Gott in seiner Größe ist barmherziger als unser eigenes Herz

Und hieran werden wir erkennen, daß wir aus der Wahrheit sind, und werden vor ihm unsere Herzen überzeugen, – (O. beschwichtigen, versichern) daß, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles kennt.
Elberfelder 1871 – 1.Johannes 3,19–20

Daran werden wir erkennen, dass die Wahrheit Gottes unser Leben bestimmt. Damit werden wir auch unser Herz vor Gott beruhigen können, wenn es uns anklagt, weil unsere Liebe doch immer Stückwerk bleibt. Denn wir dürfen wissen: Gott ist größer als unser Herz und weiß alles, er kennt unser Bemühen wie unsere Grenzen.
Gute Nachricht Bibel 2018 – 1.Johannes 3:19–20

Denn wann immer unser Gewissen uns anklagt, ´dürfen wir wissen: Gott in seiner Größe ist barmherziger als unser eigenes Herz, und ihm ist nichts verborgen. ´Er, der uns durch und durch kennt, sieht nicht nur unsere Verfehlungen.
Neue Genfer Übersetzung 2013 – 1.Joh 3,20

Menschen, die zur Liebe erweckt sind, leben wahr, in der Wirklichkeit der umgestaltenden Gottesliebe. Die Bruderliebe treibt uns Christen, die Nächstenliebe wird uns selbstverständlich, die Feindesliebe bleibt uns nicht fremd, ja die Liebe durchwaltet unser Denken, Fühlen, Wesen und Tun. Wir sind »aus der Wahrheit«, aus dem, der die Wahrheit ist; wir wurzeln in Gott, der Geist Gottes wohnt in unseren Herzen. Wir haben Heilsgewißheit. Aber Johannes sieht ganz nüchtern: Wäre unsere Heilsgewißheit darauf gegründet, daß und wie wir leben, dann wäre sie aufs Tiefste gefährdet. Gerade wir Christen erleben und kennen das: »Unser Herz verdammt uns« (eigentlich: »es verklagt uns«, klagt uns an, verurteilt uns; wörtlich: »gegen jemand erkennen«). Wir kennen – das wirkt der Heilige Geist, der Sünden auf deckt – unseren oftmaligen Mangel an Liebe, unsere Sünde, unsere geheimsten übelwollenden Gedanken. Das hält uns unser Herz vor. Johannes gebraucht den Begriff »Gewissen« nicht, sondern redet in atl. Tradition vom Herzen als dem Ort, wo wir uns selbst prüfen, das uns unserer Schuld überführt (vgl. Ps 24,4; 34,19; 38,9; 51,12, 19; 73,13; 139,23; Jes 29,13; 35,4; Jer 5,23; 31,33; Hes 11,19; Mt 5,8; 12,35; Hebr 13,9; Offb 2,23). Unser eigenes Herz und Gewissen zeugt unerbittlich gegen uns, und doch »erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind«, denn wir schauen dann nicht auf uns, sondern auf unseren Herrn. So »können wir unser Herz zum Schweigen bringen«, besser: »überreden, zur Ruhe bringen, stillen«, daß wir auf unseren Herrn blicken. Unsere Heilsgewißheit hängt nicht an uns. Sie hängt an Gottes Treue, an der bleibenden Fürsprache und Versöhnung unseres Herrn Jesus Christus (vgl. 2,1f.).
Nicht wir können vor uns selbst unser Herz beruhigen. Das wäre Verdrängung oder Mißachtung der Sünde; wir würden unser Gewissen abtöten, dem Geist Gottes in uns wehren. »Vor ihm«, vor Gott kommt unser Herz, das uns verklagt, wieder zur Ruhe. »Gott ist größer als unser Herz«: Das weist wohl auf seine treuehaltende Gnade gegen uns hin. Wo wir dem verdammenden Herzen recht geben über uns und unsere Sünden in Buße bekennen, da »ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit« (1,9). Darauf schauen, darin werden wir ruhig, daran hängt unsere Heilsgewißheit: »Gott ist größer«. Seine überwältigende Liebe gibt dem bußfertigen Sünder durch Jesus Christus Gnade und Vergebung. Er ist »größer als unser Herz«. Unser Herz kann verklagen, Gott aber kann vergeben.
»Gott erkennt alle Dinge«, das heißt in diesem Zusammenhang: Gott sieht auch hinein in die verborgensten Tiefen unseres Herzens und Wesens. Und trotzdem ist er in seiner Gnade größer. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß er uns verwirft, wenn unser unruhiges Herz uns zu ihm hintreibt. Er nimmt uns wieder auf, wie der Vater den verlorenen Sohn. Allerdings, und das muß deutlichst – gerade im Nachsprechen der Verkündigung des Johannes – gesagt werden: Ein Freibrief zur Sünde ist das nicht. Wer sündigt, kommt in Todesgefahr, da kann nur der Fürsprecher Jesus Christus helfen. Wer sündigt, tritt aus der Wahrheit heraus, vom Herrn der Wahrheit weg. Hier hilft nur schnelle, entschlossene Flucht: mit unserer Sünde hin zum barmherzigen Herrn! Und auch die andere Fluchtbewegung sollte ebenso entschlossen stattfinden: »Fliehe die Sünde« (vgl. 1. Mose 39,13; Joh 10,5; 1. Kor 6,18; 10,14; 1. Tim 6,11; 2. Tim 2,22; 2. Petr 1,4).

Edition C Bibelkommentar

Aber nun merken wir im Fortgang des Satzes, daß der Apostel bei seinen radikalen Sätzen in V. 6 und 9 sehr wohl jene Wirklichkeit unseres Lebens beachtet, die wir zunächst seinen Sätzen entgegenhalten wollten. Johannes behauptete: „Jeder, der in Jesus bleibt, sündigt nicht“, ja, „er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist.“ Weiß Johannes denn nichts von den tatsächlichen Sünden auch der Gläubigen, auch der Gotteskinder? Wir verwiesen sofort auf 1, 7. 9; 2, 2. Nun spricht es Johannes selber aus in einem „Wir“, in welchem er sich mit uns zusammenschließt: „Wenn uns unser Herz verurteilt.“ Das also kommt bei „uns“, bei den Gläubigen, vor, daß unser eigenes Herz uns verklagt und uns unsere Sünden und Lieblosigkeiten vorhält. Was dann? Johannes antwortet: „Wir werden vor ihm unser Herz überzeugen (oder; still machen).“ Achten wir wieder auf den Wortlaut. Das Überzeugen „unseres Herzens“ geschieht nicht einfach in unserer eigenen Innerlichkeit, sondern „vor ihm“, vor Gott. Und es hat auch in einem Wesenszug Gottes seinen Grund. Wir überzeugen unser Herz davon, „daß Gott größer ist als unser Herz und alles erkennt“. Was heißt das nun? Calvin hat diesen Satz als von Gottes Gericht handelnd verstanden. Er meint, der Apostel richte sich hier gegen jeden Versuch eines Selbstvertrauens und einer Heuchelei. Wir versuchen nicht, unser anklagendes Herz zu beschwichtigen, sondern werden im Gegnteil unser Herz davon „überzeugen“, daß Gott in seiner Allwissenheit noch viel klarer unsere Sünden sieht. Bei diesem Verständnis der Stelle darf das grie Wort „peisomen“ gerade nicht mit „still machen“ übersetzt werden. Es ist vielmehr eine sehr ernste und erschreckende Erkenntnis, die wir hier gewinnen, die unser Herz in eine – allerdings heilsame – Unruhe bringt.
Aber kann der Apostel die Hörer seines Briefes, die unter dem Verklagen ihrer Herzen stehen, mit einer solchen Aussage stehen lassen? Müßte er dann nicht im Rückgriff auf 1, 9 sagen: Beschwichtige dein anklagendes Herz und Gewissen nicht selber, Gott kennt doch alles, aber komme und bekenne deine Sünden und suche und finde die Vergebung. Davon steht aber in unserem Text nichts.
Darum hat Luther den Satz 20b genau umgekehrt auf die Größe und Freiheit der vergebenden Gnade bezogen. Es lohnt sich, Luther selbst dazu zu hören.
Wir dürfen dabei an das Wort des Petrus zu Jesus in Jo 21, 17 denken: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich liebhabe.“ Auch hier wendet sich Petrus an die Allwissenheit Jesu, gerade weil er Jesu Gnade sucht. Im Zusammenhang unseres Brieftextes geht es freilich nicht wie bei Petrus unmmittelbar um unsere Liebe zum Herrn. Aber die Aussage des Johannes blickt zurück auf den großen Schritt vom Tode zum Leben, der sich darin dokumentiert, daß wir lieben können. Mag unser Herz uns noch so sehr wegen der ganzen Kümmerlichkeit der Liebe und wegen Lieblosigkeit anklagen, wie Petrus können wir unser Herz doch damit „stillmachen“, daß Gott alle Dinge kennt und diesen entscheidenden Schritt vom Tode zum Leben bei uns sieht, den er selber uns doch zu tun geschenkt hat. Wie Petrus werfen auch wir uns hinein in die Gnade Gottes, die an uns gewirkt hat und uns auch jetzt nicht fallen läßt, wenn das eigene Herz – und der Verkläger in unserm Herzen – uns unsere Sünden vorhält. Wir sind dennoch „aus der Wahrheit“, dennoch von Gott geboren und von ihm nicht verworfen. Bei allen Mängeln und Fehlern dürfen wir ähnlich wie Petrus sagen: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß wir die Brüder lieben und aus der Wahrheit sind.“ Gerade von da aus werden wir den Aussagen in 1, 9 und 2, 1. 2 folgen, unsere Sünden bekennen und uns an unseren Fürsprecher beim Vater klammern.
Auch daran werden wir denken dürfen, daß Gott „alles erkennt“, also auch die angeborenen oder in unserer Lebensgeschichte erworbenen Hemmungen, Entmutigungen und Versuchlichkeiten. Unser Herz kann auch in der Selbstbeurteilung eng und unkundig sein. Gott aber ist „größer“ als dies kleine Herz und kennt uns viel tiefer, als wir uns selbst je kennen können.
Einen falschen und leichtfertigen Trost gegen die Anklagen unseres Herzens könnten wir in dem Satz des Apostels nur dann finden, wenn wir aus ihm nur das Wort „Gott ist größer als unser Herz“ isoliert herausgreifen. Dann meinen wir mit einem flüchtigen Blick in unseren Text daraus zu hören, daß Gott so „großzügig“ ist, daß er unsere Sünden als „Kleinigkeiten“ gern übersieht. Nein, Gott „erkennt alles“, und wir stehen vor ihm als solche, die in hellem Licht leben wollen und die gerade darum auch von ihrem Herzen verklagt werden. Diesem Verklagen weichen wir nicht aus; wir geben ihm recht. Aber dann dürfen wir auf Gottes „Größe“ blicken, wie es Luther vor uns getan hat. Die Liebe Gottes aber, die so groß ist, zeigt ihre „Größe“ darin, daß er den eingeborenen Sohn gab und daß „jener seine Seele für uns eingesetzt hat“. Jeder Leichtsinn ist uns dann unmöglich. Und es wird – so sagte es uns der Zusammenhang des ganzen Textes – den Glauben an diese Liebe Gottes gegen alle Anklagen seines Herzens nur der festhalten können, der selber „die Brüder liebt“ und selber das herzliche Vergeben übt. Oder ist damit die Liebe dem rechtfertigenden Glauben gegenüber zu wichtig genommen? Aber sagt es Paulus, der Apostel der Rechtfertigung durch den Glauben, in 1 Ko 13 und in Gal 5, 6 anders?

Wuppertaler Studienbibel

Jedes ernste Gebet und jeder gesammelte Aufblick zu Gott läßt uns empfinden, daß Gott Licht ist und alle Täuschungen vor ihm zergehen. Dann zeigen und regen sich alle Unaufrichtigkeiten und inwendigen Schäden und belasten unser Gewissen, lassen unser Gebet verstummen und machen uns zum Glauben unfähig. Wenn wir dagegen den Brüdern in redlicher Liebe dienen, so werden wir unser Herz vor Gott beruhigen. In demjenigen Christenstand, zu dem uns Johannes anleitet, gibt es keine stolze Sicherheit. Unser Herz wird oftmals beben und gegen die Freudigkeit des Glaubens Einsprache erheben und es nicht wagen, Gottes Verheißung an sich zu ziehen. Ja, es wird verklagend wider uns reden und unsere vielfältige Schuld uns vorhalten. Auf das, was unser Herz uns vorhält, müssen wir eine deutliche und sichere Antwort haben, damit der Friede bei uns sei und wir mit ungeteiltem Herzen auf Gott blicken und ein Gebet gewinnen, das aus einer gesammelten Seele kommt. Deswegen genießen nicht bloß die anderen, sondern auch wir selbst unmittelbar und reichlich den Lohn und Segen jeder treuen Arbeit in Gottes Dienst. Sie hilft uns glauben, hilft uns über die Einrede und Anklage unseres Herzens hinweg und macht, daß wir uns mit Gewißheit an Gottes Größe halten, der alles erkennt. Unser Herz hat zwar mit seiner Anklage vollständig recht, und wir können seiner Beschuldigung nicht widersprechen. Aber das Urteil unseres Herzens gilt hier nicht, sondern Gottes Urteil. Hier spricht der, der größer ist als unser Herz. Kann unser Herz nicht vergessen, Gott kann vergeben; muß unser Herz die Schuld empfinden, Gott macht uns rein und gerecht; muß unser Herz den Schaden für unheilbar achten und sich vor der Gefahr des Sturzes ernstlich fürchten, vor Gott ist das kein Hindernis. Er kennt alles, weiß, was unsere Sünde ist, weiß aber auch, wie es mit unserer Liebe steht, weiß, daß wir ihm redlich dienen und sein Gebot in unserem Herzen lebt. Aber wie soll es uns ein Trost sein, daß Gott alles weiß, wenn wir nicht aus der Wahrheit sind, sondern bei Täuschungen, leeren Worten und unredlichem Schein unsere Hilfe suchen? Aller lügnerische Trost und falsche Schein zergeht vor Gottes Blick. Wenn wir aber an der Wahrheit hängen und aus ihr erwachsen, dann freilich ist es ein süßer Trost und ein tiefer Friede, daß das ganze Geflecht unseres Lebens ihm völlig bekannt und verständlich ist und sich nichts in uns regt, was er nicht nach seinem Grund und seiner Art durchschaut. Er, der alles weiß und uns vollständig kennt, hat uns Jesus offenbar gemacht und uns sein Wort ins Herz gelegt, das uns von seiner Gnade und Gemeinschaft Zeugnis gibt. Das tut er nicht, weil er uns nicht kennt, sondern weil er uns kennt.

Schlatters Erläuterungen zum Neuen Testament

Aber wie so viele von uns stand Petrus in der Gegenwart des Herrn als einer, der in dieser Frage versagt hatte. Sein Herz verurteilte ihn in dieser Angelegenheit der Liebe zum Herrn. Er war gefallen. Und wer im Volk Gottes hat nicht ebenso bzw. weitaus mehr in der Frage der Hingabe seines Lebens für die Brüder versagt? Die Tatsache, daß durch den Heiligen Geist eine solche Sehnsucht in unserem Herzen hervorgebracht wird und wir sie dann zum Ausdruck bringen, wenn wir auf die Nöte unserer Brüder reagieren, ist die Zusicherung, daß wir aus der Wahrheit sind. Dafür sind wir sehr dankbar, doch wie Petrus versagen wir so oft in diesen Fragen. Das Gewissen des Petrus wurde im Gespräch mit dem Herrn Jesus zweifellos durchforscht. Er wurde traurig, nicht nur, weil der Herr ihn dreimal gefragt hatte, sondern weil Er beim dritten Mal die Fragestellung von „Liebst du mich?“ in „Bist du mein Freund?“ änderte. Sein Herz verurteilte ihn zweifellos, doch er faßte in der Gegenwart des Herrn Zuversicht und sprach: „Du weißt alles“. Johannes sagt: Wenn unser Herz uns verurteilt, ist Gott größer als unser Herz und kennt alles. Es lohnt sich, andere Wiedergaben zur Kenntnis zu nehmen: „Hieran werden wir erkennen, daß wir aus der Wahrheit sind, und werden vor ihm unsere Herzen überzeugen – daß, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles kennt“ (J.N. Darby, Elberf); „Und vor ihm werden wir unser Herz beschwichtigen, wenn unser Herz uns verurteilt; denn Gott ist größer als unser Herz und weiß alles“ (Jerusalemer, beachten wir die Zeichensetzung); „… und werden vor ihm unsre Herzen beruhigen, daß, wenn uns das Herz verurteilt – daß Gott größer ist als unser Herz und alles erkennt“ (Zürcher); „… können unser Herz vor ihm damit stillen, daß, wenn uns unser Herz verdammt, Gott größer ist als unser Herz und erkennt alle Dinge“ (Luther ’56); „… werden vor ihm unsere Herzen überzeugen, daß, wenn in Bezug auf irgend etwas das Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles kennt“ (Lenski).
  Daher werden wir, wenn uns das Herz vor Ihm aufgrund fehlender aufopfernder Liebe verurteilen will, beruhigt und durch die Tatsache zur Ruhe gebracht, daß trotz unserer so begrenzten Selbsterkenntnis Gott größer als unser Herz ist und alles kennt. Petrus brachte das zum Ausdruck und fand vor Ihm die Gewißheit. Der Herr kennt unser Herz und weiß unsere Liebe zu schätzen. Er kennt all die Umstände unseres Versagens. Gleichwohl reinigt uns Sein Blut von aller Sünde (1,7). Seine Fürsprache stellt uns wieder vollkommen her (2,1), und Sein Opfer ist ewig wirksam (2,2). Deshalb überzeugen wir unsere Herzen vor Ihm. Man wird bemerken, daß die Jerusalemer Bibel in diesem Vers den Satz von V.19 weiterführt, indem sie die Wendung „wenn unser Herz uns verurteilt“ an das Wort „beschwichtigen“ bindet. Dabei geht es sozusagen darum, daß wir etwas auf dem Gewissen haben, wodurch wir uns selbst verurteilen, wenn wir z.B. keine Liebe erweisen. Dann gilt: „Gott ist größer als unser Herz und kennt alles“, wobei der Apostel schon gezeigt hat, wie wir durch die Wirksamkeit des Blutes Christi von unserer Sünde gereinigt werden und Gemeinschaft mit Gott genießen können (nach Vine). „Verurteilen“ wird im Sinne von „etwas Nachteiliges wissen“ gebraucht.

Benedikt Peters – Was die Bibel lehrt

Was mich der Heilige Geist (sinngemäß) im Angesicht von Selbstvorwürfen oder Schuldgefühlen lehrt, ist die Frage: Hast du eigentlich gelernt, dich in Schutz zu nehmen? Oder lässt du dich beim kleinsten Anflug innerer Vorwürfe bereits im Stich?
Du musst eine Verteidigung kennen, die ohne Rechtfertigung auskommt, sonst bist du verloren. Rechtfertige dich nicht, denn das verstärkt nur die Macht des Vorwurfs in dir. Lass den Selbstvorwurf zu, und sieh ihn an, atme ruhig weiter. Betrachte ihn als einen Zeugen, der etwas zur Sprache bringen muss. Und dann trete mit ihm vor das Angesicht Gottes, lass den Höchsten ansehen, was dich anklagt. Du wirst einen Schmerz spüren im Angesicht Gottes, wenn er sagt: „Ja, da ist Leid geschehen.“ Dann widersprich nicht, lege es in seine Hand, dass er segnend wirken kann.
Aber du wirst auch das Nein Gottes spüren, wenn ein Vorwurf entmachtet und mit einer sanften Handbewegung von dir gewiesen wird. Weder das Ja noch das Nein sind eine vernichtende Gefahr. Beide geschehen in der ruhigen Liebe des Starken und Wahren, der dich ansieht, ohne dich abzuurteilen.Es ist wesentlich, dass du lernst, vor Gott zu stehen und dich ansehen zu lassen. Denn die Macht des Vorwurfs in dir kann nicht gleichzeitig deine Verteidigung sein. Dein Gewissen ist ein guter Ankläger und ein schlechter Anwalt. Lass Gott die Wahrheit, die Klarheit, die Weisheit, die Liebe für dich sein. Mach die Dinge nicht mit dir selbst aus. Du würdest unterliegen. Du müsstest im Innern laut und zornig gegen die Selbstvorwürfe werden und ihnen dadurch doch nur noch mehr Macht und Last und Rechte geben.
Lebe nicht aus der Selbstverteidigung, sondern aus dem Ansehen Gottes. Du entkommst dem Milieu des inneren Gerichtshofes nicht durch lautstarke, geistreiche oder kunstvolle Verteidigung, sondern durch eine Kapitulation. Kapituliere vor der Liebe, die dich ansieht und über allem spricht: „Ich weiß. Ich weiß doch.“
Und dann lege es Gott in seine Hände, überlass es den Einfällen seines Herzens, aus den Dingen, die geschehen sind, das Beste zu schaffen. Und in diesem ruhig atmenden „Überlassen“ sprich Frieden hinein in all die aufgewühlten konjunktiven Worte („hätte, müsste, wäre, sollte“) und in all die Sackgassenfragen („Warum“). Sprich deinen Frieden hinein, den deine Seele von dir selbst hören muss, um ihn zu glauben. Habe diese Friedensworte griffbereit, wie jenes Wort: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen“ (Röm 8,28) – sogar die Schuld. Denn wie es dort heißt, hat der Himmel einen Ratschluss, wie er die Dinge nun führen kann.
Wenn du deine Vergebung nicht glauben kannst, dann sieh‘ die Hände Christi an. Denn er legt seine rechte Hand auf deine Schulter und seine linke auf dein Haupt, und in dieser Hand ist sein Wundmal, in dem er spricht: „Keine Schuld der Welt kann mich vernichten, auch deine nicht.“ Lass sein Wundmal deine Glaubenshilfe sein. Spüre es. Vergib dir, denn dir ist vergeben. Rechtfertige nichts, sondern nimm die erliebte, erlittene, erlebte Vergebung Christi an.
Du entwertest dich, wenn du glaubst, du müsstest ohne Sünde sein. Dein Wert liegt im „Trotzdem“ der Liebe, die Gott dir ist und die er dich mehr und mehr sein und werden lässt.
So also lerne, dich zu schützen ohne dich zu verteidigen. Um der selbstverwundeten Seele willen muss es eine Verteidigung ohne Rechtfertigung sein. Das ist die Flucht nach vorn, die Flucht in die Arme Gottes, dem du nichts erklären musst. Atme ruhig in seinem Ansehen und entlasse die Zeugen, die Gedanken, die Erinnerungen, die Vorhaltungen und Vorwürfe, die du aufgerufen hast.
Und wenn die Weisheit Gottes dir dabei einen Rat gibt, dann höre darauf, denn das heißt, du kannst etwas tun. Dann tue es. Und deine Seele wird dir danken, dass du sie verschont hast.

Martin Schle

Aufatmen 1/2022