Zweifels das flackernde Licht fast ausgelöscht oder der Sturm der Leidenschaft oder des Eigenwillens das geknickte Rohr zerbrochen hatte. Aber Er betete für uns – und durch die Nacht kam über ödes Moor und steinige Höhen das Licht Seiner Gegenwart, und über den wilden Sturm erhob sich die Stimme dessen, der gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren war. Doch nahe bei uns, nahe bei uns, war der dunkle Abgrund, und wir können nie mehr vergessen, wie wir beim Verlassen des Abgrunds das letzte Mal fast ins Rutschen gerieten.
Es ist eine schreckliche Nachtstudie über Judas, und am besten machen wir sie gleich hier, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Wir werden in der Tat noch einmal einen plötzlichen Blick auf ihn erhaschen, wenn das Licht der Fackeln auf das Gesicht des Verräters in Gethsemane blitzt; und noch einmal seine Stimme in der Versammlung der hochmütigen, höhnischen Ratsherren Israels hören, wenn sein Schritt auf dem Marmorpflaster der Tempelhallen und das Klirren jener dreißig verfluchten Silberstücke den Widerhall wecken wird, auch den Klagegesang der Verzweiflung in seiner Seele, und er wird aus der Nacht seiner Seele in die Nacht fliehen, die sich für immer um ihn schließt. Aber all das können wir nach dieser kurzen Untersuchung seines Charakters und seiner Geschichte so schnell wie möglich hinter uns lassen.
Wir erinnern uns, dass „Judas, der Mann aus Kerioth“, soviel wir wissen, der einzige Jünger Jesu aus der Provinz Judäa war. Dieser Umstand, dass er den Beutel trug, d.h. Schatzmeister und Verwalter des kleinen gemeinsamen Vorrats von Christus und seinen Jüngern war, und dass er sowohl ein Heuchler als auch ein Dieb war – das ist alles, was wir mit Sicherheit über seine Geschichte wissen. Aus dem Umstand, dass er in der apostolischen Gemeinschaft in ein solches Vertrauensamt berufen wurde, schließen wir, dass er bei den anderen als fähiger und kluger Mann, als guter Verwalter angesehen worden sein muss. Und es gibt wohl keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er die natürliche Gabe der Verwaltung oder des „Regierens“ (κυβέρνησις) besaß. Die Frage, warum Jesus ihm „den Beutel“ überließ, nachdem er wusste, dass er ein Dieb war – was er, wie wir glauben, anfangs nicht war, sondern erst im Laufe der Zeit und im Verlauf der Enttäuschung wurde -, lässt sich am besten durch diese andere beantworten: Warum ließ er es ursprünglich zu, dass Judas damit betraut wurde? Nicht nur, weil er am besten dafür geeignet war – wahrscheinlich sogar absolut geeignet -, sondern auch aus Barmherzigkeit ihm gegenüber, angesichts seines Charakters. Sich mit dem zu beschäftigen, wofür ein Mensch von Natur aus geeignet ist, ist das wahrscheinlichste Mittel, um ihn vor Grübeleien, Unzufriedenheit, Entfremdung und schließlich Abtrünnigkeit zu bewahren. Andererseits muss man zugeben, dass die meisten unserer Lebensversuche von dem ausgehen, wofür wir am meisten geeignet sind. Als Judas entfremdet und untreu im Herzen war, wurde genau das auch seine größte Versuchung und trieb ihn in der Tat ins Verderben. Aber erst, nachdem er vorher innerlich versagt hatte. Und so wird, wie immer in solchen Fällen, gerade das, was am segensreichsten hätte sein können, am meisten zum Fluch, und das Urteil der Verstockung erfüllt sich durch das, was an sich gut ist. Man hätte ihm auch nicht „den Beutel“ wegnehmen können, ohne ihn den anderen auszusetzen und seinen moralischen Untergang zu beschleunigen. Und so musste er dem Prozess der inneren Reifung überlassen werden, bis alles für die Sichel bereit war.
Gerade diese Gabe der „Herrschaft“ bei Judas kann uns auch helfen zu verstehen, wie er sich zuerst zu Jesus hingezogen fühlte und wie er, als er sich entfremdet hatte, in diese schreckliche Sünde geriet, die ihn in ihren Bann zog. Die „Gabe der Regierung“ würde in ihrem aktiven Aspekt das Verlangen nach ihr bedeuten. Von da bis zum Ehrgeiz in seiner schlimmsten oder selbstsüchtigen Form ist es nur ein kleiner Schritt, vielmehr sind es nur unterschiedliche moralische Voraussetzungen. Judas fühlte sich zu Jesus als dem jüdischen Messias hingezogen, und er glaubte an ihn als solchen, vielleicht sogar ernsthaft und inbrünstig; aber er erwartete, dass der Erfolg, das Ergebnis und die Triumphe des jüdischen Messias sein würden, und er erwartete auch, persönlich und vollständig daran teilzuhaben. Wie tief solche Gefühle selbst in den besten, reinsten und selbstlosesten Jüngern Jesu verwurzelt waren, erfahren wir aus der Bitte der Mutter von Johannes und Jakobus um ihre Söhne und aus der Frage des Petrus: „Was sollen wir haben? Es muss für Ihn, der die fleischgewordene Selbstlosigkeit war, der lebte, um zu sterben, und der voll war, um sich zu entleeren, ein Schmerz, das Elend der moralischen Einsamkeit und der Demütigung gewesen sein, mit solchen wie seinen engsten Jüngern zusammen zu sein, die in diesem Sinne auch nicht eine Stunde mit Ihm wachen konnten, und in denen am Ende seines Dienstes eine solche Schwere geistig und moralisch der Ausfluss, wenn nicht das Ergebnis war. Und bei Judas muss dies alles hundertmal mehr gewesen sein als bei denen, die Christus im Herzen treu waren.
Aus einer solchen Überzeugung heraus, wie wir sie beschrieben haben, hatte er sich der Bewegung gleich zu Beginn angeschlossen. Damals folgten Scharen von Menschen in Galiläa seinen Spuren und warteten auf sein Erscheinen; sie hingen gebannt an seinen Lippen in der Synagoge oder auf dem „Berg“; sie strömten aus allen Städten, Dörfern und Weilern zu ihm; sie trugen die Kranken und Sterbenden zu seinen Füßen und sahen mit Ehrfurcht, wie besiegte Teufel Zeugnis von seiner göttlichen Macht ablegten. Es war die Frühlingszeit der Bewegung, und alles war voller Verheißungen – Land, Leute und Jünger. Der Täufer, der sich vor ihm verneigt hatte und ihn bezeugte, erhob noch immer seine Stimme, um das nahe Reich zu verkünden. Aber das Volk hatte sich Jesus zugewandt, und er zog es in seinen Bann. Und, oh! welche Macht lag in Seinem Gesicht und Wort, in Seinem Blick und seiner Tat. Und auch Judas war einer von denen gewesen, denen auf ihrer ersten Mission vorübergehend Macht gegeben worden war, so dass selbst die Teufel ihnen unterworfen waren. Doch Schritt für Schritt kam die Enttäuschung. Johannes wurde enthauptet und nicht gerächt; im Gegenteil, Jesus zog sich selbst zurück. Dieses ständige Sich-Zurückziehen, sei es vor den Feinden oder vor dem Erfolg – was fast einer Flucht gleichkam -, selbst als sie ihn zum König gemacht hätten; diese Weigerung, sich öffentlich zu zeigen, sei es in Jerusalem, wie ihn seine eigenen Brüder verspottet hatten, oder überhaupt irgendwo anders; dieses einheitliche Predigen der Entmutigung ihnen gegenüber, wenn sie zu ihm kamen, beschwingt und voller Hoffnung auf einen Erfolg; diese wachsende Feindschaft der Führer Israels und sein deutliches Ausweichen vor der wiederholten öffentlichen Aufforderung der Pharisäer, ein Zeichen des Himmels zu zeigen, oder, wie manche es ausgedrückt hätten, sein Versagen bei dieser Aufforderung; schließlich und vor allem dieser ständige und wachsende Hinweis auf Schande, Unheil und Tod – was bedeutete das alles, wenn nicht die Enttäuschung all jener Hoffnungen und Erwartungen, die Judas am Anfang zu einem Jünger Jesu gemacht hatten?
Wer Jesus so gut kannte, nicht nur in seinen Worten und Taten, sondern auch in seinen innersten Gedanken, bis hin zu seinem nächtlichen Zwiegespräch mit Gott auf dem Berg, der konnte nicht ernsthaft an den groben pharisäischen Vorwurf des satanischen Wirkens als Erklärung für alles glauben. Doch vom damaligen jüdischen Standpunkt aus hätte er es kaum für unmöglich gehalten, eine andere Erklärung für seine Wunderkraft vorzuschlagen. Aber da der moralische und geistige Aspekt des Reiches Christi selbst dem stumpfsinnigsten Intellekt immer deutlicher geworden sein muss, muss die bittere Enttäuschung seiner messianischen Gedanken und Hoffnungen in dem Maße weitergegangen sein, wie parallel dazu der Prozess der moralischen Entfremdung, der unvermeidlich mit seinem Widerstand gegen solche geistigen Manifestationen verbunden war, weiterging und zunahm. So gingen die geistige und die moralische Entfremdung zusammen weiter, beeinflussten sich gegenseitig und wirkten aufeinander ein. Und wenn wir gezwungen wären, einen bestimmten Zeitpunkt zu nennen, an dem der Prozess des Zerfalls zumindest spürbar begann, würden wir auf jenen Sabbatmorgen in Kapernaum verweisen, als Christus über sein Fleisch als die Nahrung der Welt gepredigt hatte und so viele seiner Anhänger aufhörten, ihm zu folgen; ja, als der Sauerteig sogar in seinen Jüngern so sehr wirkte, dass er sich mit der prüfenden Frage an sie wandte – um ihnen die volle Bedeutung der Krise zu zeigen -, ob sie ihn auch verlassen würden? Petrus siegte, indem er das moralische Element erfasste, denn es war für ihn und die anderen wahren Jünger von entscheidender Bedeutung: „Zu wem sollen wir gehen? Du hast die Worte des ewigen Lebens“. Aber gerade dieses moralische Element war die Klippe, an der Judas Schiffbruch erlitt. Danach war alles falsch, und zwar immer mehr. Wir sehen die Enttäuschung in seinem Gesicht, als er nicht auf den Berg der Verklärung steigt, und die Enttäuschung darüber, dass er das kranke Kind nicht heilen kann. In den Streitigkeiten am Wegesrand, in den Auseinandersetzungen darüber, wer der Größte unter ihnen war, in all der Kleinlichkeit der Missverständnisse und der realistischen Torheit ihrer Fragen oder Antworten, scheinen wir das Echo seiner Stimme zu hören, das Ergebnis seines Einflusses, den Sauerteig seiner Gegenwart zu sehen. Und in all dem sehen wir, wie sich sein Weg nach unten beschleunigt, bis hin zu dem Moment, in dem er im Gegensatz zur tiefen Liebe einer Maria zum ersten Mal entlarvt vor uns steht, als herzlos, heuchlerisch, voller Hass – enttäuschter Ehrgeiz, der in Egoismus umgeschlagen ist, und Egoismus, der in Habgier abrutscht, bis hin zu dem Verbrechen, das zu stehlen, was für die Armen bestimmt war.
Denn wenn ein Ehrgeiz, der nur auf Selbstsucht beruht, nachlässt, liegt die grobe Begierde der Habsucht als verwandte Leidenschaft und geringerer Ausdruck dieser anderen Form der Selbstsucht dicht daneben. Als der messianische Glaube des Judas in völlige Enttäuschung umschlug, traf ihn der moralische und geistige Charakter der Lehre Christi nicht mit Sympathie, sondern mit Antipathie. Das, was ihm die Tür seines Herzens hätte öffnen sollen, hat sie nur verschlossen und doppelt verriegelt. Seine Anhänglichkeit an die Person Jesu würde in tatsächlichen Hass umschlagen, wenn auch nur vorübergehend; und die wilde Intensität seiner östlichen Natur würde alles in Flammen setzen. So stürzte Judas, als er seinen dünnen Halt verloren hatte, oder besser gesagt, als ihm dieser entglitten war, in den ewigen Abgrund. Der einzige Halt, an den er sich klammern konnte, war die Leidenschaft seiner Seele. Als er Hand an sie legte, gab sie nach und stürzte mit ihm in unergründliche Tiefen. Auch wir, jeder von uns, haben eine Hauptleidenschaft; und wenn wir, was Gott verhüten möge, den Halt verlieren sollten, würden auch wir diese Hauptleidenschaft ergreifen, und sie würde nachgeben und uns mit sich in die ewige Dunkelheit und Tiefe reißen.
An jenem Frühlingstag in der Ruhe von Bethanien, als der Meister seinen traurigen und feierlichen Abschied von Himmel und Erde, von Freunden und Jüngern nahm und ihnen sagte, was nur zwei Tage später beim Passahfest geschehen sollte, war alles in der Seele von Judas geregelt. Der Satan ist in sie eingedrungen“. Christus würde gekreuzigt werden; das war ganz sicher. In der allgemeinen Katastrophe sollte Judas wenigstens etwas haben. Und so ließ er sie an jenem sonnigen Nachmittag dort draußen zurück, um das Gespräch mit denen zu suchen, die nicht an ihrem üblichen Versammlungsort, sondern im Palast des Hohenpriesters versammelt waren. Auch dies deutet darauf hin, dass es sich um eine informelle, eher beratende als gerichtliche Zusammenkunft handelte. Denn es gehörte zu den Grundsätzen des jüdischen Gesetzes, dass in Strafsachen das Urteil am regulären Versammlungsort des Sanhedrins gesprochen werden muss. Die gleiche Schlussfolgerung ergibt sich aus dem Umstand, dass der Hauptmann der Tempelwache und seine unmittelbaren Untergebenen in den Rat aufgenommen worden zu sein scheinen, zweifellos um die Maßnahmen für die eigentliche Verhaftung Jesu abzustimmen. Zuvor hatte es eine ähnliche Versammlung und Beratung gegeben, als der Bericht über die Auferweckung des Lazarus die Obrigkeit in Jerusalem erreichte. Der praktische Beschluss, der bei dieser Versammlung gefasst wurde, lautete offenbar, dass die Bewegungen Jesu von nun an streng überwacht werden sollten und dass jede einzelne von ihnen sowie die Namen seiner Freunde und die Orte, an denen er sich heimlich zurückzog, den Obrigkeiten mitgeteilt werden sollten, um seine Verhaftung zum richtigen Zeitpunkt vorzunehmen.
Wahrscheinlich hat sich der Verräter an jenem Nachmittag im Palast des Hohepriesters Kaiphas eingefunden, weil er dieser Anweisung gehorchte. Dort waren die „Oberhäupter“ der Priesterschaft versammelt – zweifellos die Tempelbeamten, die Leiter der Priesterkurse und die Angehörigen der hochpriesterlichen Familie, die das bildeten, was Josephus und der Talmud als Priesterrat bezeichnen. Alles, was mit dem Tempel, seinen Ritualen, seiner Verwaltung, seiner Ordnung und seinen Gesetzen zu tun hatte, lag in ihren Händen. Darüber hinaus war es nur natürlich, dass der Hohepriester und sein Rat das reguläre offizielle Medium zwischen den römischen Behörden und dem Volk sein sollten. In Angelegenheiten, die keine gewöhnlichen Vergehen, sondern politische Verbrechen betrafen (wie man die Bewegung Jesu darstellen wollte), oder die den Status der etablierten Religion betrafen, waren die offiziellen Oberhäupter der Priesterschaft natürlich die Personen, die sich zusammen mit den Sanhedristen an die weltlichen Behörden wandten. Dies gilt unabhängig von der Frage, welche Stellung die Oberpriester im Sanhedrin einnahmen, auf die im Folgenden eingegangen wird. Aber bei dieser Versammlung im Palast des Kaiphas waren neben diesen priesterlichen Oberhäuptern auch die führenden Sanhedristen („Schriftgelehrte und Älteste“) versammelt. Sie berieten darüber, wie Jesus auf subtile Weise gefangen genommen und getötet werden könnte. Wahrscheinlich hatten sie sich noch nicht auf einen konkreten Plan festgelegt. Sie waren nur zu dem Schluss gekommen – wahrscheinlich aufgrund des Beifalls des Volkes bei seinem Einzug in Jerusalem und aufgrund dessen, was seitdem geschehen war -, dass während des Festes nichts unternommen werden durfte, aus Angst vor einem Volksaufstand. Sie kannten den Charakter des Pilatus nur zu gut und wussten, dass bei einem solchen Aufruhr alle Beteiligten – sowohl die Anführer als auch die Geführten – schreckliche Rache erfahren könnten.
Es muss eine große Erleichterung gewesen sein, als der Verräter in ihrer Ratlosigkeit nun mit seinen Vorschlägen vor sie trat. Doch sein Empfang war nicht so, wie er es sich vielleicht erhofft hatte. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass man ihn wie einen wichtigen Verbündeten begrüßen und behandeln würde. Sie waren in der Tat „erfreut und versprachen, ihm Geld zu geben“, während er versprach, seine Schritte zu verfolgen und auf die Gelegenheit zu achten, die sie suchten. In Wahrheit veränderte das Angebot des Verräters den gesamten Aspekt der Dinge. Was sie früher fürchteten, zu versuchen, schien jetzt sicher und einfach. Sie durften sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen; es war eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder ergeben würde. Nein, könnte es nicht sogar so aussehen, als hätten sich durch den Abfall des Judas Unzufriedenheit und Unglaube im innersten Kreis der Jünger Christi breit gemacht?
Dennoch behandelten sie Judas nicht wie einen verehrten Gefährten, sondern wie einen gewöhnlichen Spitzel und verächtlichen Verräter. Das war nicht nur natürlich, sondern unter den gegebenen Umständen auch die klügste Politik, sowohl um ihre eigene Würde zu retten als auch um den Verräter möglichst sicher in der Hand zu behalten. Und schließlich könnte man sagen, um seine Verdienste zu schmälern, dass Judas wirklich nicht viel für sie tun konnte – er zeigte ihnen nur, wie sie ihn in Abwesenheit der Menge unbemerkt ergreifen konnten, um den möglichen Tumult einer offenen Verhaftung zu vermeiden. So wenig haben sie Christus verstanden! Und Judas musste es schließlich unverhohlen aussprechen – und so sich selbst und den Meister verkaufen: „Was wollt ihr mir geben?“ Es war die buchstäbliche Erfüllung der Prophezeiung, dass sie ihm1 aus dem Tempelschatz jene dreißig Silberstücke (etwa 3 l 15 Pfund) „abwogen“. Und hier sehen wir, dass die Prophezeiungen des Gerichts immer eine schreckliche Wörtlichkeit haben, während die des Segens die Worte der Vorhersage weit übertreffen. Und doch war es sicherlich ebenso eine Verachtung des Verkäufers wie desjenigen, den er verkaufte, dass sie den gesetzlichen Preis für einen Sklaven zahlten. Oder meinten sie eine Art juristische Fiktion, wie die Person Jesu zum legalen Preis eines Sklaven zu kaufen, um sie anschließend der weltlichen Obrigkeit zu übergeben? Solche Fiktionen, um das Gewissen durch eine logische Spitzfindigkeit zu retten, sind nicht so ungewöhnlich – und der Fall der Inquisitoren, die den verurteilten Ketzer an die weltlichen Behörden auslieferten, wird einem wieder in den Sinn kommen. Aber in Wahrheit hätte Judas ihren Mühen nicht entgehen können. Sie hätten ihm zehn oder fünf Silberstücke anbieten können, und er hätte sich trotzdem an seine Abmachung gehalten. Aber nichtsdestoweniger erkennen wir die tiefe symbolische Bedeutung des Ganzen, dass der Herr sozusagen mit dem Tempelgeld bezahlt wurde, das für den Kauf von Opfern bestimmt war, und dass Er, der die Gestalt eines Knechtes annahm,b zum gesetzlichen Preis eines Sklaven verkauft und gekauft wurde.
Und doch muss Satan bei diesem Abendmahl noch einmal in das Herz von Judas eindringen, bevor er die Tat endgültig vollbringen kann. Aber auch so glauben wir, dass es nur vorübergehend war, nicht für immer – denn er war immer noch ein Mensch, wie wir alle diesseits der Ewigkeit sind, und er hatte noch ein Gewissen, das in ihm arbeitete. Mit diesem Element hatte er bei seinem Handel im Palast des Hohenpriesters nicht gerechnet. Am Morgen seiner Verurteilung würde es ihm eine schreckliche Rechnung stellen. Diese Nacht in Gethsemane ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. In der sich verdichtenden und einhüllenden Finsternis ringsum sah er wohl immer nur den Fackelschein, der auf das bleiche Antlitz des göttlichen Leidenden fiel. In der schrecklichen Stille vor dem Sturm muss er immer nur diese Worte gehört haben: ‚Verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?‘ Damals hasste er Jesus nicht – er hasste nichts; er hasste alles. Er war völlig verzweifelt, als der Sturm der Verzweiflung über seine enttäuschte Seele fegte und ihn mit sich riss. Niemand im Himmel oder auf Erden, an den er sich wenden konnte; niemand, weder Engel noch Mensch, der ihm beistand. Nicht einmal die Priester, die ihm den Preis des Blutes bezahlt hatten, wollten etwas von ihm haben, nicht einmal die dreißig Silberlinge, das Blutgeld seines Meisters und seiner eigenen Seele – so wie auch die moderne Synagoge, die zwar die Tat, nicht aber das Geschehene gutheißt, nichts von ihm haben will! Mit ihrem „Sieh zu!“ schickten sie ihn zurück in seine Dunkelheit. Doch das Gewissen ließ sich nicht beruhigen. Und lauter als das Klingen der dreißig Silberlinge, die auf das Marmorpflaster des Tempels fielen, schallte es immer in seiner Seele: „Ich habe unschuldiges Blut verraten! Selbst wenn Judas das besessen hätte, was uns auf Erden am meisten und am längsten anhaftet – die Liebe einer Frau -, hätte sie nicht bei ihm verbleiben können. Sie hätte sich in Wahnsinn verwandelt und wäre geflohen; oder sie wäre verdorrt, getroffen von den Blitzen jener Schreckensnacht.
Tiefer – weiter hinaus in die Nacht! bis an ihre äußersten Grenzen – wo die dunkle Flut des Todes aufsteigt und fällt. Das wilde Heulen des Sturms hat die dunklen Wasser in Raserei versetzt: sie werfen und brechen in wilden Wogen zu seinen Füßen. Ein schmaler Riss im Wolkenvorhang, und im fahlen, todesähnlichen Licht liegt die Gestalt Christi so ruhig und gelassen, unberührt und unversehrt auf den sturmgepeitschten Wassern, wie sie in jener Nacht auf dem See von Galiläa gelegen hatte, als Judas ihn über die wogenden Wogen zu ihnen kommen sah und ihnen dann Frieden gebot. Friede! Was für ein Friede für ihn jetzt – auf Erden oder im Himmel? Es war derselbe Christus, aber dornengekrönt, mit Nagelabdrücken an Händen und Füßen. Und das hatte Judas dem Meister angetan! Nur einen Augenblick lang schien es dort zu liegen, dann wurde es von den dunklen Wassern unter ihm verschluckt. Und wieder wird der Wolkenvorhang zugezogen, nur noch dichter; die Dunkelheit ist dichter und der Sturm wilder als zuvor. Hinaus in diese Finsternis, mit einem wilden Sturz – dort, wo die Gestalt des toten Christus auf dem Wasser gelegen hatte! Und die dunklen Wasser haben sich in ewiger Stille um ihn geschlossen.
Begegnete er in dem grellen Morgengrauen, das am anderen Ufer aufbrach, wo die Flut ihn hinwarf, den forschenden, liebenden Augen Jesu, deren Blick er so gut kannte, als er kam, um für die Taten des Fleisches einzustehen?
Und – kann es einen Vorrat an ewigem Erbarmen für den Verräter Christi geben?

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