Erbarmen – Mitgefühl

Jehova ist gut gegen alle, und seine Erbarmungen sind über alle seine Werke.
Elberfelder 1871 – Psalm 145,9

Gütig ist der Herr zu allen zusammen,
und seine Mitleidserweise sind auf allen seinen Werken.
Septuaginta Deutsch – Psalm 144,9

Gut ist der Ewige zu allen 
und sein Erbarmen über alle seine Werke.
Neftali-Herz-Tur-Sinai – Psalm 145:9

Der Psalmist lobt Jahwe für seine Liebe und sein Erbarmen. Vers 8 ist in der Form fast identisch mit 103,8; die Bedeutung ist dieselbe.
In Vers 9b wird mit Barmherzigkeit ein Wort übersetzt, das aus der gleichen Wurzel stammt wie das Wort, das in Vers 8a mit barmherzig übersetzt wird. Jahwes Güte und Barmherzigkeit richten sich an alle seine Geschöpfe, ohne jede Unterscheidung oder Diskriminierung.

Bratcher – Ein Übersetzerhandbuch zum Buch der Psalmen

Gott bekennt sich zu allen, die seines Ebenbildes sind. Er schämt sich des Menschen nicht, den er nach seinem Bilde schuf. Und weil er sich seiner nicht schämt, so wird seine Beziehung zum Menschen bestimmt durch seine Huld. Auch dem Irrenden und Verlorenen gegenüber verleugnet er sein Schöpfer- und Vatersein nicht. Er stellt ihn unter seine Langmut und Geduld und wartet, bis er den Verlorenen wieder heimführen kann ins Vaterhaus. Auch in seinem gefallenen Zustand verneint Gott den Menschen als sein Geschöpf und Ebenbild nicht, er verneint nur dessen Knechtschaft und Verlorensein. Und wie kommt er in Huld und Liebe denen entgegen, die ihn zu fürchten beginnen. Spricht die Schrift von Furcht, dann bezeichnet sie mit dem Begriff mehr Ehrfurcht als knechtische Furcht. Der heimkehrende Sohn in den Armen des Vaters fand dessen Herz unendlich viel huldvoller als er es in der Fremde am Trebertrog der Säue hatte ahnen können.
Aber nicht nur der Mensch, alle Werke der Schöpfung stehen dem Psalmisten unter dem Erbarmen des Schöpfers. Gott verleugnet auch sein Schöpfungswerk mit der Fülle seiner Energien und der Mannigfaltigkeit seiner Schönheit nicht. Er bejaht die Schöpfung, indem er sie erhält. Er liebt sie, indem er sie mit hineinzieht in die Erlösung, für die Paulus im Römerbrief die große Erwartung ausspricht, dass einmal auch die Schöpfung in ihrem Sehnen frei werden soll vom Druck der Vergänglichkeit, und zwar durch das Offenbarwerden der Söhne Gottes in ihrer Herrlichkeit (vgl. Röm 8,19 -20). Erlöste werden einmal eine der Vergänglichkeit unterworfene Schöpfung aus ihrem Fall zurückerlösen. Gott als dem König gegenüber kann es mithin nur eine Haltung geben:

Jakob Kroeker – Ausgewaehlte Psalmen

Die Verse 8 bis 11 fahren fort, die Größe Gottes zu preisen, insbesondere Seine Gnade, Barmherzigkeit und Güte. Er erbarmt Sich über das von Ihm Geschaffene und stellt alles für seinen Bestand Notwendige bereit, denn ohne Seine ständige Einwirkung würde das Ganze zugrunde gehen. Die Schöpfung insgesamt existiert und lebt von der göttlichen Freigebigkeit, in der sich auch Gottes Treue widerspiegelt. Seine Güte gilt allen, „seine Erbarmungen sind über alle seine Werke“, darum loben Ihn alle Seine Werke (Verse 9 und 10; Ps 69,35; 103,22; 113,2–4; 146,6–9; 147,8f; 148). Das göttliche Wirken in Güte ist ein ständiges Zeugnis von der Liebe Gottes, es offenbart einen herrlichen Zug Seines Wesens. Er empfindet Mitleid mit den Schwachen, Kranken und Notleidenden, mit den Verirrten und den Geringgeachteten. Für den schuldig Gewordenen hält Er einen Weg des Heils bereit, wenn dieser seine Schuld Ihm gegenüber bekennt. Geordnete Verhältnisse, die verfallen sind oder zerstört wurden, stellt Er durch hilfreiche Maßnahmen wieder her. Gott gibt Mittel und Kräfte zur Heilung von Krankheiten und zum Schließen von Wunden. Nichts entgeht Seiner Aufmerksamkeit, nirgends bleibt Er teilnahmslos. Er nimmt Sich gleichermaßen der Angesehenen und der Geringen an. Er wendet sich den Kleinen wie den Großen zu. „Die Erde ist voll der Güte des HERRN“ (Ps 33,5; 119,64). Das tägliche Geschehen in der ganzen Schöpfung ist eine ständige Darstellung der Güte Gottes und zugleich eine Offenbarung Seiner Macht (Vers 11). Der Glaube verhilft dem Gottesfürchtigen dazu, die rechte Einsicht bezüglich dieser wunderbaren Vorgänge zu gewinnen und Gott, den Schöpfer, dafür zu rühmen (Vers 10; Heb 11,3). Der Gläubige erkennt unter anderem in den Abläufen innerhalb der Schöpfung die weise und gnädige Herrschaft des allein guten Gottes.

Karl Mebus – Die Psalmen – Eine Auslegung für die Praxis

רֶ֫חֶם u. (Ri 5 30) רַ֫חַם (v. רחם I; ar. رَحِم Mutterleib, j.-a. רַחֲמָא Mutterleib, pl. Erbarmen, syr. ܖܱ̈ܚܡܷܐ, ass. rêmu Mutterleib, Erbarmen; z. F. Barth § 112 not., Kön. 2 34, Brockelm., VGr 1 337, vgl. Nöld., ZDMG 40 151 f.; Wellh., NGGW 1893, 475) i. p. רָ֑חֶם u. (Gn 49 25. Jes 46 3. Ez 20 26. Pr 30 16) רָ֑חַם, cstr. רֶחֶם, m. suff. רַחְמָהּ Jer 20 17 (a. LA: רַחְמָה n. Ges. § 91e), pl. רַֽחֲמִים (Ges. § 931, Kön. 2 34), cstr. רַחֲמֵי, m. suff. רַֽחֲמֶיךָ, רַחֲמָיו, רַחֲמָו 2 S 24 14, m. (üb. Jer 20 17 s. ZAW 16 81) — 1. Mutterleib Gn 49 25. Hos 9 14. Hi 31 15, bildl. v. d. Morgenröte Ps 110 3; מֵרֶחֶם v. Mutterleibe an Jer 1 5. 20 17. Ps 22 11. 58 4. Hi 3 11, vgl. Jes 46 3; יצא מֵרֶחֶם Nu 12 12. Jer 20 18. Hi 38 8, vgl. 10 18; m. סגר 1 S 1 5 f., vgl. Gn 20 18. Pr 30 16 (Bick. str. עצר); m. פתח Gn 29 31. 30 22; m. פטר Ex 13 2. 12. 15. 34 19. Nu 3 12. 8 16. 18 15. Ez 20 26. Unklar Hi 24 20 (Beer, Duhm: רְחֹב; vgl. auch Hontheim, ZKT 26 599). — 2. kriegsgefangene Sklavin (vgl. σωμα, Boeckh, CIG 1699 u. viell. רחמת, M.-I. 17, u. ass. rûmtu, rîmtu Tochter, Mädchen) Ri 5 30 (wenn nicht רַחְמָה z. l., s. d.; vgl. aber auch Rothstein, ZDMG 57 349 ff.). — 3. pl. Eingeweide, bes. als Sitz des zarten Mitgefühls (Brockelm., VGr 2 60): אַכְזָרִי רַחֲמֵי רְשָׁעִים der Gottlosen Inneres ist grausam Pr 12 10; m. נִכְמַר Gn 43 30 (m. אֶל), 1 K 3 26 (m. עַל v. d. Liebe z. d. nächsten Verwandten); שִׁחֵת רַחֲמָיו Am 1 11 sein Verwandtschaftsgefühl (and.: Erbarmen) ersticken (Krochm.: רְחוּמָיו seine Verwandten); נתן פּ׳ לְרַחֲמִים לִפְנֵי (vgl. שים פ׳ לרחמן קדם, APO 1 2) jem. Erbarmen, Mitleid finden lassen bei 1 K 8 50. Ps 106 46. Dn 1 9. Neh 1 11, vgl.: euere Brüder לְרַחֲמִים לִפְנֵי werden Erbarmen finden bei 2 Ch 30 9; נתן רַחֲמִים לִפ׳ לִפְנֵי jem. Erbarmen finden lassen bei Gn 43 14, ohne לִפְנֵי Jer 42 12. Bes. v. Gottes Erbarmen Jes 63 15. Sach 1 16. Ps 79 8. 119 77. 145 9. Dn 9 9. Neh 9 28. (Sir 16 11 f.), ר׳ רַבִּים 2 S 24 14. Ps 119 156. Dn 9 18. Neh 9 19. 27. 31. 1 Ch 21 13, ר׳ גְּדֹלִים Jes 54 7, neben חֶסֶד Jes 63 7. Jer 16 5. Hos 2 21. Sach 7 9. Ps 25 6. 51 3. 69 17. 103 4. Thr 3 22, נתן ר׳ לְ Dt 13 18, שׂום ר׳ לְ Jes 47 6 jem. Erbarmen erweisen, m. כלא Ps 40 12, קפץ 77 10. (Sir 3 18 מצא ר׳).†

Gesenius – Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament

רחם rḥm pi. sich erbarmen

1. Sowohl *raḥm- »Mutterschoß, Eingeweide« als auch die Ableitungen, die das in diesem Körperteil lokalisierte Sich-Erbarmen bezeichnen (Dhorme 134f.), sind gemeinsemitisch (Bergstr. Einf. 188; P. Fronzaroli, AANLR VIII/20, 1964, 257.272.279; G. Schmuttermayr, Bibl 51, 1970, 499–532; akk. rēmu/rêmu, AHw 970f.; äth. transponiert mḥr, Dillmann 157f.); das Subst. als pars pro toto-Bezeichnung für »Mädchen« findet sich im Ug. (WUS Nr. 2502; UT Nr. 2321; A. van Selms, Marriage and Family Life in Ugaritic Literature, 1954, 110f.), Hebr. (Ri 5, 30 von kriegserbeuteten Frauen) und Moab. (KAI Nr. 181, Z. 17). Die allgemeine Bedeutung des Verbums ist die einer sich zumeist vom Höheren zum Niederen erstreckenden Liebe (»sich erbarmen«); namentlich im Aram. wird die Bed. zu »lieben« überhaupt erweitert (DISO 277f.; LS 723f.). Als Element in Personennamen begegnet die Wurzel im Akk. (Stamm, AN 167f. 190.291ff.), Amorit. (Huffmon 261) und Hebr. (Noth, IP 187.199).
Im AT kommen vor: das Subst. rǽḥæm »Mutterschoß« (zu Jer 20, 17 vgl. Rudolph, HAT 12, 132) neben ráḥam »Mädchen« (s. o.; Dual raḥamātájim), der Abstraktplural raḥamīm »Erbarmen« (bibl.-aram. raḥamīn, Dan 2, 18; vgl. BLA 305), die Adj. raḥūm »barmherzig« (BL 480) und aramaisierend raḥamānī »barmherzig« (BL 501; Wagner Nr. 283), das Verbum im Qal (nur Ps 18, 2 txt? in der Bed. »[Gott] lieben«, →’hb III/1; IV/3; vielleicht Aramaismus, anders Schmuttermayr, a.a.O.), Pi. und Pu.

In Personennamen ist die Wurzel eher selten: Ráḥam 1Chr 2, 44 (nach Noth, IP 187, Kurzname; nach Nöldeke, BS 86,= rāḥām »Geier« mit ursprünglichem ḫ), Reḥūm Esr 2, 2 u.ö. (Noth, IP 38.187: Kurzname) und Jeraḥme’ēl Jer 36, 26 u.ö. (unsicher ist Jerōḥām 1Sam 1, 1 u.ö.; Noth, IP 226: »weich, zart«).

In Am 1, 11 »weil (Edom) sein Erbarmen vernichtet hat« wird raḥamīm neuerdings als Terminus des Vertragswesens gedeutet (vgl. M. Fishbane, JBL 89, 1970, 313–318; R. B. Coote, JBL 90, 1971, 206–208)

c) rḥm pi. »sich erbarmen« wird an den verhältnismäßig wenigen Stellen mit menschlichem Subjekt entweder von einer Mutter (Jes 49, 15), von einem Vater (Ps 103, 13) oder von Feinden (1Kön 8, 50; Jes 13, 18; Jer 6, 23; 21, 7; 42, 12; 50, 42) ausgesagt. Das starke Zurücktreten der femininen Subjekte ist eher zufällig und nötigt in Jes 49, 15 weder zur Textänderung noch zur Annahme eines von rǽḥæm denominierten Verbums (M. Dahood, Bibl 44, 1963, 204f.: *meraḥēm »Gebärerin«). Die Aussage hier ist von Klgl 4, 10 her zu verstehen, wo raḥamānī eher »mütterlich empfindend« als »weichherzig« bedeutet. Aufhören der in naturhafter Verbundenheit wurzelnden Mutterliebe ist das schlechthin Unnatürliche. Jes 49, 15 zeigt, wie Jahwes Liebe alles menschlich Vergleichbare transzendiert.
Bei maskulinem Subjekt ist zunächst an die Liebe des Vaters gedacht (Ps 103, 13 im Vergleich mit der göttlichen Liebe). Damit ist das in dieser Liebe liegende Willensmoment stark betont, so besonders bei dem mit rḥm pu. gebildeten Symbolnamen Lō-Ruḥāmā »Ohne-Erbarmen« (Hos 1, 6.8; 2, 25) bzw. Ruḥāmā (Hos 2, 3; vgl. rḥm pi. Hos 1, 6.7; 2, 6.25). Es handelt sich dabei nicht um eine im Emotionalen wurzelnde väterliche Zärtlichkeit, sondern um eine willentliche Anerkennung (bzw. Ablehnung) der Vaterschaft mit den sich gegenüber dem Kind daraus ergebenden Pflichten der Lebenssicherung und des Schutzes. Die im Begriff liegende Differenziertheit erklärt sich vielleicht noch aus frühen im magischen Bereich wurzelnden Vorstellungen von einem über das physische Leben hinausgehenden »wahren Leben« (Aufnahme in die Gemeinschaft; vgl. C. H. Ratschow, Magie und Religion, 1947, 32f.). Sie könnten noch den Hintergrund für die verschiedenen die Geburt symbolisierenden Adoptionsriten (z.B. Gen 30, 3; 48, 12; 50, 23; vgl. A. Musil, Arabia Petraea, III, 1908, 214) bilden (vgl. Stoebe, a.a.O. 246).
Unmittelbar gehört hierher auch die Zusammenstellung von rḥm pi./pu. mit jātōm »Waise« in Hos 14, 4 (Zusatz), Jes 9, 16 (hier Waisen vor Witwen genannt, sonst meist umgekehrt; vgl. Ps 68, 6 »Vater der Waisen«) und Jer 31, 20. Weniger profiliert sind natürlich die Aussagen, wo das Subjekt zu rḥm pi. ein feindlicher Eroberer ist (positiv 1Kön 8, 50 und Jer 42, 12 mit vorangehendem ntn + [le]raḥamīm; negiert Jes 13, 18; Jer 6, 23; 21, 7; 50, 42). Indessen schwingt auch hier der Gedanke an Lebenserhaltung, Lebensermöglichung immer noch mit.
rḥm ist im AT immer vom Höheren gegenüber dem Niedrigeren, niemals vom Menschen gegenüber Gott gebraucht. Ps 18, 2 ist rḥm q., wenn nicht überhaupt zu ändern (vgl. Kraus, BK XV, 138.142), als Aramaismus zu erklären (vgl. Jenni, HP 222f.; anders Schmuttermayr, a.a.O.).
d) Sinnverwandte Verben, die neben und parallel zu rḥm pi. gebraucht werden, sind vor allem →ḥnn q. »jemandem gnädig sein« (Ex 33, 19; 2Kön 13, 23; Jes 27, 11; 30, 18; Ps 102, 14; vgl. Ps 116, 5 ḥannūn »gnädig« par. meraḥēm »barmherzig« und s.u. 4 zu raḥūm), ḥml q. »Mitleid empfinden, schonen, sparen« (Jer 13, 14; 21, 7) und ḥūs q. »betrübt sein, sich erbarmen, schonen« (Jes 13, 18; Jer 13, 14; 21, 7), ferner →šūb q./hi. šebūt »das Geschick wenden« (Dtn 30, 3; Jer 30, 18; 33, 26; Ez 39, 25), nḥm pi. »trösten« (Jes 49, 13), jš‘ hi. »helfen« (Hos 1, 7) u.a.; für śmḥ »sich freuen« in Jes 9, 16 wird nach arab. samuḥa »gütig, großmütig sein« ein ursprüngliches Verbum *šmḥ »schonen« vermutet (KBL 986a; Wildberger, BK X, 203.206).
Gegenüber rḥm pi. betont ḥml q. stärker das Moment des Verschonens (»Bedauern, Mitleid empfinden, schonen [wollen], sparen [wollen]«; im AT 40×, davon 7× in Ez, 5× in Jer, je 4× in 1Sam, Hi und Klgl; mit Subj. Gott 17×, davon 13× negiert; zur Etymologie vgl. HAL 315a, anders L. Kopf, VT 8, 1958, 172; substantivische Ableitungen sind ḥæmlā [Gen 19, 16; Jes 63, 9] und ḥumlā [Ez 16, 5] »Mitleid«; zum PN Ḥāmūl s. Noth, IP 181). Während rḥm pi. transitiv ist (»jemanden sein Erbarmen spüren lassen«), wird die mit ḥml ausgedrückte Empfindung mit Präpositionen auf ihr Ziel gerichtet oder dann absolut ausgesagt (vgl. Jenni, HP 223). Die Folge des Bedauerns ist nicht wie bei rḥm pi., daß jemand in lebenssichernde Verhältnisse (wieder) eingesetzt wird, sondern daß er vor einem drohenden Schicksal oder einer beschlossenen Strafe verschont bleibt. Ein solches Bedauern kann schließlich allgemein als Mitleid, Erbarmen verstanden werden (vgl. etwa Jer 15, 5; Jo 2, 18; Mal 3, 17); die Grenzen verwischen sich namentlich in jüngeren Texten (Ez 16, 5 nähert sich ḥumlā sehr stark dem Sinn von rḥm pi. an, ebenso ḥæmlā Jes 63, 9). Zu maḥmāl in Ez 24, 21 vgl. Zimmerli, BK XIII, 569; →nǽfæš III/3b.
Bedeutungsmäßig noch etwas weiter von rḥm pi. entfernt ist das häufig mit ḥml q. parallele Verbum ḥūs q. »bekümmert sein« (Etymologie unsicher, vgl. die Lit. bei HAL 286a; H. Cazelles, GLECS 12/13, 1967–69, 132–134; im AT 24×, davon 9× in Ez, 5× in Dtn; nur 6× positiv verwendet). In zwei Drittel der Fälle ist ‘ájin »Auge« Subjekt; die Wendungen ohne ‘ájin sind gleichbedeutend (vgl. L. Köhler, OLZ 32, 1929, 617f.; anders D. Künstlinger, OLZ 33, 1930, 969f.). Gemeint ist eine Emotion, die nicht notwendig zu konkreten Maßnahmen führt (»bekümmert sein, sich Gedanken machen über« oder, da Gedankenlosigkeit oft als Grausamkeit verstanden werden muß, »mitleidig blikken, Mitleid empfinden«). In der dreigliedrigen Formel Jer 13, 14 und 21, 7 mit ḥml q., ḥūs q. und rḥm pi. steht letzteres Verbum sachlich richtig am Ende, während die ersten beiden vertauscht werden können.

In einem ähnlichen semantischen Bereich bewegt sich das Hapaxlegomenon ‘gm q. »betrübt sein wegen« = »Mitgefühl haben mit« (Hi 30, 25; vgl. J. Scharbert, Der Schmerz im AT, 1955, 60).
Als deutlicher Gegenbegriff zu rḥm pi. ist das Adj. ’akzārī »grausam« zu erwähnen (Jer 6, 23; 50, 42; im AT 4× ’akzār und 8× ’akzārī; daneben ’akzerijjūt »Grausamkeit« Spr 27, 4).

4 a) In verschiedenen Wendungen mit rǽḥæm wird Jahwe als der Herr des Lebens bekannt. Er verschließt und öffnet den Mutterleib (Gen 20, 18; 29, 31; 30, 22; 1Sam 1, 5.6; vgl. Hos 9, 14; Spr 30, 16), er bereitet die Frucht darin (Gen 49, 25) und läßt sie daraus hervorgehen (Hi 10, 18). Auflehnung gegen Jahwe kann sich daher als Vorwurf gegen den Mutterschoß äußern (Jer 20, 17.18; Hi 3, 11 »Warum starb ich nicht bei meiner Geburt, verschied nicht, als ich aus dem Mutterschoß kam?«). Mit der Nennung des rǽḥæm kann sich auch das Wissen um eine ethische Verpflichtung gegen den Nächsten verbinden (Hi 31, 15 »hat nicht, der mich erschuf, auch ihn erschaffen? und Einer uns im Mutterschoß bereitet?«; vgl. auch Am 1, 11 G, s. Rudolph, KAT XIII/2, 127). Auch wo mit rǽḥæm ein Zeitraum gekennzeichnet wird (»von Mutterleib an«), steht diese Zeit unter Jahwes Plan (Jes 46, 3; Jer 1, 5; Ps 22, 11) bzw. unter seiner Ablehnung (Ps 58, 4).
b) Vier Fünftel aller Belege mit rḥm pi. haben Gott als Subjekt; bei rḥm pu. ist Gott immer der Handelnde. Die Hosea-Stellen zeigen, daß das mit rḥm pi. beschriebene Tun Jahwes die Einsetzung (bzw. die Wiedereinsetzung) in die Wirklichkeit eines Kindschaftsverhältnisses bedeutet (Hos 1, 6; 2, 6.25), die nicht sentimental, sondern durchaus real ist (s. o. 3c). In der Zeit des Exils wird die durch rḥm pi. bezeichnte Wiederherstellung des zerstörten Gottesverhältnisses in der Rückführung in das verheißene Land (Jer 12, 15; 42, 12 G; Sach 10, 6, vgl. V.10) oder im Bleiben darin (Jer 42, 12 MT) greifbar, ebenso im Wiederaufbau einer zerstörten Stadt (Jer 30, 18 Samaria; Ps 102, 14 Zion). Allgemein kann die Wiederherstellung auch durch →šūb šebūt »das Geschick wenden« bezeichnet werden (Dtn 30, 3; Jer 30, 18; 33, 26; Ez 39, 25); dabei ist zu beachten, daß diese Schicksalswende nicht Folge des Erbarmens ist, sondern ihm vorausgeht.
Anders als z.B. ḥǽsæd (IV/2) steht rḥm pi. in ausschließendem Gegensatz zum Zorn Gottes bzw. löst diesen ab, weil er das rechte Verhältnis des Volkes zu Gott suspendiert (Dtn 13, 18; Jes 54, 8; 60, 10; Hab 3, 2 [anders B. Margulis, ZAW 82, 1970, 413]; Sach 1, 12; 10, 6; vgl. Klgl 3, 32).
Dieser Hintergrund der Einsetzung in neue oder der Wiederherstellung ursprünglicher Verhältnisse bleibt auch noch erkennbar, wenn das Part. pi. meraḥēm »Erbarmer« in jüngeren Texten zum Gottesprädikat schlechthin wird (Jes 49, 10; 54, 10, vgl. V.8 gō’ēl [→g’l]; Ps 116, 5). Im allgemeinen wird aber in den Aussagen über Gott das Verbum rḥm pi. mit anderen theologischen Termini verbunden, wodurch viel gefülltere Prädikationen möglich werden. So ist an einigen Stellen die Vergebung Voraussetzung für die Wiederverleihung der durch die Sünde verlorenen Gottesgemeinschaft, wie sie durch rḥm pi. ausgedrückt wird (Jes 55, 7; Mi 7, 19; vgl. auch 1Kön 8, 50, wo Jahwe indirekt handelt; Dan 9, 9 raḥamīm; auch Spr 28, 13, wo rḥm pu. die Vergebung einschließt; vgl. Stoebe, a.a.O. 247). Weiterhin gehört hierher die Verbindung von rḥm pi. mit →ḥǽsæd »Gnade« (Jes 54, 8.10; Klgl 3, 32). Die Bereitschaft Gottes zum ḥǽsæd ist offenbar die Voraussetzung zum Erbarmen (s.u. 4c). Jes 14, 1 steht parallel zu rḥm pi. das Verbum →bḥr »erwählen«, und zwar mit ‘ōd »nochmals« zum Ausdruck der Wiedererwählung.
c) Ein größeres Gewicht kommt der Verbindung von rḥm pi. mit →ḥnn q.»jemandem gnädig sein« zu. Sie begegnet Ex 33, 19; 2Kön 13, 23; Jes 27, 11 (hier negiert in bezug auf den Schöpfer); 30, 18; Ps 102, 14, teilweise wohl in Abhängigkeit von einer liturgisch geprägten Form. Am häufigsten kommen die Adjektive der beiden Wurzeln nebeneinander vor (11×; raḥūm allein sonst nur Dtn 4, 31 und Ps 78, 38), entweder in der Reihenfolge raḥūm weḥannūn (Ex 34, 6 u.ö.) oder ḥannūn weraḥūm (Jo 2, 13 u.ö.; →ḥnn 4b; →’ēl IV/1; zur Formel vgl. J. Scharbert, Bibl 38, 1957, 130 bis 150; R. C. Dentan, VT 13, 1963, 34–51); die letztere ist wohl organischer (vgl. Ex 33, 19 und Ps 102, 14). raḥūm ist durchgängig auf Jahwe bezogen (Ps 112, 4 bildet davon keine Ausnahme; der hier genannte Gerechte ist Jahwe, vgl. Ps 111, 4; 116, 5 und z.B. Kraus, BK XV, 770.772f.).
d) Noch häufiger als beim Verbum ist bei raḥamīm Gott als der indirekt (s. o. 3b) oder direkt Handelnde ausgesagt. Das Wort begegnet vor allem in der Psalmenund Gebetssprache (Jes 63, 7.15; Ps 25, 6; 40, 12; 51, 3; 69, 17; 77, 10; 79, 8; 103, 4; 106, 46; 119, 77.156; 145, 9; Klgl 3, 22; Dan 9, 9.18; Neh 9, 19.27.28.31; vgl. das Bekenntnis 2Sam 24, 14 = 1Chr 21, 13), seltener in der prophetischen Verkündigung (Jes 54, 7; in Hos 2, 21 und Jer 16, 5 als Gabe an Israel; Sach 1, 16; in Sach 7, 9 als Jahwes Forderung an den Menschen). Dabei ist zu beachten, daß an den meisten Stellen eine enge Verbindung mit ḥǽsæd besteht. Eine Ausnahme bei den Psalmen bilden 119, 77.156 und 145, 9; diesen beiden sehr jungen Psalmen steht der Gedanke an einen Geschichtserweis des Erbarmens fern.
Soweit ḥǽsæd Sing. ist und beide Begriffe eine Einheit bilden, steht ḥǽsæd vor raḥamīm (Ps 103, 4; Jer 16, 5; Hos 2, 21; Sach 7, 9; vgl. Dan 1, 9). Bei stärkerer Absetzung der beiden Begriffe voneinander bleibt das Prinzip der Anordnung bestehen (Ps 51, 3; 69, 17; Klgl 3, 22; die Ausnahme Ps 40, 12 hat wohl formale Gründe). Das läßt vermuten, daß raḥamīm hier nun selbst den Charakter eines konkreten Erweises angenommen hat, der als Ausfluß einer ḥǽsæd-Gesinnung verstanden wird (»Barmherzigkeitserweis«). Unterstrichen wird dies durch die attributive Wendung raḥamīm rabbīm »viel/großes Erbarmen« (2Sam 24, 14 = 1Chr 21, 13; Ps 119, 156; Dan 9, 18; Neh 9, 19.27.28 [txt em]. 31; vgl. Jes 54, 7) und durch die Genetiv-Verbindung rōb raḥamīm »Menge des Erbarmens« (Ps 51, 3; 69, 17). Eine Änderung tritt erst da ein, wo ḥǽsæd seinerseits in den Plural tritt, also die Bed. »ḥǽsæd-Erweise« bekommt. Dann tritt raḥamīm an die erste Stelle und kennzeichnet umfassend die Haltung oder Gesinnung einer das Leben fördernden Barmherzigkeit (Jes 63, 7; Ps 25, 6; Klgl 3, 22, das dagegen zu sprechen scheint, ist textlich unsicher). In dieser Linie liegt es, daß raḥamīm schließlich direkt zu einer Art von Hypostase werden kann (Ps 79, 8).

Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament

gut für alle. Gottes vertraglich zugesicherte Gnade kam auf besondere Weise zu Israel, aber sie war nie für sie allein bestimmt; Israel sollte das Mittel sein, durch das Gottes Güte und Barmherzigkeit in allem, was er geschaffen hat, sichtbar wurde.

Die ESV Studienbibel
Carroll 2018 - Grundriss der Dogmatik

Die Barmherzigkeit Gottes beschreibt Gottes gezielte Neigung, in seinem Erbarmen seinem Volk Vergebung zukommen zu lassen, insbesondere angesichts dessen leidvoller und düsterer Lage.

Die Barmherzigkeit Gottes gehört zu Gottes mitteilbaren Eigenschaften: Sie ist eine Eigenschaft, die Menschen in ihren Beziehungen untereinander nachahmen können. Durch die ganze Bibel hindurch wird Gottes Barmherzigkeit nicht nur als Gottes Wesensart, sondern als sein Handeln an einem Volk dargestellt, das dies nicht verdient hätte. In der Bibel wird die Barmherzigkeit oft zusammen mit anderen göttlichen Eigenschaften genannt: Erbarmen, Gnade, Treue, Güte.
Barmherzigkeit ist ein relationaler Ausdruck von Gottes Charakter und entspringt seinen Eigenschaften der Güte und Liebe. Sie ist ein wichtiger Aspekt von Gottes auf Gnade gegründeter Bundesbeziehung zu seinem Volk. Gottes Barmherzigkeit zeigt sich immer dann, wenn er Strafe hinauszögert, auch wenn sein Volk in Sünde verloren ist und nicht weiß, welche Folgen diese Sünde für seine Gottesbeziehung hat (Ex 34,6–7; Hes 33,10–11). Wenn Gottes Volk in einer düsteren Lage ist – aufgrund einer drohenden Schlacht, körperlicher und geistlicher Verfolgung oder anderen Arten des Leids – dann rufen diejenigen, die Gott fürchten, gezielt seinen barmherzigen Charakter an. Sie beten in der Erwartung, dass er bereitwillig und mächtig handeln wird, wie er es schon in der Vergangenheit getan hat (Dan 9,17–19; Ps 25,6–7; 51,3–4). Immer wieder erweist Gott in der Bibel seine Barmherzigkeit, indem er sein Volk rettet, erlöst und wiederherstellt.
Weil Barmherzigkeit eine mitteilbare Eigenschaft Gottes ist, sagt die Bibel auch, dass Gottes Volk dieselbe Gesinnung gegenüber anderen Menschen haben und dass sein Volk in deren Interesse handeln soll (Eph 2,1–10). Im Neuen Testament verurteilt Jesus die Pharisäer für ihren Mangel an Barmherzigkeit und betont in seiner Lehre immer wieder, wie wichtig es ist, dass Barmherzigkeit mit Taten verbunden sein muss (Mt 23,23–24; siehe auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lk 19,25–37). Jesus lehrt Gottes Barmherzigkeit nicht nur, sondern verkörpert sie. In seiner Rolle als Sohn Davids zeigt er, dass er die Offenbarung von Gottes Barmherzigkeit personifiziert (Mt 9,27–31).

Bibelstellen
SCHLÜSSELSTELLEN
Ex 34,6–7; Ez 33,10–11; Dan 9,17–19; Ps 25,6–7; Ps 51,1–2; Mt 9,27–31; Mt 23,23–24; Lk 10,36–37; Eph 2,4–7

Carroll 2018 - Grundriss der Dogmatik

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