Kategorie: Fragen zur Bibel

Stein des Anstoßes

Euch nun, die ihr glaubet, ist die Kostbarkeit; den Ungehorsamen (O. Ungläubigen) aber: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein (W. Haupt der Ecke; Ps 118,22) geworden“, und „ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses“, (Jes 8,14) die sich, da sie nicht gehorsam sind, an dem Worte stoßen, (O. die sich, da sie dem Worte nicht gehorchen, stoßen) wozu sie auch gesetzt worden sind.
Elberfelder 1871 – 1 Petrus 2,7–8

Für euch, die ihr mit ihm lebt und ihm vertraut, ist dieser Stein superwertvoll. Für die Leute, denen das alles total egal ist, ist dieser Stein wertlos. Ich zitiere mal: „Der Stein, den die Bauarbeiter weggeworfen haben, der wurde zum Grundstein vom ganzen Haus. Alles musste sich nach ihm ausrichten. Er ist ein Stein, über den die Menschen stolpern, sie werden sich über ihn totärgern!“ Sie stolpern über diesen Stein, weil sie nicht so leben, wie Gott es will, weil sie nicht auf das vertrauen, was er sagt. So musste es ja auch kommen.
VolxBibel – 1 Petr 2,7–8

Euch nun, die ihr glaubt, winkt die Ehre, dem Ungläubigen aber „ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Schlußstein geworden“ und zum Steine des Anstoßes und zum Felsen des Ärgernisses. Sie stoßen sich an ihm, weil sie dem Worte nicht gehorchen; dazu sind sie nun allerdings ja auch bestimmt.
Grünwald-Bibel – 1 Petr 2,7–8

ὑμῖν οὐν ἡ τιμή (auf den wertvollen Stein bezogen) euch nun gilt sein Wert od. (als Gegensatz zur Schande) euch nun wird die Ehre zuteil (vgl. B 2b). πιστεύουσιν Ptz. πιστεύω, attr. bzw. subst.; App. zu ὑμῖν (A303) euch, die ihr glaubt. ἀ-πιστοῦσιν Ptz. ἀ-πιστέω ungläubig sein; subst.; dat. commodi (A173). ἀπ-ε-δοκίμασαν Aor. ἀπο-δοκιμάζω V. 4. οἰκο-δομοῦντες Ptz. -δομέω, subst. Bauleute. ἐ-γενήθη Aor. Pass. γίνομαι. εἰς für Präd.-Nominativ (A81). κεφαλή hier übertr. v. Sachen: Oberstes, Äußerstes, Ende, Spitze; κεφαλὴ γωνίας Eckstein (Grundstein an der äußersten vorderen Ecke) (B 2b; EWNT 1, Sp. 646f). γωνία Ecke; Winkel.

Neuer Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament


Deswegen steht in der Schrift: Sieh, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein, und der, der an ihn glaubt, wird nicht beschämt (Jesaja 28,16). Darum habt ihr, die ihr glaubt, die Ehre; für die aber, die ungläubig sind, gilt: Der Stein, den die Bauenden verwarfen, wurde zum Eckstein, und: Er ist ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses (Psalm 118,22; Jesaja 8,14); sie stoßen sich an ihm, weil sie dem Wort nicht gehorchen, und dazu sind sie gesetzt. Wie wir in Gott den Vater und den Richter haben, so tut auch Jesus gleichzeitig das Werk der Gnade und das des Rechts, und beides teilte ihm die Schrift dadurch zu, daß sie ihn mit dem Stein verglich. Denn der Stein trägt den Bau, der auf ihm steht, womit das Heilandsamt Jesu beschrieben ist, daß er aus uns Gottes Gemeinde macht. Er ist aber auch der Stein, an dem man sich stößt und fällt, womit das richterliche Amt Jesu dargestellt ist, durch das er Gottes Recht gegen die vertritt, die Gott verwirft. Auch dies kommt in der Sammlung der Gemeinde zur Offenbarung. Denn sie umfaßt nicht alle, sondern kommt dadurch zustande, daß Jesus die vereint, die an ihn glauben, und sie von denen trennt, die ihn verwerfen. Obwohl Petrus Israel nicht nennt, war doch allen seinen Lesern klar, was für Ereignisse ihn zu diesem Wort bewogen.

Schlatters Erlӓuterungen zum Neuen Testament

Der Beginn dieses Verses steigt für einen Moment aus dem Florilegium der Zitate aus, schafft einen Bezug zwischen den Adressaten und dem Zitat von Jes 28,16 und leitet zugleich zum nächsten Zitat über. Er spricht die Adressaten an als die, die glauben. Sie können einstimmen in das Urteil Gottes über den Gesalbten, denn für Gott ist der „Stein“, den Menschen verworfen haben, „auserwählt wertvoll“ (vgl. 2,4.6), für die Glaubenden ist er dem entsprechend der Inbegriff von Wert (zu „hē timē“ vgl. den absoluten Gebrauch von Gerechtigkeit in 2Kor 5,21 und Beschneidung in Phil 3,3). Das Nomen hē timē lässt sich auch als Subjekt des Satzes deuten: Für euch, die ihr glaubt, gibt es die Ehre. Damit wäre ausdrücklich gesagt, was sich aus dem Gedanken in Vers 6 folgern ließ: Wer sich nicht positiv zum Gesalbten stellt, wird zuschanden, aber für die, die glauben, wird es (am Ende) Ehre geben. Für die anderen aber, die nicht glauben, ist der Gesalbte „der Stein, den die Bauleute verworfen haben“, der Stein, mit dem sie nichts anfangen konnten.
Damit ist der Anschluss für das zweite Zitat geschaffen, das zunächst dem LXX Text von Ps 118,22 folgt.227 Dazu gehört auch der Kontrast: Der Stein, der bautechnisch völlig unbrauchbar schien, ausgerechnet der ist zum „Haupt der Ecke“ geworden. Mit diesem Ausdruck ist entweder ein besonders schöner Stein gemeint, den man darum in die Ecke des Hauses einbaut, damit man ihn von zwei Seiten sehen kann (Mezudat David), oder aber ein großer (und schöner) Stein, der die übrigen Steine des Hauses zu tragen vermag (Kimchi). Der Kontext, in den der 1Petr dieses Zitat stellt, betont vor allem den Kontrast zwischen dem, was die Bauleute von dem Stein dachten (und darauf liegt hier der Ton228), und dem, was Gott daraus gemacht hat.229 In der Parallele zu Vers 6 könnte man aber auch hier die positive Bedeutung des Steins für die Gläubigen anklingen hören (er ist für sie zum Eckstein geworden).

Vahrenhorst – Theologischer Kommentar zum Neuen Testament


Euch nun, die ihr glaubet, ist er köstlich. Zuerst bezeichnet Gott den Herrn Christus als einen auserwählten und köstlichen Stein; nun schließt der Apostel daraus, dass er ein solcher auch für uns sein wird. Denn sicherlich wird hier Christus beschrieben, wie wir in durch die Erfahrung des Glaubens ergreifen, und wie er sich uns durch wahrhaftige Beweise dartut. Darum wollen wir uns diese Folgerung fleißig einprägen: Christus ist vor Gott ein auserwählter Stein, also ist er es auch für die Gläubigen. Denn allein der Glaube enthüllt uns den Wert und die herrliche Bedeutung Christi. Weil aber der Apostel dem Anstoß begegnen will, der uns aus dem Vorhandensein einer so großen Schar von Gottlosen erwächst, fügt er alsbald einen weiteren Satz betreffs der Ungläubigen hinzu: wenn sie Christus verschmähen, können sie ihm doch nicht die Ehre nehmen, welche der Vater ihm verliehen hat. Dafür wird ein Vers aus dem 118. Psalm beigebracht (V. 22): der Stein, den die Bauleute verworfen haben, soll dennoch als Eckstein aufgerichtet werden. Daraus folgt, dass Christus wider den Willen seiner Feinde seinen Ehrenplatz behauptet, welchen der Vater ihm angewiesen hat. Zwei Gedanken sind hier bemerkenswert. Erstlich: Christus musste von denen verworfen werden, welche das Regiment in der Gemeinde Gottes führten. Zum andern: ihre Anstrengungen werden vergeblich sein; denn es muss erfüllt werden, was Gott beschlossen hat, dass Christus als Eckstein das Gebäude tragen soll. Dass aber die Psalmstelle in ihrem wahren und eigentlichen Sinn von Christus verstanden werden muss, bezeugt nicht nur der heilige Geist, sondern auch Christus selbst, der sie so auslegt (Mt. 21, 42). Ohne Zweifel war dieses Verständnis von den Vätern her überliefert. War David zu seiner Zeit der verworfene Stein, so dürfen wir doch als zugestanden annehmen, dass er nur schattenhaft darstellte, was in Christus erfüllt ward. Es konnte die ungefestigten Gläubigen ins Schwanken bringen, dass alle Priester, Älteste und Lehrer, welche allein die Gottesgemeinde darzustellen schienen, Christi Feinde waren. Diesen Anstoß will Petrus beseitigen, indem er darauf hinweist, dass David längst zuvor bezeugt hat, was die Gläubigen jetzt vor Augen sehen. Damit wendet er sich zunächst an die Juden; aber auch heute ist seine Erinnerung nicht minder nützlich. Denn Christi grimmigste Feinde maßen sich die oberste Stellung in der Kirche an und verfolgen mit satanischer Wut sein Evangelium. Der Papst nennt sich seinen Stellvertreter: und doch sehen wir, wie heftig er ihm widerstrebt. Solches Schauspiel kann schlichte und unerfahrene Leute verwirren, weil sie nicht bedenken, dass nur geschieht, was David vorausgesagt hat. Es ist nun ein geläufiges Bild, das bürgerliche oder geistliche Regiment als ein Gebäude darzustellen. Im weiteren Verfolg desselben bezeichnet David diejenigen als Bauleute, welchen das Amt und die Macht der Regierung anvertraut sind, – nicht als ob sie richtig bauten, sondern weil sie den Namen haben und mit rechtmäßiger Gewalt begabt sind. Daraus folgt, dass die Amtsträger keineswegs immer treue und wahre Diener Gottes sind. Es ist also vollkommen lächerlich, wenn der Papst und die Seinen sich die oberste und unzweifelhafte Autorität anmaßen, weil sie die rechtmäßigen Vorsteher der Kirche seien. Ihr Beruf zur Regierung der Gottesgemeinde ist nicht im höherem Grade rechtmäßig, als der Beruf eines Heliogabal (ausschweifender und unwürdiger römischer Kaiser, 218 bis 222 n. Chr.) zur Regierung des Reichs. Aber geben wir ihnen einmal zu, was sie unverschämter Weise beanspruchen, dass sie rechtmäßig berufen seien, so sehen wir doch, was David von den rechtmäßigen Vorstehern der Kirche weissagt: Christus wird von ihnen verworfen. Sie bauen also eher einen Schweinestall als einen Tempel Gottes. Es folgt aber auch das andere Stück: alle Großen mit ihrer stolzen Macht und Würde werden Christus nicht von seinem Platze stoßen.

Calvin

unsere Tage zählen

So lehre uns denn zählen unsere Tage, auf daß wir ein weises Herz erlangen!
Elberfelder 1871 – Psalm 90,12

Lass uns begreifen, welche Zeit wir zum Leben haben –
damit wir klug werden und es vernünftig gestalten. (vernünftig gestalten: Wörtlich »ein Herz von Weisheit erlangen«. Nach dem hebräischen Menschenbild ist das Herz sowohl Sitz des Verstandes als auch des Willens.)
BasisBibel – Ps 90,12

Unsere Tage zu berechnen tue uns recht kund, daß wir darbringen ein Herz der Weisheit. Ps 39,5.
Tafelbibel mit hinzugefügten Sachparallelstellen – Ps 90,12

Das Leben des Menschen ist aufgrund des Zornes Gottes gegen die Sünde vergänglich. Der Psalmist sagte, daß der Mensch durch den Zorn Gottes vergeht, denn er sieht die Sünden der Menschen; auch die sogenannten verborgenen Sünden liegen vor ihm offen. Weil der Mensch ein Sünder ist, verbringt er sein Leben unter dem Zorn Gottes, und sein Leben ist stark beschränkt – auf 70 Jahre (manche Menschen leben ein paar Jahre länger) – und das Leben fliegt eilig dem Tode entgegen wie ein Vogel (vgl. Hi 20,8 ). Keiner kann den mächtigen Zorn Gottes ergründen ( Ps 90,11 ).
Weil das Leben so kurz ist und weil wir es in Sünde im Angesicht des Zornes Gottes verbringen, erbat sich der Psalmist, der Stellvertreter des Volkes Gottes, Weisheit von Gott, auf daß die Menschen ihre Tage zählten (vgl. Ps 39,5 ), d. h. die Menschen einsehen, wie wenige Tage sie nur zu leben haben (vgl. Ps 39,6-7 ). (Der Ausdruck unsere Tage taucht in Ps 90,9-10.12.14 und der Begriff „Tage“ in V. 15 auf.)

Die Bibel erklärt und ausgelegt – Walvoord Bibelkommentar

Siebzehntausendzweihundertsiebenundsechzig – das ist die Anzahl meiner Tage per heute. Eine ganze Menge! Bereits das lässt mich dankbar werden.
Dann fällt mir auf, dass die wenigsten davon wirklich schlimm waren und viele davon sehr schön. ….
Nun wird mir auch klar, warum Luther die erste Hälfte dieses Verses übersetzt hat mit: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen…“ Denn wer seine Tage zählt, wird zur Retrospektive gezwungen (die noch vor uns liegenden Tage können wir schließlich nicht zählen), und da liegt die etwas klischeehafte Vorstellung der Situation auf dem eigenen Sterbebett nah. Aber der Psalm spricht nicht vom Lebensende. Seine Tage zählen kann man in jeder Lebensphase.
Mich macht dieser Vers dankbar und lässt mich meine Prioritäten und Alltagsgestaltung überdenken. Ich hoffe, das ist der Weg zu einem weisen Herzen.

Faszination Bibel 1/2021

Ja, was sind unsere Tage im Vergleich damit? Sie «eilen schneller dahin als ein Läufer …, sie ziehen vorüber wie Rohrschiffe» (Hiob 9,25.26). Darum, wie der Psalmist hinzufügt: «So lehre uns denn zählen unsere Tage, damit wir ein weises Herz erlangen!» (Ps 90,12).
Womit füllst du die kurzen Tage aus, die dir Gott auf dieser Erde gegeben hat? Hast du einen sicheren Führer gefunden auf dem Weg deines Lebens? Wird es von einem Ziel beherrscht, das ihm seinen wahren Wert gibt? «Sättige uns früh mit deiner Güte, so werden wir jubeln und uns freuen in allen unseren Tagen» (Ps 90,14). «Früh», oder «am Morgen» des Lebens den Heiland finden, Ihm den ersten Platz in seinem Leben geben – welche Veränderung, welche Freudenquelle für alle folgenden Tage! Statt diese Jahre der Jugend mit Dingen der Welt zu füllen, statt sich vom Fieber der Studien, der Arbeit und des Vergnügens beherrschen zu lassen, statt mit seinem ganzen Wesen nach einem Glück zu jagen, das trügerisch und unerreichbar ist, – sich von dem sättigen lassen, dessen Güte weder vor dem haltmacht, was wir sind noch vor dem was wir nicht sind.
Wird dem Herrn Jesus am Morgen des Lebens der erste Platz gegeben, so kann dies zu seiner Verherrlichung die Grundlage zu einer fruchtbaren Laufbahn sein.

Halte fest 1962

Du lässt zum Staub zurückkehren den Menschen, und sprichst: Kehrt zurück, ihr Menschenkinder! … So lehre uns denn zählen unsere Tage, auf das s wir ein weises Herz erlangen! (Ps 90,3.12)
Ein Friedhof am Rand des Dorfes. Ein Grab neben dem anderen. Auf jedem ein Name und zwei Daten – der Geburtstag und der Todestag -, die man in Gedanken rasch voneinander abzieht. „Da, sieh mal an! Vierundfünfzig Jahre alt – genau wie ich!“ Zwischen den beiden Jahreszahlen nur ein Strich, ein ganz kleiner Strich. Eines Tages wird wohl – wenn der Herr nicht vorher kommt – mein Name und auch der deine ähnlich in Stein gemeißelt sein, allerdings mit der Besonderheit, dass die erste Jahreszahl mit einer l beginnt und die zweite mit einer 2, denn der kleine Strich überschreitet das Jahrtausend.
Was erzählt dieser kurze Strich, der ein Menschenleben zusammenfasst? Er ist eine Art lineare Biographie, aus der für die folgenden Generationen nichts weiter zu entnehmen ist. MUSS man ihn als ein Minuszeichen deuten, dem er ja ähnlich sieht? Oder könnte man ihn durch ein „plus“ ersetzen – ein nützliches und erfolgreiches Leben zum Wohlgefallen Gottes? Haben wir Ihm gedient? Waren wir ein Segen für die Seinen? Dorkas wurde von den Witwen beweint (Apg 9,39), aber von König Joram heißt es: „Und er ging hin, ohne vermisst zu werden“ (2. Chr 21,20). Möchten wir einmal aus dem Mund des Herrn hören dürfen: „Wohl, du guter und treuer Knecht!“

Hilfe und Nahrung – 2002

Wir neigen im Allgemeinen dazu, unsere Jahre zu zählen. Moses, der diesen ältesten Psalm niederschrieb, legt uns nahe, jedem einzelnen Tag, den wir erleben, Aufmerksamkeit zu schenken. Weshalb? Weil jeder Tag ein kostbares Geschenk von Gott ist, das zu Seiner Verherrlichung benutzt werden sollte. Er sollte an der Art und Weise, wie wir jeden Tag leben, Wohlgefallen finden können. Der heutige Tag ist der erste vom Rest unseres Lebens. Solche Gedanken helfen uns, „ein weises Herz zu erlangen“. Fassen wir Mut! Das Leben ist kurz und manchmal voller Mühen. Aber wie gesegnet, jeden Tag so zu leben, dass die Schönheit des Herrn auf uns und durch uns leuchtet!

Die Lektion, die er uns lehren will, ist, unsere Tage zu zählen. Wir müssen erkennen, wie wenige Tage wir wirklich haben und dass wiederum nicht alle unsere Tage für Gott produktiv sein werden. Wir müssen die Tage zählen, die wir haben, mit einem vollen Verständnis für die Konsequenzen unwürdiger Tage.
Eine interessante Übung, die ich für mich selbst gemacht habe und zu der ich Sie ermutigen möchte, ist, sich auszurechnen, wie lange Sie insgesamt mindestens zu leben haben, etwa siebzig Jahre oder 25.600 Tage. Von dem Tag an, an dem Sie geboren wurden, ist das ungefähr die Anzahl der Tage, die Sie zu leben haben. Egal, wie alt Sie jetzt sind, zählen Sie die Anzahl der Tage, die Ihnen bis zu Ihrem siebzigsten Geburtstag bleiben. Das soll nicht heißen, dass Sie das fortlaufend und täglich tun sollen, nur für ein paar Wochen, und ich denke, es wird Ihr Leben verändern, so wie es meins verändert hat, als ich die kurze Dauer des Lebens und die Natur der Verantwortung erkannt habe. Zählen Sie also die Tage, die Sie noch bis zu Ihrem siebzigsten Geburtstag haben, und ziehen Sie dann jeden Morgen einen Tag ab.
Auch hier gilt: Vielleicht leben Sie weniger als siebzig Jahre, vielleicht leben Sie aber auch mehr als siebzig Jahre. Aber in den Tagen, die Ihnen noch bleiben, ist Ihr Produktivitätsniveau vielleicht nicht immer das gleiche. Machen Sie das, was Ihnen noch bleibt, für die Ewigkeit wertvoll, nicht nur für das Töten der Zeit. Denken Sie daran, dass das Ergebnis von Kadesch Barnea ein achtunddreißigjähriger Zeitvertreib war, bei dem nichts Positives erreicht wurde. Es war jeden Tag dieselbe monotone Sache: morgens aufstehen; etwas Manna essen; darauf warten, dass sich die Wolke oder die Feuersäule bewegt oder nicht bewegt. Wenn die Monotonie unterbrochen wurde, dann meist nur für ein sofortiges Gericht, bei dem viele sterben würden. Daher empfehle ich Ihnen dringend, Ihre Tage nur für ein paar Wochen zu zählen. Auf unbestimmte Zeit weiterzumachen, könnte Sie mit dem etwas morbiden Gedanken zurücklassen: „Oh, ich habe nur noch ein paar tausend Tage zu leben!“ Zählen Sie einfach nur für eine kurze Zeit, wie viele Tage Sie noch zu leben haben. Ziehen Sie jeden Morgen einen Tag ab und machen Sie sich bewusst, wie viel Zeit Sie noch haben, um wirklich produktiv für Gott zu sein. Dann lassen Sie es für die Ewigkeit zählen, denn der Zweck des Zählens unserer Tage ist, wie Mose sagt, dass wir ein Herz der Weisheit bekommen. Das hebräische Wort für Weisheit bedeutet „Fertigkeit im Leben erlangen“. Wir sollen die Fähigkeit erlangen, unser tägliches Leben für Gott in Rechtschaffenheit und gottgefälligen Taten zu leben. Gottgefällige Taten, die mit göttlicher Weisheit getan werden, werden in der Ewigkeit Bestand haben. Mose wollte sicherstellen, dass die neue Generation nicht so viel Zeit vergeudet wie die alte Generation.

Arnold Fruchtenbaum – Psalm 90: Eine Erläuterung

Mit jeder Glaubenshingabe an Gott wächst die Erkenntnis tieferer Verantwortung. Gerade jene Persönlichkeiten in der Schrift und innerhalb der Geschichte, die es wagten, sich in ihrem Urteil und Wirken einseitig auf Gott einzustellen, bekundeten in ihrem Leben und Dienst eine Gewissenhaftigkeit und ein Verantwortungsbewusstsein, das sie weit über ihre Zeitgenossen hinaushob. Die Frucht glaubensvoller Hingabe an Gott war noch immer opferbereiter Dienst am Nächsten.
Welch eine Weihe erhält doch das Leben und welch eine Hingabe bekundet jeder einzelne Dienst, wenn wir jeden Tag als ein neues Geschenk, jede Aufgabe als ein erneutes Vertrauen werten lernen, das uns von Gott entgegengebracht wird. Wie wächst unsere Gewissenhaftigkeit und verinnerlicht sich unsere Hingabe, sobald wir alles tun, als ob es auch unsere letzte Gelegenheit und unsere letzte Tat sei, um Geschautes und Erlebtes aus der Welt des Glaubens in das Suchen und Ringen, in die Leiden und Nöte des Nächsten zu tragen!
Der Psalmist redet hier ja aus dem tiefen Gefühl jener Vergänglichkeit heraus, der auch der Mensch und seine Geschichte unterworfen ist. Dieser Ernst gibt dem Psalm den ergreifenden Inhalt und die Weihe des Gebets. Wie klein ist doch dem Sänger der Mensch in all seinem Tun, sind ihm die Geschlechter in all ihren gigantischen Unternehmungen. „Von einem Aon bis zum andern bist nur Du, o Gott!“ Damit Gottes Ewigkeit jedoch auch in unsere Vergänglichkeit trete und unser Leben Anteil an der Welt Gottes gewinne, betet er: „So lehre mich meine Tage zählen, damit ich ein weises Herz gewinne“ Ja, gibt Gott mit seinem Wort und seinem Wirken unseren Tagen erst einen Inhalt, dann wird auch unsere Zeit ein Stück Ewigkeit. Dann hört das Leben auf, sinnlos zu sein. In den einzelnen Aufgaben atmet alsdann eine an die Ewigkeit gebundene Seele. Aus aller Sehnsucht spricht hinfort die Welt des Glaubens: „Lass deinen Dienern dein Wirken sichtbar werden und deine Herrlichkeit über ihren Kindern!“
Das sind Züge aus der Welt unserer Sehnsucht. Wir atmen diese Welt, weil Gott in unser Leben getreten ist. Sie wäre uns fremd, wenn Gott mit der Offenbarung seiner Herrlichkeit und der Kraft seiner Erlösung uns fremd geblieben wäre. Dann wäre auch uns der Mensch die Welt, in der wir unser Heil und unsere Zukunft suchen würden. Nun ist uns beides Gott: Erlösung und Zukunft! Alles Empfangene von Ihm löst in uns eine Spannung mit dem Gegenwärtigen und eine neue Sehnsucht nach dem Ewigen aus. Das Empfangene ist uns nur Angeld auf Größeres und Vollkommeneres, das Gott auch in unserm kleinen Leben zu offenbaren vermag.

Jakob Kroeker – ER sprach zu mir

Jehovah sieht

Da nannte sie Jehova, der zu ihr redete: Du bist ein Gott, (El) der sich schauen läßt! (O. der mich sieht; W. des Schauens) Denn sie sprach: Habe ich nicht auch hier geschaut, nachdem er sich hat schauen lassen? (W. nach dem Schauen; And üb.: Habe ich auch hier dem nachgeschaut, der mich sieht, oder gesehen hat)
Elberfelder 1871 – Genesis 16,13

Und sie nannte den Namen Jehovas, der mit ihr geredet: Du bist der Gott des Schauens, und sprach: Schau‘ ich hier auch nach dem Schauen?
de Wette Bibel – Gen 16,13

Und sie nannte den Namen Jehovahs, Der mit ihr redete: Du bist der Gott, Der mich siehet; denn sie sprach: Hab ich auch hier gesehen, nach Dem, Der mich gesehen? 2Mo 33,23.
Tafelbibel mit hinzugefügten Sachparallelstellen – 1.Mose 16,13

Und sie nannte den Namen Jehova’s, der zu ihr geredet hatte: Du bist El Roï (d. i. Gott, der mich sah); denn sie sprach: Fürwahr! ich sah den von hinten, der mich gesehen.
van Eß – Gen 16,13

1 Mose 16:13 berichtet von Hagars Reaktion: Sie rief den Namen Jehovas an, der zu ihr sprach. Sie erkannte, dass der Sprecher Gott selbst war und nicht ein gewöhnlicher Engel, und sie sagte: Du bist ein Gott, der sieht. Im Hebräischen heißt es El Roi; wörtlich: „der Gott des Sehens“ oder „der Gott des Schauens“. Das war der Grund: Denn sie sagte: Habe ich auch hier nach dem geschaut, der mich sieht? Richtiger: „Habe ich nach meinem Seher gesehen?“ Eine andere Möglichkeit ist: „Habe ich den Rücken meines Sehers gesehen?“, wie es Mose in 2.Mose 33,23 tat.

Arnold Fruchtenbaum

Genesis 16:13 ‎רְָאִי Substantivform wie חְָלִי, also: das Sehen, das Schauen; „du bist ein Gott des Schauens, dein ist das Schauen, du siehst“. — אחרי ,כי אמרה וגו׳; a רואי ,רואִי kann nichts anderes heißen, als: einer, der mich sieht, es ist Präsenz mit Suff, wie רועִי, einer, der mich weidet. הְַלום heißt nie: hier, sondern: hierher, תקרב הלום (M.3.5 .2.B), מי הביאך הלום usw. wörtlich also (Richter 18, 3): „Habe ich denn auch bis hierher gesehen nach einem, der noch mich sieht?“ Hagar war geflohen, auf der ganzen Flucht hatte sie sich umgeschaut, ob ihr niemand nachfolge. Sie war darauf in die Wüste geflohen, da hielt sie sich sicher, da brauchte sie nicht mehr zu erwarten, dass sie jemand sehen werde, und da — ward ihr zum Bewusstsein gebracht, dass man Menschen, aber nicht Gott entfliehen könne. „Bis hierher habe ich mich nicht mehr umgesehen nach einem, der mich sehen würde, du aber bist ein Gott des Sehens, dein Auge ist überall, dir kann man nicht entgehen“. Der Engel hatte ihr אל שומע, ja, ישמע אל, den „Hörenden“, den „in aller Zukunft, stets hörenden Gott“ als Vermächtnis für ihr Kind gegeben, jenes Gottbewusstsein, welches nicht nur die äußeren Ereignisse, sondern selbst die nur dem Geiste offenbaren Regungen und Empfindungen des Menschengemütes Gott offen legt; dieses, den Menschen selbst in seinem Innern Gottes steter Obhut unterstellende Bewusstsein sollte ihren Sohn und ihre Nachkommen frei machen. Hagar war aber erst ein frei werdender Mensch. Ihr Gemüt hielt den Eindruck am stärksten fest, dass man von Menschen, aber von Gott nicht frei werden könne, dass Gott ein überall und alles Schauender sei. Sie nannte ihn nicht שמע, sondern nach dem Sehen, und zwar nicht א׳ רואִי der mich sieht, sondern א׳ רְָאי, der überhaupt sieht, dem das Sehen absolut zukommt. — הלום rad. הלם: Klopfen, Schlagen, ähnlich פעם: Schritt und פעמון: der Klöpfel in der Glocke, ,ותפעם רוחו נפעמתי, wiederholt „geklopft“, beunruhigt, und הפעם: ein Schritt in der Zeit, ein Mal. הלום nur örtlich: ein einmaliger Hinschritt, bis hierher.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch – Kommentar auf die Genesis

Aber warum ist hier eine Person mit verschiedenen Namen? Wer ist diese Person???

Er wird in den Versen 7, 9, 10 und 11 der Engel des Jehova genannt; dann wird er in Vers 13 Jehova selbst genannt.

muss der heilige Geist sich revidieren?

Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn er wird nicht aus (W. von) sich selbst reden, sondern was irgend er hören wird, wird er reden, und das Kommende wird er euch verkündige
Elberfelder 1871 – Joh 16,13

Wenn aber die Kraft von Gott kommt, sein Geist, der immer die Wahrheit sagt, dann wird er euch wirklich alles erklären, und ihr werdet es auch begreifen können. Der wird nicht seine eigene Meinung sagen, sondern das rüberbringen, was er von mir gehört hat. Auch was in der Zukunft abgehen wird, kann er euch sagen.
VolxBibel – Johannes 16,13

Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, so wird er euch in alle Wahrheit leiten; denn er wird nicht von sich selber reden, sondern was er hören wird, wird er reden, und was da kommen wird, wird er euch ansagen. Joh 16,7; 14,17.24.26; 8,32; 12,49; 1Joh 2,27; 1Kor 2,10.
Tafelbibel mit hinzugefügten Sachparallelstellen – Joh 16,13

Wenn dann der Beistand kommt,
wird er euch helfen,
die ganze Wahrheit zu verstehen.
Denn er ist der Geist* der Wahrheit.
Was er sagt,
stammt nicht von ihm selbst.
Sondern er wird das weitersagen,
was er hört.
Und er wird euch ankündigen,
was dann geschehen wird.
BasisBibel – Johannes 16,13

Er sicherte ihnen ausreichende Hilfe zu. „ ‚Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit‘, wird alles gut sein.“ Der Geist würde es unternehmen, die Apostel zu leiten und Christus zu verherrlichen.
Die Apostel zu leiten:
Damit sie nicht ihren Weg verlieren: „Er wird euch leiten.“ Der Geist ist als unser Leiter gegeben, um uns zu begleiten (s. Röm 8,14).
Damit sie nicht hinter ihrer Bestimmung zurückbleiben würden: Er wird sie „in die ganze Wahrheit leiten“, so wie ein geschickter Kapitän ein Schiff in den Hafen leitet, zu dem es unterwegs ist. In eine Wahrheit geleitet zu werden ist mehr, als sie bloß zu kennen; es heißt, sie gründlich und aus persönlicher Erfahrung zu kennen. Der Ausdruck bezieht sich auf eine schrittweise Offenbarung der Wahrheit, die immer heller leuchtet (s. Spr 4,18). Doch was bedeutet „in die ganze Wahrheit“?
In die ganze Wahrheit in Bezug auf ihren Auftrag, was immer für sie notwendig und nützlich war zu wissen. Der Geist würde sie die Wahrheiten lehren, die sie andere lehren sollten.
In nichts als die Wahrheit. Alles, worin er sie leitet, wird die Wahrheit sein (s. 1.Joh 2,27).
„Der Geist wird nichts als die Wahrheit lehren, ‚denn er wird nicht aus sich selbst reden‘; vielmehr wird er das und nur das reden, ‚was er hören wird‘.“ Wir können uns auf das Zeugnis des Geistes im Wort und durch die Apostel verlassen. Wir können unsere Seelen dem Wort des Geistes anvertrauen. Das Zeugnis des Geistes stimmt immer mit dem Wort Christi überein, „denn er wird nicht aus sich selbst reden“. Das Wort und der Geist eines Menschen widersprechen sich oft, doch das ewige Wort und der ewige Geist tun dies nie.
„Er wird euch alle Wahrheit lehren, denn er wird euch verkündigen, ‚was zukünftig ist‘.“ Der Geist war in den Aposteln ein Geist der Prophetie. Dies brachte dem Gemüt der Apostel eine große Gewissheit und war nützlich für sie in ihrem Leben. Wir sollten nicht über die Tatsache missgünstig sein, dass der Geist uns jetzt in dieser Welt keine Dinge zeigt, die kommen werden; es mag genug sein, dass uns der Geist im Wort die Dinge gezeigt hat, die in einer anderen Welt kommen werden, die für uns von größerer Wichtigkeit sind.

Der Neue Matthew Henry Kommentar

»Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch zur ganzen Wahrheit leiten« (V. 13): Das ist das Versprechen Jesu. Hier sind die Einzelheiten rasch geklärt. »Der Geist der Wahrheit« als Name des Heiligen Geistes ist uns schon aus Joh 14,17; 15,26 bekannt. Dass er »kommen wird«, wissen wir seit Joh 14,15ff.Die Hauptsache aber ist das Verständnis der Worte: »wird er euch zur ganzen Wahrheit leiten«. Brachte Jesus nicht »die ganze Wahrheit«? War er unvollkommen? Aber nach Joh 14,6 ist er doch die »Wahrheit« (dasselbe Wort im Urtext!) in Person! Oder hat er absichtlich eine vorläufige Wahrheit hinterlassen, die durch eine neue Offenbarung abgelöst werden muss? V. 12 könnte man ja so verstehen. Übrigens wurden im Mittelalter von Joachim von Fiore und anderen (sogar später noch Lessing!) drei Zeitalter angenommen: das des Vaters, das des Sohnes und das des Heiligen Geistes, jedesmal mit einer neuen Offenbarung bzw. einem neuen Evangelium.
Aber dann würde sich der Geist von Jesus lösen, mindestens kräftig unterscheiden. Und gegen die Trennung von Sohn und Geist hat Jesus ja soeben in Joh 14,23.26 und Joh 15,26 entschieden Stellung genommen. Dasselbe tut er gleich anschließend in V. 13-15. Also müssen wir die Lösung in einer anderen Richtung suchen. Beachtet man den Zusammenhang, dann ergibt sich folgende Lösung: Die »vielen« Einzelheiten, die Jesus nach V. 12 noch nicht sagen konnte, wird der Geist mitteilen. Die »ganze Wahrheit« ist keine »neue Wahrheit«, sondern eine »entfaltete Wahrheit«, deren Grundzüge von Jesus während seines irdischen Lebens gegeben wurden. Was »jetzt noch« zu schwer ist, sagt später der Geist als Stellvertreter Jesu. Auf diese Weise kann man ausgezeichnet verstehen, was die übrigen Schriften des NT im Verhältnis zu den Evangelien darstellen: Sie sind Entfaltungen dessen, was grundsätzlich bereits in den Evangelien vorliegt. Übrigens ist das »Leiten« eine Verheißung des AT und eine Tätigkeit göttlicher Art (vgl. Ps 25,5; 32,8; 143,10; Jes 63,14). Das betreffende griechische Wort heißt eigentlich »einen Weg führen« oder »anleiten« (vgl. Apg 8,31).
Sehen wir, wie weit wir mit dieser Erklärung kommen: »Denn er (= der Heilige Geist) wird nicht von sich aus reden. Sondern was er hören wird, das wird er reden« (V. 13 Mitte). Sofort springt das Entscheidende ins Auge: »Nicht von sich aus« redet der Heilige Geist! Er gibt nur wieder, was er empfängt: »Was er hören wird, das wird er reden«. Das bedeutet klipp und klar, dass der Heilige Geist keine neue Wahrheit etabliert, sondern nur die Linie Jesu fortsetzt bzw. die Aussagen Jesu entfaltet. Damit hat sich unsere bisherige Auslegung als richtig erwiesen. Schaut man genauer hin, dann drängt sich eine Parallele auf. In Joh 14,10 sagte Jesus über sich selbst: »Die Worte, die ich euch sage, rede ich nicht von mir aus. Sondern der Vater, der in mir bleibt, der tut seine Werke.« Genau so, wie Jesus dort unterstrichen hat, dass er »nicht von sich aus redet, sondern« vom Vater her, so unterstreicht Jesus jetzt in V. 13, dass der Heilige Geist »nicht von sich aus redet, sondern« von ihm (Jesus) her. Wir sehen hier die wunderbare Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Aber wir müssen noch eine weitere Parallele notieren, nämlich Joh 14,26. Dort war die Aufgabe des Heiligen Geistes so bestimmt: »Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.« Er sollte also Jesu Lehre lebendig erhalten, fortsetzen und entfalten. Wir sehen: Das ist genau das, was Jesus auch in Joh 16,13ff.zum Ausdruck bringt.
Unser Ergebnis lautet also: Der Heilige Geist begründet keine neue Lehre, sondern setzt die Lehre Jesu fort und entfaltet sie. Das geschieht praktisch in den apostolischen Schriften des Neuen Testaments, die Jesus gewissermaßen vorausgesehen hat.
Nun erhebt sich aber eine letzte Schwierigkeit. Sie liegt in den Schlussworten von V. 13
»Und wird euch das Kommende verkündigen«. Man könnte auch übersetzen: »das Zukünftige verkündigen« (so u. a. Joh. Schneider, Theod. Zahn, Lutherbibel). Ist das nicht doch etwas Neues, so dass die Prophetie im Neuen Bund über Jesus hinausfahren, eventuell sogar das Jesus noch verborgene Weltende voraussagen kann? Das haben viele selbsternannte »Propheten« für sich in Anspruch genommen. Nun muss man allerdings anerkennen, dass Einzelereignisse tatsächlich in einigen Fällen von Propheten der Urgemeinde vorausgesagt wurden, z. B. die Hungersnot unter Claudius (Apg 11,27ff.; vgl. Apg 21,10ff.). Aber der Ausdruck »das Kommende« bezieht sich nach biblischem und jüdischem Sprachgebrauch in der Regel auf die Endzeit und nicht auf Einzelereignisse (vgl. Jes 44,7; Jer 31,31ff.; Mt 9,15; Mk 10,30; Lk 17,22; 21,6; 18,30; 23,29; Joh 5,28; Apg 3,20; 1 Thess 1,10; 5,2; Heb 8,8; Offb 6,17). So muss man also davon ausgehen, dass in Joh 16,13 die Endzeit gemeint ist. Nun gibt es für die Erklärung zwei Möglichkeiten. Entweder man betrachtet V. 13 c isoliert. Dann kann man die Auffassung vertreten, der Geist würde die Zukunft unabhängig von Jesus »verkündigen«, sozusagen als seine Spezialität. Oder man ordnet V. 13 c in den biblischen Zusammenhang ein, wie wir es taten. Dann ergibt sich: Auch die Verkündigung der Zukunft geschieht in unauflöslichem Zusammenhang mit Jesus. Sie ist nur eine Entfaltung seiner Aussagen. Die Zukunftsverkündigung ist dann ein Beispiel – sogar ein wichtiges Beispiel! – aus dem Gesamtbereich des »Redens« von V. 13. Diesen Weg schlägt unser Kommentar ein. Wir verstehen daher die Zukunftsweissagungen in 1 Kor 15,21ff.; 2 Thess 2,1ff., der Johannesoffenbarung und anderswo im NT als Entfaltungen der Prophetie Jesu, und nicht als etwas ganz Neues.
Wie man sieht: Auf jeden Fall hat Joh 16,13 eine große Bedeutung (vgl. noch 1 Joh 2,27). Von den vielen Konsequenzen, die dieser Vers hat, sei nur noch eine angesprochen: Die Verheißung, dass der Geist uns »zur ganzen Wahrheit leiten« wird, gilt selbstverständlich auch für die Niederschrift der Evangelien, Unter Geistesleitung sind sie entstanden und so vertrauenswürdig, dass Joh 21,24 ausdrücklich bemerkt: »Wir wissen, dass sein Zeugnis (= das des Evangelisten) wahrhaftig ist« (vgl. Joh 19,35).

Edition C

Aber gibt es den heiligen Geist heute nicht mehr? Denn so viele, die behaupten, vom Geist Gottes geleitet zu werden, irren sich – und ihre „Wahrheiten“ von gestern müssen revidiert werden. Und die Bibel behauptet, dass der heilige Geist, der Geist der Wahrheit ist! – also muß jemand, der diesen Geist besitzt und in seinem Auftrag sich äußert, sich NICHT revidieren.

ER fragt nicht aus welchem man stammt

Petrus aber tat den Mund auf und sprach: In Wahrheit begreife ich, daß Gott die Person nicht ansieht, sondern in jeder Nation, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, ist ihm angenehm. (O. annehmlich)
Elberfelder 1871 – Apg 10,34–35

»Wahrhaftig«, begann Petrus, »jetzt wird mir ´erst richtig` klar, dass Gott keine Unterschiede zwischen den Menschen macht! Er fragt nicht danach, zu welchem Volk jemand gehört, sondern nimmt jeden anu, der Ehrfurcht vor ihm hat und tut, was gut und richtig ist.
Neue Genfer Übersetzung 2013 – Apostelgeschichte 10,34–35

Da begann Petrus zu sprechen: »Jetzt erst habe ich wirklich verstanden, dass Gott niemanden wegen seiner Herkunft bevorzugt oder benachteiligt.  Alle Menschen sind ihm willkommen, ganz gleich, aus welchem Volk sie stammen, wenn sie nur Ehrfurcht vor ihm haben und so leben, wie es ihm gefällt.
Hoffnung für Alle – Apg 10,34–36

DA aber Petrus den Mund öffnete, sprach er: «In Wahrheit begreife ich, daß Gott nicht einer ist, der das Angesicht der Person ansieht, -vgl. V. 33; 1 Sam 16,7; Röm 10,12. sondern in allem Volk, der da Ihn fürchtet und Gerechtigkeit tut, ist Ihm angenehm. -Joh 9,31; 10,16; 16,14; Ps 107,20; 147,6; Apg 15,9; Röm 2,13; 3,22.29; 10,12.13; 1 Kor 12,13; Gal 3,28; Eph 2,13.18; 3,6.
Abraham Meister – Apg 10,34–35

ἀν-οίξας Aor. Ptz. -οίγω, temp.; ἀνοίξας δὲ Πέτρος τὸ στόμα (Redewendung, die wohl die Bedeutsamkeit der Worte des Petrus unterstreicht) εἶπεν da tat Petrus den Mund auf und sprach od. Petrus begann zu sprechen. ἐπʼ ἀληθείας der Wirklichkeit gemäß, wahrheitsgetreu (B ἀλήθεια 3), hier etwa wahrhaftig. κατα-λαμβάνομαι Med. -λαμβάνω ergreifen, überwältigen; hier Med. erfassen, begreifen, verstehen (B 2). προσωπο-λήμπτης1 (< πρόσωπον, λαμβάνω [Hebr.] „[jmds.] Gesicht heben“ = Gunst erweisen, [neg.] parteiisch sein) Parteiischer; ὅτι οὐκ ἔστιν προσωπολήμπτης ὁ θεός dass Gott unparteiisch ist (B), dass Gott keine Unterschiede macht (GNB). Apg 10,35 φοβούμενος V. 2; subst. ἐργαζόμενος Ptz. ἐργάζομαι hier (Gerechtigkeit) üben (B 2a); ὁ φοβούμενος αὐτὸν καὶ ἐργαζόμενος δικαιοσύνην der, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt (genereller Sg. [A101/104]) bzw. (freier) die/alle, die in Ehrfurcht vor ihm leben und seinen Willen tun (vgl. GN). δεκτός angenehm, willkommen.

Neuer Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament


Apg 10,34: Petrus aber öffnete den Mund und sagte: In Wahrheit nehme ich wahr, dass Gott nicht nach Gunst handelt

wie er es täte, wenn ihm nur der Jude am Herzen läge, dagegen jeder Heide als verwerflich gälte. {Römer 2,9-11; Galater 2,6; Epheser 6,9}

Apg 10,35: sondern in jedem Volk wird der, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, von ihm angenommen.

Die Gerechtigkeit Gottes tritt Petrus entgegen, wie sie gegen alle dieselbe ist. Er öffnet seine Gnade jedem, der ihn fürchtet und darum so handelt, dass aus seinem Werk Gerechtigkeit entsteht. Diese ist dann das Resultat und die Frucht des Werkes, wenn Gott es annimmt, billigt und lobt. Die Angst ist töricht, damit sei das Vergeben Gottes verdunkelt. Es ist ja von einem Heiden die Rede, dem deshalb, weil er Gott fürchtete, alle seine heidnischen Dinge vergeben sind. Darin offenbart sich die Gerechtigkeit Gottes, dass sie dem, der richtig handelt, seine Sünde und Schuld vergibt. Deshalb gibt dieses Lob der richtigen Tat niemals zu einer Einrede gegen den Glauben Anlass; durchgestrichen wird nur der Glaube, der nicht gehorchen mag und nicht tun will, was vor Gott recht ist; dieses Glauben schonten die Apostel nie, widersprachen ihm vielmehr stets mit aller Schärfe. Darin, dass die Gerechtigkeit Gottes jeden, der ihn fürchtet, aufnimmt, ist uns vielmehr der Antrieb und die Ermächtigung gegeben, mit Glauben zu ihm zu kommen, freilich nicht mit Unaufrichtigkeit und bösem Herzen, vielmehr mit redlichem Willen, dann aber auch in der Gewissheit, dass Gott uns seine Gnade mit ihrem Vergeben und ihrer Hilfe offen hält und uns in die Gnade und das Reich des Christen versetzt. (Die Stelle steht zum Römerbrief in einem ähnlichen Verhältnis wie Jak 2)

Im Blick auf das herrliche Walten der Gerechtigkeit Gottes tritt für Petrus das Evangelium in ein neues Licht. Gott nimmt jeden auf.

Schlatter – Erläuterungen zum Neuen Testament

Heißt das auch, dass es Jehovah nicht interessiert, aus welcher Religion man stammt??

Glaube, Hoffnung, Liebe

Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte (W. größer) aber von diesen ist die Liebe
Elberfelder 1871 – 1 Korinther 13,13

Die Sachen, die immer bleiben werden, sind der Glaube, die Hoffnung und die Liebe. Am fettesten kommt aber die Liebe, sie steht über allem.
VolxBibel – 1.Kor. 13,13

Das Kapitel endet mit Vers 13, in dem Paulus auf den gegenwärtigen Zustand eingeht: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; und die größte unter ihnen ist die Liebe.

Er spricht von drei Dingen, die bleiben werden, im Gegensatz zu denen, die unwirksam gemacht werden oder die von selbst aufhören werden. Selbst nach dem Kommen des Vollkommenen, selbst nachdem die Gaben weggetan sein werden, werden drei Dinge bestehen bleiben. Erstens: Der Glaube wird weiterhin bestehen bleiben. Das ist nicht die Gabe des Glaubens, sondern der Heilsglaube. Zweitens wird die Hoffnung bestehen bleiben, die Hoffnung auf den Teil der Erlösung, der noch nicht vollendet ist. Drittens: Die Liebe wird bleiben. Obwohl alle drei – Glaube, Hoffnung, Liebe – ewig bestehen bleiben, betont Paulus, dass die Liebe die größte der drei ist.

Arnold Fruchtenbaum – Die Gaben des Heiligen Geistes

Wir können von unseren Gedanken nicht sagen, sie seinen unvergänglich, und besitzen keine Erkenntnis, die so bleibt, wie sie jetzt in uns ist; darum besteht unser bleibender Besitz darin, dass wir an Gott glauben, auf ihn hoffen und ihn lieben. Das Vertrauen, das wir auf Gott stellen, wird nicht widerlegt, sondern erfüllt. Es bleibt ewig wahr, dass wir ihm glauben dürfen, dass er unseren Glauben erhört und dem Glaubenden gnädig ist. Die Hoffnung, mit der wir auf seine Gaben warten, wird uns nicht beschämen, sondern kommt an ihr Ziel. Auch mit ihr ist uns etwas völlig Wahres und Unzerstörbares geschenkt; denn wir werden Gott nie anders erleben als so, dass er uns gibt, was die von ihm uns geschenkte Hoffnung bei ihm sucht. Die Liebe, mit der wir uns ihm ergeben, wird nicht vernichtet werden, sondern hat die Liebe Gottes für sich und einigt uns für immer mit ihm. Wenn wir also zwar die Rede und die Erkenntnis, sei es auch in der höchsten Vollendung, besäßen, aber die Liebe entbehrten, so hätten wir nur das Vergängliche und nicht das Bleibende. Und wenn wir zwar Glauben hätten, aber die Liebe nicht, so fehlte uns das, was unter allem, was wir haben, das Größte ist. Dadurch, dass Gott uns die Liebe gibt, ist sein Werk in uns vollendet. Nun hat er uns so zu sich gezogen, dass wir uns selbst ihm ergeben, unser Verlangen und Wirken zu ihm hinwenden und unser Leben für ihn führen. Nun sind wir sein.

Schlatter – Erläuterungen zum Neuen Testament

Haben wir also nichts „Bleibendes“? Paulus bezeugt es nun am Schluß dieses Kapitels noch einmal: es bleibt Wesentliches unseres Christenlebens. „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.“ Vom Erkennen, vom Zungenbeten, vom Weissagen hatte Paulus sagen müssen: es wird abgetan, es hört auf. Vom „Glauben“ und vom „Hoffen“ hatte er das nicht gesagt! Wohl steht es nicht einfach gleichberechtigt neben der Liebe. Die Liebe ist und bleibt „die größte von diesen“ oder „größer als diese“. Aber wir sahen schon in V. 7, wie fest Glaube und Hoffnung mit der Liebe verbunden sind. Darum „fällt“ beides so wenig wie die Liebe selbst. In zweifacher Weise läßt sich das verstehen. Paulus kann einfach meinen: indem das von der Liebe Geglaubte nun in voller Wirklichkeit geschaut und das von ihr Gehoffte in Herrlichkeit erlangt wird, „bleiben“ Glaube und Hoffnung, wenn auch als erfüllte. Und es bedeutet für unser Christenleben sehr viel, wenn wir in diesem Sinne wissen dürfen: mag auch alles andere nur eine vorläufige Bedeutung haben und einmal aufhören, mein Glaube und mein Hoffen aber werden nicht so „abgetan“, sie „bleiben“, und in ihnen habe ich Ewiges wirklich ergriffen. Paulus kann aber auch daran denken, daß mit dem Lieben des „von Angesicht zu Angesicht“ erkannten Gottes immer noch ein „Glauben“, ein gehorchendes Vertrauen, verbunden bleiben wird.
Es wird auch das Geben und Schaffen des ewig reichen Gottes nie aufhören. So wird auch im „Endgültigen“ die Liebe immer wieder zu erwarten und zu „hoffen“ haben, was Gott noch für sie bereit hält. Nie wird Gott sagen, daß er jetzt allen seinen Reichtum erschöpft und nun nichts weiter mehr zu geben habe. So wird die Liebe auf ewig mit „Glauben“ und „Hoffen“ verbunden bleiben. Diese Auffassung wird auch darum die richtigere Auslegung sein, weil Paulus im ganzen Abschnitt stets von den Tätigkeiten als solchen, also vom „Erkennen“ und „Weissagen“, nicht von ihren Resultaten spricht. So wird er auch hier nicht vom Geglaubten und Gehofften sagen, daß es „bleibe“, sondern vom Glauben und Hoffen als unserem Tun, so wie ja auch nicht das von uns Geliebte, sondern das Lieben selbst „bleibt“.
Aber wenn auch das Glauben und Hoffen zusammen mit dem Lieben „bleibt“, so ist doch die Liebe „die größte von diesen“. Schön hat das A. Schlatter begründet: „Das Lieben ist größer als das Glauben, weil es sich zu diesem verhält, wie das Ganze zum Teil, wie die Vollendung zum Anfang, wie die Frucht zur Wurzel. Begründet das Glauben das Empfangen, so erzeugt die Liebe das Geben; ist jenes die Erweckung des Lebens in uns, so ist dieses dessen Betätigung. Durch sie erreicht Gottes Liebe ihr Ziel in uns; mit ihr ist der gute Wille da, der nach dem göttlichen Willen gestaltet ist und ihm zum Werkzeug macht. Durch sie ist das Glauben über die Gefahr emporgehoben, daß es die Wahrheit Gottes bloß wisse, aber nicht tue, die Liebe Gottes begehre und doch nutzlos mache. Sie ist die ungeteilte Aufnahme der göttlichen Gnade; denn so durchdringt sie unser ganzes Wollen“ (A. Schlatter, Der Glaube im NT A , S. 373).
A) Vgl. dazu die Auslegung in der WStb. zur Apostelgeschichte 2,5-13.
Paulus sah die tödliche Gefahr in Korinth. „Liebe haben sie nicht“, das war sein Schmerz im Blick auf viele Gemeindeglieder. Dennoch sagte er kein Wort darüber, wie wir nun lieben lernen und zur Liebe kommen. In seinem Leben stand das mächtig genug vor allen, die es sehen wollten. Der ernste, fromme, saubere, nach dem Gesetz gerechte Saul von Tarsus hätte nicht eine Zeile dieses Kapitels schreiben können. Es war ihm eine fremde Welt. Es werden so auch bis heute alle Moralisten, alle gesetzlich Frommen ratlos und blind vor diesem Kapitel stehen. Aber nun ist es an Paulus als volle Wirklichkeit zu sehen: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe ein Neues ist geworden“ (2 Ko 5,17). Jetzt schreibt Paulus 1 Ko 13, jetzt ist das sein größtes und entscheidendes Wort, jetzt lebt er in dieser Liebe, von der er Zeugnis gibt. Wie ist das gekommen? Es kam in der Begegnung mit Jesus, und zwar gerade mit dem ihm verhaßten und ihn empörenden Jesus am Fluchholz. Als Gott ihm die Augen auftat und ihm seinen Sohn offenbarte (Gal 1,13-16), da sah er in dem zerschlagenen, blutenden, ausgestoßenen, sterbenden Jesus nicht mehr den erwiesenen Gotteslästerer, den zu Recht Verfluchten, da sah er in ihm die Leibe, die alles aushält, alles glaubt, alles hofft, alles duldet. Da brach seine ganze eigene, selbstgerechte, kalte, lieblose Frömmigkeit zusammen. Der ganze bisherige Saul von Tarsus hatte aufgehört zu existieren. In ihm lebte nun Christus, der Sohn Gottes, der ihn geliebt und sich selbst für ihn dargegeben hatte. In der Schwachheit und Torheit Gottes am Kreuz sah er Gottes unbegreifliche Liebe, von der ihn nichts mehr scheiden konnte, der er nun aber gehören und dienen mußte mit jedem Atemzug. Nun wußte er es: „Wenn ich mit den Zungen der Menschen rede und denen der Engel, Liebe aber nicht habe, bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine gellende Zymbel. Und wenn ich Prophetengabe habe und weiß die Geheimnisse alle und alle Erkenntnis und wenn ich allen den Glauben habe, so daß ich Berge versetzte, Liebe aber nicht habe, bin ich nichts. Und wenn ich austeile alle meine Habe und wenn ich ausliefere meinen Leib, daß ich verbrannt werde, Liebe aber nicht habe, so nützt es mir nichts.“

Wuppertaler Studienbibel

Νυνὶ („nun dann“) ist eine stärkere Form von νυν („nun“), das als Zeitangabe dient. Damit gibt Paulus an, was nach dem Wegfallen der teilweisen Dinge wie Weissagen, Sprachenrede und direkt inspiriertem Wissen folgen würde bzw. was im Gegensatz zur Abschaffung ab dann weiter für Christen verbleiben würde. Paulus spricht also von der Zeit, ab der man keine Rätsel oder Spiegelbilder oder stückweise Erkenntnisse mehr nötig hat und wo Glaube, Hoffnung und Liebe alles andere abgelöst haben bzw. allein weiterhin sich fortsetzen. Das Prädikat μένει („es bleibt“ statt „es bleiben“) im Singular sieht die drei Elemente als Einheit, weniger als einzelne Dinge. Diese drei Elemente werden nochmals aufgrund der Wichtigkeit mit τὰ τρία ταῦτα („diese drei“) wiederholt, d.h. andere Dinge als diese drei sind dann nicht mehr vorhanden oder wichtig. Wenn das Vollständige da ist, bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe weiterhin. Dies kann nicht die Wiederkunft Christi sein, auch wenn Parallelen bestehen, denn der Glaube wird zu dem Zeitpunkt des Kommens des Herrn Jesus zum Schauen und die Hoffnung auf ihn hat sich erfüllt und ist somit unnötig. Es geht vielmehr darum, dass ab einem bestimmten Punkt bzw. einer Periode, d.h. wenn das Vollständige da ist, die teilweisen Gnadengaben aufhören werden. Kirchengeschichtlich stellte man in späteren Jahrhunderten fest, dass man nicht mehr wüsste, was Sprachen, Prophetien etc. eigentlich waren (Augustinus), sodass die zur Zeit, als die vollständige Offenbarung im Wort Gottes vorlag, die vorläufigen Dinge, wie Prophetie unnötig waren, da nun alles bekannt ist, etwa aufgrund des Buches der Offenbarung, was Gott prophetisch mitteilen wollte. Auch übernatürliches Wissen ist unnötig geworden, da man alles über Gott in seinem Wort wissen kann. Sprachenrede hat ebenfalls seinen Zweck erfüllt und hörte auf, nachdem das Evangelium in alle Welt ging und das Neue Testament sich auch in anderen Sprachen verbreitete. Das Adjektiv μείζων („größer“) ist ein Komparativ, der aber mit dem Superlativ identisch ist, die Liebe ist größer als die anderen Dinge, sodass es nichts Größeres gibt. Mit τούτων („als diese“) nimmt der Apostel Bezug auf Glaube und Hoffnung. Da der Superlativ bereits nicht mehr sehr gebräuchlich war, scheint μείζων diesen zu ersetzen („die größte“).

Peter Streitenberger

Wenn Paulus abschließend sagt, dass Glaube, Hoffnung und Liebe „bleiben“, meint er damit wahrscheinlich, dass sie auch nach der Vollendung „bleiben“. „Vermutlich kann sich Paulus den Menschen auch in der eschatologischen Vollendung nur als einen solchen vorstellen, der beständig auf Gott angewiesen, für ihn geöffnet und auf ihn hin orientiert bleibt, wobei auch seine Liebe als Partizipation an der Liebe Gottes nicht ohne Glauben und Hoffnung denkbar ist.“ (Schrage III, 318; anders Wolff, 323: „Für Glaube und Hoffnung ist ein ewiger Bestand nach paulinischem Verständnis (vgl. 2Kor 5,6f.; Röm 8,24f.) … kaum anzunehmen. Sie werden freilich nicht etwa als Stückwerk beseitigt werden (vgl. zu diesem Gegensatz auch 2Kor 3,11); vielmehr findet der Glaube seine Erfüllung im Schauen, und die Hoffnung findet ihre Erfüllung in der Teilhabe am Erwarteten. Ein Fortbestand im Eschaton gilt jedoch für die Liebe …“).
Entscheidend aber ist der Vergleich, den Paulus auch hier anstellt. Danach ist „die Liebe … die größte unter ihnen“. Warum? Eine Begründung fehlt. Ist gemeint, dass sie allein nach der Vollendung bleibt? Möglichweise hebt er sie deshalb hervor, weil es in der Liebe um eine Tat geht (Barth, KD IV,2, 830) – und es auch in Korinth um ein liebevolles Verhalten untereinander geht.

Mainka

„der Mensch“

Da kam Jesus nach draußen, wobei er die dornige Krone und das purpurrote Obergewand trug. Und er sagt zu ihnen: „Siehe!, [da ist] der Mensch.“
Leonberger Bibel – Johannes 19,5

Also ging Jesus heraus, und trug die Dornenkrone und den Purpurmantel, und er sprach zu ihnen: Seht, wie ist dieser Mensch zugerichtet!
Piscator-Bibel – Joh 19,5

Jesus nun ging hinaus, die Dornenkrone und das Purpurkleid tragend. Und er spricht zu ihnen: Siehe, der Mensch!
Elberfelder 1871 – Johannes 19,5

Wenn Sie in Oxford das Ashmolean-Museum besuchen, werden Sie viele Schätze und wunderschöne Gegenstände aus weit entfernten Ländern und lange vergangenen Jahrhunderten sehen. Als ich jedoch das letzte Mal dort war, wurde ich auf eine ganz besondere Reihe von Gegenständen aufmerksam. Sie waren nicht besonders schön oder einzigartig, aber sie erzählten eine Geschichte, die ich so nie zuvor wahrgenommen hatte.
Diese Gegenstände waren Statuen. Sie stehen in der Haupthalle des Museums. Es sind Statuen der römischen Kaiser und ihrer Familien. Im Grunde nichts Ungewöhnliches. Sie sind natürlich für Historiker der Antike interessant, aber die meisten Menschen schauen sie sich an und denken vermutlich: „So also hat Tiberius (oder Gaius oder wer auch immer) ausgesehen.“
Mir stach jedoch ins Auge, wo diese Statuen gefunden worden waren, bevor man sie nach Oxford gebracht hatte. Sie stammten aus dem gesamten Römischen Reich – abgesehen von Rom. Der Kaiser und seine Familie lebten schließlich immer in Rom. Dort gab es weniger Bedarf für Statuen (obwohl es natürlich auch dort einige wenige gab). Aber in den Provinzen – in Gallien (heute Frankreich), Griechenland, Kleinasien (heute Türkei), Ägypten und mehreren anderen Orten – stellten sie Statuen auf. Überlebensgroße Bilder des Kaisers und seiner direkten Familie.
Warum?
Sie wollten damit den Menschen vor Ort zeigen, wer ihre Herrscher waren. Die Römer waren nicht die Ersten oder Letzten, die so etwas taten. Sie stellten Bilder auf, Bilder von sich, damit die Menschen vor Ort sie anschauen und sich sagen konnten: Dieser Mann herrscht gerade über uns. Dies ist der Mann, dem wir Gefolgschaft schulden. Dies ist der Mann, der Frieden und Gerechtigkeit in die Welt gebracht hat.
(Und vielleicht fügten sie hinter vorgehaltener Hand hinzu: Dies ist der Mann, dem wir viel zu hohe Steuern bezahlen müssen. Dies ist der Mann, dessen Armee alle unsere kampffähigen Männer ermordet hat! Dies ist der Mann, den wir gerne loswerden würden!)
Die Vorstellung, dass man ein Bild von sich in einem Land aufstellt, das man beherrscht, ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des allerersten Kapitels der Bibel. In 1. Mose 1 erschafft Gott den Himmel und die Erde. Er macht das Meer, das trockene Land, die Pflanzen, die Fische, die Vögel und die Tiere. Dies ist seine Welt. Dies ist die Welt, über die er nun herrscht. Dies ist die Welt, von der er möchte, dass sie auf ihn mit Liebe und Dankbarkeit antwortet.
Also stellt Gott ein Bild in diese neue Welt, eine Statue von sich selbst. Weil Gott jedoch ist, wer er ist, handelt es sich nicht um eine Statue aus Stein oder Holz. Sie ist selber ein lebendiges Wesen, den Tieren ähnlich, aber doch auch ganz anders. Dieses Bild hat einen ganz konkreten Auftrag: Gott kann durch dieses Bild weise und liebevoll über seine neue Welt herrschen und die Schöpfung, die sich der Herrschaft dieses Bildnisses unterordnet, kann ihn, ihren Schöpfer, richtig ehren.
Dieses Bild ist natürlich die Menschheit (1. Mose 1,26–28). Zum Bilde Gottes schuf er sie, und er schuf sie als Mann und Frau. Gott gab ihnen die Anweisung, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren und sich um den Garten und die Tiere zu kümmern. Während der sechs Tage der Schöpfung in 1. Mose wird die Menschheit am sechsten Tag erschaffen. Danach ruhte Gott sich aus, denn das Werk war vollendet.
Die Autoren des Alten Testamentes wussten, dass dieses Bild der Menschheit, die unter seiner Herrschaft die Welt Gottes beherrschen, also Gottes weise Haushalterschaft über die Schöpfung offenbaren und ausüben sollte, ihrem Bild von einem vorbildlichen König recht ähnlich war. Wenn wir Schriften wie Psalm 8 lesen, ist manchmal tatsächlich schwer zu sagen, ob dort über die gesamte Menschheit oder den König oder beide nachgedacht wird. In manchen „Weisheitsschriften“ im Alten Testament und späteren Judentum kommt ebenfalls beides zusammen. Man braucht die Weisheit, um ein wahrhaft menschliches Wesen zu sein; aber es ist der König, der die eigentlich weise Person ist, und Salomo ist dafür das beste Beispiel.
Wir erkannten zu Beginn des Johannesevangeliums, dass der lange und sorgfältig formulierte Prolog, der die Geschichte von Schöpfung und Neuschöpfung erzählt, unser Augenmerk auf Vers 14 lenken soll. In Johannes 1 ist Vers 14 das Gegenstück zu 1. Mose 1,26–28. „Das Wort wurde Fleisch und lebte unter uns.“ Der Eine, der bei Gott war, der Eine, der Gott war, der an der Seite des Vaters war und dessen Charakter und Liebe widerspiegelte, wurde Mensch. Es hätte nichts Treffenderes geschehen können. Es war wie der sechste Tag der Schöpfung, nur noch überhöht.
Wir haben jetzt also die römischen Kaiser und die Schöpfungsgeschichten im Kopf und befinden uns nun an einem Freitagmorgen, am sechsten Tag der Woche. Wir schauen auf den römischen Herrscher und seinen speziellen neuen Gefangenen. Er weist die Soldaten an, ihn wie eine Art König einzukleiden: die Dornenkrone und die Tatsache, dass sie ihn ohrfeigen, sagen uns, was sie von einer solchen Behauptung halten. Dann spricht Pilatus die Worte, die uns bis heute noch nachgehen: „Seht: Hier ist der Mensch!“
Hier ist der Mensch! Hier ist das wahre Abbild des wahren Gottes. Hier ist der Eine, der die Weisheit Gottes in die Welt gebracht hat. Hier ist die lebendige Verkörperung Gottes, der Eine, der den unsichtbaren Gott sichtbar gemacht hat. Hier ist der König. Hier ist die atmende Statue des Herrschers über alles, und sie ist mitten in die Welt des Herrschers hineingestellt, damit die Menschen erkennen können, wer ihr wahrer Herr ist. Doch diese rebellischen Untertanen können nichts anderes tun als ihn verspotten und schlagen und lautstark sein Blut fordern. Er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht, sagen sie!
Nun, die Leser des Johannesevangeliums wissen inzwischen, dass Jesus sich tatsächlich wie der Eine verhalten hat, der rechtmäßig Gott in der Welt widerspiegelt. Dass er den Vater ganz persönlich kennt und dass er seinen Freunden Anteil an dieser Kenntnis gibt, ist entweder ein Bündel von Lügen oder die Wahrheit. Aber – und hier ist das Neue, das in 1. Mose nicht erwähnt wird – auch alle diese Dinge, diese Unterstellungen, diese Anklagen, diese Dornenkrone (die scharfen Kanten der Schöpfung, die das Blut des Herrn der Schöpfung fordern): All dies ist Teil dessen, was es heißt, das Ebenbild Gottes zu sein, das in ein Gebiet gestellt ist, das Gott gehört, aber gegen ihn rebelliert. „Er war in der Welt.“ Wir verstehen nun, was Johannes mit „der Welt“ meint; dieser kurze Satz sagt alles.
Insbesondere wird hier gesagt, dass der lebendige, liebende Gott höchstpersönlich kommt, in der Person seines eigenen Sohnes, um unter uns Rebellen zu leben, in der Welt, die er erschaffen hat und immer noch liebt. Die für ihn angemessene Gestalt ist nicht die des Superhelden, der mit Ross und Reiter durch den rebellischen Staat fegt und die Rebellion in einer Feuersbrunst der Herrlichkeit niederschlägt. Die ihm angemessene Form – die Art von lebendiger Statue, die seinen Untertanen trotz ihrer Boshaftigkeit erzählt, wer er ist – hat Jesus nun angenommen: Der König der Juden, mit Dornen gekrönt. Der unschuldige König, der wahre Mensch, derjenige, der die Wahrheit sagte und der Gotteslästerung angeklagt wurde. „Hier ist der Mensch!“
Diese Worte schweben über dem gesamten Kapitel 19, während Jesus zum Kreuz geht. Hier, so sagt uns Johannes, ist die wahre Widerspiegelung Gottes. Dies ist die eigentliche Bedeutung des Satzes, dass Jesus, das ewige Wort, unser Fleisch annahm. Schaut auf diesen Mann, und ihr erkennt euren lebendigen, liebenden, gebrochenen und blutenden Gott.

Wright – Johannes für heute, Das Evangelium

Menschlichkeit war das, was im Römer edel war und das Raubtier in ihm bändigte. Sogar der Jude war für den Römer noch Mensch; sogar der mit Dornen gekrönte Christus war es. Achtet den Menschen, sagt Pilatus, entehrt ihn nicht noch mehr; er hat genug gelitten und für sein wahnsinniges Königtum eine harte Buße bezahlt, da er die Dornenkrone trägt. Aber an den Juden prallt der Appell an die Menschlichkeit ab. Gott! das ist der Kampfruf, der Pilatus entgegentönt. Gottes Ehre wird verteidigt, Gottes Gesetz gehandhabt. Der, der sich an Gott vergangen hat, muß sterben. Weil wir zwischen unfrommer Menschlichkeit und unmenschlicher Frömmigkeit schwanken, trug Jesus das Kreuz. „Der Mensch!“ Jesus widersprach nicht; er bekennt sich zu uns, sucht uns, verzeiht uns, heilt uns und bringt uns zu Ehren; dies tut er aber als der, der Gott gehorcht und sich uns zum Heil für Gott geheiligt hat.

Schlatters Erläuterungen zum Neuen Testament

Als hierauf Jesus ‚zur Königskarikatur verkleidet‘ (Mey.) herauskam, sprach Pilatus weiter: „Siehe da der Mensch“ (ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος ecce homo). Die Jammergestalt des Gegeißelten solten sie ansehen, um sich zu überzeugen, daß dieser Mensch nicht des Todes schuldig sei. Nicht daran, daß Jesus sich so hatte zurichten und aufputzen lassen, solten sie erkennen, daß er ein ungefährlicher Schwärmer oder unschädlicher Mensch sei, den zu tödten keinen Sinn habe (Lthdt., Weiß). Denn auch ein sehr gefährlicher Schwärmer muß sich, wenn er der Gewalt roher Soldaten preisgegeben ist, solches gefallen lassen. Vielmehr solten sie dies an der still duldenden Ergebung, welche Jesus in dieser schmerzlichen und schmachvollen Behandlung bewahrte, erkennen. Ein Schwärmer oder Verbrecher würde bei solcher Mißhandlung Zorn, Wuth, Troz oder tiefe Niedergeschlagenheit und Verzagtheit zu erkennen geben. Richtig erklärt Hngstb.: ‚Diesen Menschen, der kein Mensch mehr ist (Jes. 53), ein Wurm und kein Mensch (Ps. 22,7) in seinem tiefsten Elend und dabei leuchtend von Unschuld und Gerechtigkeit, still und geduldig in seinem Leiden wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, das verstumt vor seinen Scherern — meinte Pilatus, von sich auf andere schließend — dürfen sie nur anschauen in seiner unschuldsvollen Leidensgestalt und sie werden in sich schlagen und ihren Haß fahren lassen.‘ Aber Pilatus wurde in seiner Erwartung getäuscht. Er kante nicht die Tiefen der menschlichen Bosheit und des religiösen Fanatismus, und solte erfahren, daß es — wie Quesnel (bei Hngstb.) bemerkt — ‚eine schlechte Politik ist, wenn man es unternimt die Welt zu gewinnen, indem man ihr einen Teil desjenigen bewilligt was sie verlangt, und wenn man meint seiner Pflicht zu genügen, indem man ihr das andere verweigert.‘

Keil – Commentar über das Evangelium des Johannes

Pilatus, indem er Christum in der höhnischen Vermummung wieder vorführt, billigt die Mißhandlung, wenn sie auch nicht gerade auf sein Geheiß geschehen war. Was will er damit? Indem er den gegeisselten und verspotteten Mann darstellt, erklärt er zunächst, er halte damit die Sache für abgemacht. Die Juden sollten schließen, daß, wenn er die Anklage für gegründet gehalten hätte, er anders verfahren seyn würde. Aber indem er durch den dargestellten Spott die Anklage der Juden lächerlich macht, verfehlt er seinen Zweck, wie vorher 18, 39. — Nach einer Pause (καὶ λέγει s. 11, 11.) scheint es, ruft er V. 6. (V. 5. ist Parenthese): Ἴδε ὁ ἄνθρωπος, siehe da, der (wehrlose, gemißhandelte) Mensch! Was heißt, was soll dieß? Wird er durch das Geschrey V. 6. unterbrochen, daß er nicht ausreden kann? Oder sagt die Action vollständiger, was er will? Entweder liegt darin, ein solcher ist kein König, kein Aufrührer. In diesem Falle stimmt das kurze Wort mit der Erklärung V. 4. und bestätigt sie. Oder er will damit Mitleiden erregen. Bey dem ungleichen, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit getheilten Betragen des Pilatus ist schwer zu sagen, was er bestimmt meint. Deutlich sieht man nur, er sucht auch auf die Weise Jesum zu befreyen. Ein edler, von der hohen Erscheinung Christi wirklich ergriffener Römer hätte bey der Gewalt, die Pilatus hatte, entschiedener und zweckvoller gehandelt. Der Anblick des Gehaßten und der Spott des Landpflegers reizen die Hohenpriester und Diener von Neuem; sie rufen ein Mahl über das andere: Kreuzige, Kreuzige ihn! Vielleicht schwieg das Volk jetzt, augenblicklich von Mitleiden ergriffen. — V. 4. liest Lachmann καὶ ἐξῆλθεν πάλιν nach ABKL u. a. Auf jeden Fall ist die recepta οὖν unecht. V. 6. haben Griesb. und Lachm. αὐτὸν nach dem zweyten σταυρ, in den Tert aufgenommen. Hier stehen gegen B, der es ausläßt, ADEKMS u. a. Da Pilatus, erzürnt darüber, daß nichts fruchtet, von Neuem erklärt, sie möchten Jesum auf ihre Verantwortung hinrichten, er halte ihn (nach Römischem Gesetz) für unschuldig, so ändern die Juden die erste politische Form der Anklage (βασιλ. τ. Ἰουδ.), und indem sie antworten: Wenn auch Du (nach Römischem Gesetz) kein todeswürdiges Verbrechen an ihm findest, so haben doch wir ein Gesetz, und nach unserem Gesetze (vergl. Levit. 24, 16.) muß er als Gotteslästerer sterben, da er sich zum Sohne Gottes gemacht hat, (der er nicht ist), — geben sie der Klage einen rein national religiösen Charakter. König der Juden und Sohn Gottes war dasselbe. Aber durch den veränderten Ausdruck bringen sie ihre religiöse Autonomie mit ins Spiel. Damit nehmen sie das jus gladii nicht in Anspruch, aber es lag darin eine mittelbare Nöthigung für Pilatus, das Jüdische Auto da fe anzuerkennen. Dieß würde nun auch Pilatus vielleicht ohne Weigerung gethan haben, wenn nicht den heidnischen Mann, der sich der Religion nicht ganz entschlagen konnte, bey dem Namen υἱὸς θεοῦ eine heimliche Furcht ergriffen hätte, daß er vielleicht mit einem Göttersohne zu thun habe. Nach Matth. 27, 19. kam dazu die Warnung seiner Gemahlin, die ein Traum wegen der Sache geängstigt hatte. Wenn diese Warnung wirklich vorherging, so könnte man darauf μᾶλλον ἐφοβήθη V. 8. beziehen. Aber nach Joh., der nichts davon weiß, versteht man dieß richtiger davon, daß Pilatus schon bisher eine gewisse Scheu gezeigt hatte, Jesum zum Tode zu verurtheilen. V. 7. läßt Lachm. ἡμῶν nach νόμον aus, nach BDL Vlg. It. Orig. Hil. Es lag näher, es einzuschalten, als wegzulassen. Τοῦ vor θεοῦ hat schon Griesb. nach den meisten Handschriften getilgt.

Lücke – Commentar über das Evangelium des Johannes

Das Verhör des Statthalters hat zu einem Urteil geführt: nicht schuldig ( 18,35-38 a). Unter normalen Umständen wäre es dabei geblieben.
Joh 19:5 : Die Verkleidung als König – wie in dem Fall des Alexandriners, der in seiner Verkleidung Agrippa I. lächerlich machte (s. die Ausführungen zu 19,2 ) – präsentiert Jesus dem Mob nicht als wahren König, sondern als harmlosen Narren. Der Titel »Mensch« bildet einen ironischen Gegensatz zu dem gegen Jesus erhobenen Vorwurf, »Gottes Sohn« sein zu wollen ( 19,7 ), und ist vielleicht ebenfalls als Verhöhnung gedacht, wie auch der Ausruf »Seht, welch ein Mensch« eine Abwandlung von »Siehe, euer König« (vgl. die Wendung am Anfang des Evangeliums, 1,29 ).

Craig Keener – Kommentar zum Umfeld des Neuen Testaments

Das ist Jesus! Das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt. Das ist „der Herr der Herrlichkeit“, nun blutend, zerschlagen, eneutestamentlichenellt – für uns. Aber gerade hier ist es wahr, dass seine Erniedrigung seine „Erhöhung“, seine „Verherrlichung“ ist. In seiner ganzen Hoheit steht er dort und trägt den Königsmantel und die Königskrone. Und diese Krone aus Dornen wird noch strahlen, wenn alle Kaiserkronen der Welt dahin sind. Vor dem verhöhnten, blutenden König beugen sich in Ewigkeit unsere Knie in reiner und völliger Unterwerfung.
Pilatus weist auf Jesus hin. „Und er sagt zu ihnen: Da ist der Mensch! (wörtlich: Seht, der Mensch.)“ Dieses Wort des Pilatus ist ein Appell an die Menschlichkeit. Das aufreizende Wort vom „König der Juden“ braucht Pilatus jetzt nicht mehr. Es ist nur noch „der Mensch“, der da vor ihnen steht. Totenblaß nach der Geisselung, leidend, zerschlagen. Können sie gegen den „Menschen“ nicht menschlich sein? Sind sie jetzt nicht mit einer Begnadigung einverstanden? Hier wird etwas von dem „Humanismus“ sichtbar, der sich im griechisch-römischen Altertum in Jahrhunderten gebildet hatte und nun |200| willkürlich selbst einen Mann wie Pilatus beeinflußte. Es wird freilich zugleich deutlich, dass dieser „Humanismus“ nicht überschätzt werden darf. Zu einem wirklichen Einsatz für den „Menschen“ bringt es Pilatus nicht!
Das Wort des Römers ist tiefer, als er selbst weiß. „Seht, der Mensch“ – ja, so ist der Mensch in seiner ganzen Wahrheit. Er will ein „König“ sein und ist doch nur der ohnmächtige, leidende, sterbende Mensch. Aber gerade mit diesem „Menschen“ macht Jesus sich solidarisch. So, als „der Mensch“ will er dastehen in der Tiefe des menschlichen Elends. Jetzt wird es bis zum Äußersten wahr, was Johannes uns am Anfang seines Evangeliums grundlegend sagte. „Das Wort wurde Fleisch“ (1,14).
Freilich, es kommt nun alles darauf an, wer dieser „Mensch“ dort ist. Wenn hier nur ein edler, aber schwärmerischer Mann steht, der die Welt nicht richtig eingeschätzt hat und das nun in einem grausamen Ende büßen muss, dann ist das zwar Mitleid erregend, aber es ist dann nur einer der ungezählten Fälle, in denen Unrecht gelitten wird. Ähnliche Schicksale in unsern Tagen ständen uns dann viel näher. Darum gibt es kein „Evangelium“, das nur Passionsgeschichte wäre. Auch Johannes hat uns erst durch siebzehn Kapitel hindurch Jesus in seinem Reden und Tun, in seiner Person und seinem Wesen gezeigt, ehe er nun vor unsern Augen Jesus so „herauskommen“ läßt. Und nun erst unterscheidet sich sein Leiden von allem andern Leiden in der Welt, so sehr es zugleich die Solidarität mit allen Leidenden festhält. Dieser gegeisselte Spottkönig ist der Heilige Gottes, der einzige Sohn, das ewige Wort des Vaters. So behandelt die Welt den heiligen Gott, wenn er als Mensch in unsere Mitte tritt A. Sie tut es gerade dann, wenn sie im Volk Israel zur „frommen“ Welt, zu einem, Volk der Religionen“ geworden ist B.

Wuppertaler Studienbibel

Wir sind zu einer der ergreifendsten Szenen der Leidensgeschichte unseres Herrn gekommen. «Siehe, der Mensch!» Es war ein Mensch, der dort stand, doch nicht einer wie du und ich.
Ströme von Opferblut hatten die Erde genetzt, seitdem die Sünde sie unter den Fluch gebracht hatte, aber die «Abbilder und Schatten» hatten diesen Fluch nicht beseitigt, hatten am Zustand des von Gott abgefallenen Menschen nicht das mindeste ändern und nicht eine einzige Sünde «wegnehmen» können. «Unmöglich» konnte das «Blut von Stieren und Böcken» (Heb 10,1-4) dies, und der Aufrichtige fühlte es: Die Opfer brachten ihm nur immer wieder das, was er getan und was er vor Gott war, in Erinnerung. Kein Weg führte ihn in das von der «Flamme des kreisenden Schwertes» (1 Mose 3,24) verwahrte und dann von der Erde verschwundene Paradies zurück, keine Brücke überbrückte die tiefe Kluft zwischen Gott und Mensch, keine Möglichkeit war da, die verloren gegangene Verbindung wieder anzuknüpfen. Mit anderen Worten: Der Zustand des Menschen war hoffnungslos, nur von aussen konnte Hilfe kommen.
In diesem Zusammenhang finden wir nun das Wort: «Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun» (Heb 10,7), das ist, um das Werk der vollkommenen, ewigen Erlösung zu vollbringen. So wurde Er «in allem den Brüdern gleich» und hat «an Blut und Fleisch teilgenommen» (Heb 2,10ff.); so «machte er sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist» (Phil 2,7), ja, «in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde» (Röm 8,3)!

Halte fest 1968

Es ist nach Joh 18,29 und Joh 18,38 das dritte Mal, dass Pilatus zu den Juden »hinausging«. Er kündigt das Erscheinen des geschlagenen und verhöhnten Jesus an: »Siehe, ich bringe ihn euch heraus.« Aber was soll die Fortsetzung: »damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde?« Die Ausleger sind hier uneins. Nach Bornhäuser z. B. sagt Pilatus: »Ich lasse ihn frei, damit ihr erkennt« usw. Schlatter schreibt: »Ein Christus, der den grimmigen Hohn des soldatischen Antisemitismus wehrlos leidet, ist ungefährlich, also unschuldig.« Nach Schneider will Pilatus die Juden zu einer Änderung ihrer Meinung bringen, indem er ihnen zeigt, »dass Jesus alles andere als eine starke politische, auf den Umsturz der bestehenden Verhältnisse bedachte Persönlichkeit ist«. Oder will Pilatus sagen, dass er trotz der Folter »keine Schuld« feststellen konnte (Apg 22,24 !)? Beachtet man den Zusammenhang, dann liegt folgende Annahme nahe: Pilatus will an dem gegeißelten und verspotteten Jesus demonstrieren, dass man ihn unmöglich anklagen kann, »König der Juden« sein zu wollen. Eine so erbärmliche Gestalt kommt dafür nicht in Frage.

Der nächste Vers (V. 5) hat der ganzen Szene die Bezeichnung »Ecce homo« verschafft. Denn dies ist die lateinische Form des »Sehet, welch ein Mensch!« (Luthertext) und wurde mit der lateinischen Bibel weltbekannt. Schaut man sich diesen Vers genauer an, dann ist man überrascht über die Fülle der Aussagen, aber auch von der Tiefgründigkeit des Evangelisten.

»Da kam Jesus heraus«: Ein Wink des Pilatus, und die Soldaten führen ihn dem Publikum vor. Ein völlig preisgegebener Mensch! muss jeder Zuschauer denken. Er, der die Welt schuf, wirkt wie eine Marionette in der Hand eines zweitklassigen römischen Provinzgouverneurs. »Heraus« muss er auf den Vorplatz vor dem Herodespalast, vermutlich auf eine Art Tribüne. Wir sind sozusagen auf dem Schlossplatz Jerusalems.

Und wie er aussieht! Die größte Knappheit im Bericht des Evangelisten schuf ein unvergesslich einprägsames Bild: »wobei er die Dornenkrone und den purpurfarbenen Mantel trug.« Eine Spottfigur tritt auf die Tribüne. Die Gottheit, die Herrlichkeit, die Jesus beim Vater hatte – Welten sind sie entfernt. Die Disteln hängen auf dem Haupt, der Leib ist blutverkrustet. Der Purpur, den er im Gleichnis benutzte, um die Gottlosigkeit zu zeichnen (Lk 16,19), hängt auf seinem geschundenen Leib. Der Mantel verhüllt gnädig die Striemen, dies aufgerissene, zerschlagene Fleisch seines Körpers. Es ist der Mantel des Soldaten, des irdischen Feldherrn und Königs, der er niemals sein wollte (Joh 6,15). Der Sohn, von dem Gottes Stimme sagte: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe« (Mt 3,17; 17,5), ist jetzt einer, »der zutiefst erniedrigt, geschändet und lächerlich gemacht worden ist« (Joh. Schneider).

Es wäre gefährlich, wenn wir nur die Rolle des Zuschauers spielten, gewissermaßen in die Haut der draußen wartenden Juden schlüpften. Man muss hier ununterbrochen auch die Innenseite wahrnehmen. Diese Innenseite ist in den Hymnen und Liedern der alten Kirche lebendig. Ein Beispiel bildet der altkirchliche Hymnus: »Vor dem die Sterne neigen sich, du kamst ins Fleisch demütiglich, darin zu leiden williglich« (EKG 72, 3). Oder Ernst Christoph Homburgs Zeilen: »Du hast wollen sein geschlagen, … dass ich könnte sicher sein; dass ich möchte trostreich prangen, hast du sonder Trost gehangen« (EKG 65, 5). Wir wissen nicht mehr, was Jesus damals fühlte, als er den Vorplatz betrat. Aber wir kennen seine Perspektive, an die uns jene Lieder erinnern: Für ihn geht jetzt der große Erlösungsplan des Vaters in Erfüllung.

Rätselhaft ist das Wort, mit dem Pilatus auf diesen Jesus hinweist: »Seht, der Mensch!« Zweimal hat er schon betont: »Ich finde keine Schuld an ihm« (Joh 18,38; 19,4). Er hat mit Jesus ein fundamentales Gespräch über Königtum und Wahrheit geführt. Dies alles hat ihn aber nicht daran gehindert, Jesus schlagen und verhöhnen zu lassen. Ein rätselhafter Mensch ist dieser Pilatus selbst. Aber jetzt weist er mit großer Gebärde auf Jesus hin: »Seht, der Mensch!« Schon die Übersetzung der drei griechischen Worte ist ein gewisses Problem. »Seht« oder »siehe« kann man übersetzen, aber auch »da ist«. »Da ist der Mensch« übersetzt W. Bauer. Die Einheitsübersetzung hat: »Seht, da ist der Mensch.« Mit Bengel bleiben wir möglichst nahe am Urtext und übersetzen: »Seht, der Mensch.« Was heißt das? Pilatus will offenbar sagen: Das ist doch kein König, den Rom fürchten müsste! Diese arme Kreatur gefährdet doch niemand! Lassen wir ihn nach seiner empfindlichen Prügelstrafe, die jeden Hochmut ausgetrieben hat, falls er welchen hatte, laufen! »Mensch« hat geradezu einen verächtlichen Unterton. Nein, so will Pilatus unterstreichen, der kommt als politischer Verbrecher nicht in Frage (vgl. V. 5).

Aber nun hat dieses »Seht, der Mensch!« verborgene Dimensionen. Mancher hat schon unbewusst etwas gesagt, was ungeahnte Bedeutung hatte (vgl. Joh 11,51ff.). So sieht also »der Mensch« aus, der »in der Menschen Hände ausgeliefert wird« (Mt 17,22)! Dieser zerschlagene Jesus gleicht erschreckend dem unter die Räuber Gefallenen, den er im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gezeichnet hatte (Lk 10,30). Ist hier nicht symbolhaft anschaulich, wie es uns geht, wenn wir auf die Barmherzigkeit der Leute angewiesen sind? Der Hinweis: »Seht, der Mensch« legt ferner die Struktur unserer Kreatürlichkeit bloß. Wie schwach und zerbrechlich ist doch der Mensch! Von da aus kommt man ganz neu zu dem Staunen, das – wenn auch unter anderen Gesichtspunkten – den Beter des 8. Psalmes bewegte: »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« (Ps 8,5). Und ganz anders herum gefragt: Was gilt »der Mensch« für die Machthaber dieser Welt? Wie rasch sind alle »menschlichen« Gesichtspunkte vergessen, wenn es um die eigene Größe geht! Auch Pilatus entrinnt dem Verächtlichmachen der »Masse Mensch« nicht, von der Napoleon nach Leipzig gesprochen haben soll. Und doch bleibt es dabei: In diesem »Menschen« Antlitz hat Gott Gestalt gewonnen! So sollte der Sohn nach der Fleischwerdung aussehen. So hat ihn die Prophetie Daniels einst an den Thron kommen sehen: »Siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn« (Dan 7,13 im Luthertext). Werden die Anwesenden mitleidig, nachdenklich, umgestimmt?

Edition C